Friedensgutachten 2020: Wie geht Friedenspolitik in Zeiten des Klimawandels?

Quelle : Netzwerk Friedenskooperative – Autorin: Ronja Liertz

„Das jährlich erscheinende Friedensgutachten wird herausgegeben von den deutschen Friedensforschungsinstituten

Es  betrachtet herrschende Krisen und Gewaltkonflikte, analysiert Trends der internationalen Außen- Sicherheits- und Entwicklungspolitik und formuliert Empfehlungen für die Bundesregierung.

Dieses Jahr trägt es den Titel „Im Schatten der Pandemie: letzte Chancen für Europa“ – denn natürlich darf die Corona-Pandemie in der aktuellen Lage nicht unbenannt bleiben. Obwohl diese politische und gesellschaftliche Fragen von hoher friedens- und sicherheitspolitischer Relevanz aufwirft, werden gleichzeitig andere wichtige Themen verdrängt.

Besonders der Klimawandel, als Top-Thema aus 2019, wurde lange komplett überschattet. Die diesjährige Ausgabe greift dies auf und thematisiert im Fokus die Auswirkungen des Klimawandels auf die globale Friedensordnung und aktuelle Gewaltkonflikte. Der Appell des Friedensgutachten: den Klimaschutz weiterhin priorisieren.

Welche Auswirkungen hat der Klimawandel auf Frieden, Sicherheit, Konflikte und Kriege?

Die Wissenschaft ist sich einig, dass die Folgen das Konfliktrisiko steigern und eine nachhaltige Friedenssicherung erschweren. Die Meinungen scheiden sich jedoch in der Frage, welche konkreten Risiken er für Sicherheit und Frieden birgt.

Auf der einen Seite stellt das erhöhte Auftreten von Umweltkatastrophen eine direkte Gefahr für Gesellschaften dar und kann so als Bedrohung für die persönliche Sicherheit interpretiert werden – was wiederrum zu Gewaltkonflikten führen kann. Auf der anderen Seite könnte mehr Kooperation zur Überwältigung der Krise in der Gesellschaft entstehen und Konflikte dadurch sogar abgebaut werden. Da viele Folgen des sich ändernden Klimas erst im Laufe der Zeit sichtbar werden, seien direkte Risiken auf Frieden und Sicherheit noch nicht abschätzbar.

Besonders in der Frage, wie die Klimakrise Gewalt und bewaffnete Konflikte beeinflusst, herrscht  Uneinigkeit innerhalb der Wissenschaft. Genau diese Schwierigkeit, konkrete Vorhersagen zu treffen, stelle das Risiko des Klimawandels dar. Im Vergleich zu anderen Faktoren wie staatliche Kapazitäten oder soziale Ungleichheiten innerhalb der jeweiligen Gesellschaft, sei er jedoch wenig einflussreich. An Orten, in denen die Situation schon instabil, konfliktgefährdet, oder bereits ein bewaffneter Konflikt vorhanden ist, ist die Klimakrise jedoch ein weiterer Stressfaktor und erhöht so das Risiko einer Eskalation.

Wichtig sei es nun, die klimatischen Veränderungen konfliktsensitiv und gerecht zu gestalten. Traditionelle sicherheitspolitische Instrumente seien nicht die richtigen Maßnahmen für die Bewältigung der Krise und belasten zusätzlich die Umwelt.

Empfohlen wird eine Klimapolitik, die auf Emissionsvermeidung und Klimaanpassung baut. Kritisiert werden hingegen Methoden wie Geoengineering, die daran ansetzen, Effekte zu reduzieren. Das sei eine Abkehr von politischen Bemühungen, Ursachen zu bekämpfen und auch aus einer friedenspolitischen Perspektive schwierig: technische Instrumente weisen demokratische Mängel auf, da die Entscheidungsgewalt und Expertise überwiegend in den Händen von wenigen liegt.

Ein weiteres Problem: in Deutschland wird der Klimawandel oft als sicherheitspolitisches Problem wahrgenommen, so die Expert*innen. Dies befördere aber nur eine Militarisierung von Klimapolitik und könne dazu dienen, Aufrüstung zu legitimieren. In diesem Zusammenhang stehe auch der Irrtum von sogenannten „Klimakriegen“ sowie Migration als eine der größten Folgen des Klimawandels – diese sei noch sehr gering und oft unverhältnismäßig groß dargestellt.

Die direkten Auswirkungen auf Gewalt und Krieg im Zuge des sich verändernden Klimas bleiben umstritten. Sicher ist jedoch, dass diese Krise ein weiterer Stressfaktor auf globaler Ebene ist und in bereits konfliktträchtigen oder gefährdeten Regionen ein Katalysator mit unabsehbaren negativen Folgen.  Oft wird die derzeitige Migration als unmittelbare Reaktion auf Wetterbedingungen eingeschätzt – und damit die Krise rein sicherheitspolitisch eingeordnet. Das ist fatal, da Militarisierung nur noch mehr Rückhalt bekommen würde. Wichtig ist es nun, die Verbindung zwischen Klimakrise und herrschenden Konflikten stärker zu thematisieren und in die  Öffentlichkeit zu bringen. Die Wissenschaftler*innen empfehlen daher, dass Deutschland seine Position im VN-Sicherheitsrat nutzt, um die friedenspolitische Relevanz des Klimawandels auf die Tagesordnung zu setzen.“

Petition für ein Ende der Blockade gegen Kuba

Wichtige Petition auf change.org für ein Ende der Blockade gegen Kuba

Deutschland mit Europa – Für ein Ende der Blockade gegen Kuba!

„Es ist unerträglich: Kubanische Ärzteteams unterstützen 27 Länder im Kampf gegen das Coronavirus  –  und die Trump-Administration verschärft weiterhin ihre völkerrechtswidrigen Sanktionen gegen Kuba!

Wir sind eine Gruppe Deutscher, die im Kultur- und Wissenschaftsbereich in Kuba tätig sind, und seit Jahren mit ansehen müssen, wie das US-Embargo die Lebensbedingungen der Menschen hier ständig verschlechtert.

Während internationale Medien das Land für seinen erfolgreichen Einsatz gegen die Pandemie loben – zuletzt auch die New York Times – und eine internationale Kampagne die kubanischen Ärztemissionen für den Friedensnobelpreis vorschlägt, setzen die USA Kuba auf eine Liste von “Terrorstaaten” und behindern massiv die Lieferungen von Medikamenten, Rohstoffen für die Impfstoffentwicklung sowie medizinischen Hilfsgütern an die kubanische Bevölkerung.

Aber nicht nur das: Die US-Regierung versucht mit allen Mitteln, Kuba im Windschatten der Coronakrise in die Knie zu zwingen, indem sie Druck auf Länder ausübt, auf kubanische Ärztemissionen zu verzichten, und Geldüberweisungen der im Ausland lebenden Kubaner an ihre Familien unterbindet – die wichtigsten Devisenquellen, die der Insel noch verbleiben.

Die kubanische Bevölkerung leidet seit 60 Jahren unter dieser längsten Blockade der Geschichte.

Die UNO und EU wie auch die Bundesregierung verurteilen sie seit langem als völkerrechtswidrig, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hätte. Im Gegenteil: deutsche und europäische Banken wie Unternehmen unterwerfen sich den unmenschlichen US-Sanktionen, um ihre wirtschaftlichen Interessen in den USA nicht zu gefährden. Und nun will BMZ-Minister Gerd Müller laut Presseberichten auch noch die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba streichen – und damit die Blockadepolitik de facto verstärken.

Damit muss endlich Schluss sein! Helfen wir der kubanischen Bevölkerung, so wie ihre Ärzte und Wissenschaftler der Welt helfen!

Über alle parteipolitischen Grenzen hinweg ruft die US-Blockade gegen Kuba weltweit Empörung hervor. Immer mehr  Staaten, Institutionen und Persönlichkeiten  fordern die sofortige Einstellung der Sanktionen, darunter der UN-Generalsekretär António Guterres, die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der UN Michelle Bachelet, der argentinische Präsident Alberto Fernández, Papst Franziskus, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der EU Kommission Josep Borrell, US-Kirchenverbände, eine  Expertenkommission des UN-Menschenrechtsrats sowie US-Senatoren und Kongressabgeordnete beider Parteien.

In diese weltweite Bewegung reihen wir uns ein. Wir appellieren an die Bundesregierung, die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba nicht zu streichen und sich, insbesondere während ihrer EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020, aktiv für eine Aufhebung der illegalen Blockadepolitik einzusetzen, europäische Akteure auf Kuba mit der EU-Verordnung von 1996 effizient vor US- Sanktionen zu schützen, und allen Kubanerinnen und Kubanern uneingeschränkten Zugang zum wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Austausch zu ermöglichen.“

In der Liste der Erstunterzeichner/innen finden sich u.a.

  • Fatih Akın, Regisseur
  • Benny Adrion, FC St. Pauli, Gründer “Viva con Agua”
  • Rolf Becker, Schauspieler, Gewerkschaft ver.di
  • Thomas Brussig, Schriftsteller und Drehbuchautor
  • Noam Chomsky, Linguist
  • Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin für Justiz a.D.
  • Wolfgang Däubler, Arbeitsrechtler, em. Universität Bremen
  • Jenny Erpenbeck, Regisseurin und Schriftstellerin
  • Oliver Lubrich, Literaturwissenschaftler, Universität Bern
  • Jeanine Meerapfel, Regisseurin und Präsidentin der Akademie der Künste Berlin
  • Robert Menasse, Schriftsteller und Essayist
  • Susan Neiman, Philosophin und Direktorin Einsteinforum Berlin
  • Claus Offe, Soziologe
  • Norman Paech, Völkerrechtler, em. Universität Hamburg
  • Werner Ruf, Politikwissenschaftler, em. Universität Kassel
  • Werner Rügemer, Philosoph und Publizist
  • Volker Schlöndorff, Regisseur und Filmproduzent
  • Peter Schneider, Drehbuchautor und Schriftsteller
  • Hanna Schygulla, Schauspielerin und Sängerin
  • Margarethe von Trotta, Autorin und Filmregisseurin
  • Konstantin Wecker, Musiker und Autor
  • Wim Wenders, Filmregisseur
  • Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung a.D.

Dieser Aufruf ist initiiert von einer Gruppe deutscher Kulturschaffender und Wissenschaftler/innen, die seit Jahren in Kuba beruflich tätig sind:

  • Andreas Baesler, Regisseur
  • Ulrike Dorfmüller, Germanistin
  • Katrin Hansing, Anthropologin
  • Rainer Schultz, Historiker
  • Michael Thoss, Kulturvermittler
  • Hans-Peter Weymar, Filmemacher

Klimafreundlicher Mobilitätsspaziergang in der Kirchheimer Fußgängerzone

Auf die ungleiche Verteilung des öffentlichen Raumes für den ÖPNV und den Rad-, Fuß- und Autoverkehr in Kirchheim, den Flächenverbrauch durch den motorisierten Individualverkehr und die Notwendigkeit der Stärkung des Rad- und Fußverkehrs bei kürzeren Distanzen wiesen am Samstag, 27.Juni Aktivist*innen der Initiative „Kirchheim anders mobil“ und der Regionalgruppe attac Kirchheim hin.

Mit einem „Gehzeug“, das die Maße eines durchschnittlichen PKW abbildet, spazierten sie durch die Kirchheimer Fußgängerzone.

Die Reaktion der Passant*innen war gemischt. Neben überwiegendem Zuspruch waren auch einige skeptische und ablehnende Äußerungen zu hören.

Zur Information verteilten die Aktivist*innen einen Flyer mit folgendem Inhalt:

Der „ruhende“ Verkehr – und die Verteilung des öffentlichen Raums in unseren Städten

Wer kennt das nicht: zugeparkte Gehwege, Parkplatzsuche, kein Durchkommen für Rettungsfahrzeuge. Es ist offensichtlich: In den meisten Städten übersteigt der Bedarf an Pkw-Stellplätzen den vorhandenen Raum, und zwar unabhängig von der Stadtgröße. Parkende Autos dominieren das Erscheinungsbild der Straßen und beeinträchtigen ihre Funktionsfähigkeit. Diese „Übernutzung“ öffentlicher Straßenräume führt zu zahlreichen (Folge-)Problemen.

Die Verteilung der knappen öffentlichen Flächen beim „ruhenden“ Verkehr (= Parken; Abstellen) unter den einzelen Verkehrsarten ist extrem ungleich.

Die Forschungsgesellschaft Mobilität Austria (http://fgm.at/) hat einen Flächensplit für ruhenden Verkehr erhoben- Er dürfte„prinzipiell auf weite Teile Europas übertragbar sein.“ (Prof. Dr. Stephan Rammler, Volk ohne Wagen, 2017, S. 60): Radabstellflächen benötigen 2 Prozent, Verkehrsmittel des ÖPNV brauchen 3 Prozent und der ruhende Fußgängerverkehr verbraucht ebenfalls 3 Prozent (Straßencafés, Parkbänke etc.).

92 Prozent des öffentlichen Straßenraums werden für das Parken/Abstellen von PKWs benötigt.   

Ein Auto belegt im Stillstand 13,5 qm. Die 47,1 Mio. PKW in Deutschland (Stand 1.1.19) belegen – eng geparkt – eine Fläche von 635,85 Quadratkilometern (qkm). Das sind etwas mehr als zwei Drittel der Fläche der Stadt Berlin (900 qkm).

Im Schnitt stehen PKW mehr als 23 Stunden ungenutzt herum – im öffentlichen Raum, auf Parkplätzen von Firmen oder Privatpersonen.

Ein Drittel der Wege mit PKW in der Stadt werden für Parkplatzsuche verwendet.

Weltweit verursacht die Parkplatzsuche – laut der IBM-Studie Global Parking Survey 2011 – einen durchschnittlichen Zeitaufwand von 20 Minuten täglich.

Die genaue Zahl von Parkplätzen kann nur geschätzt werden. Laut Schätzung existieren in den Kernstaaten Westeuropas (EU-15) etwa 300 Millionen öffentliche Parkplätze. Davon sind über 80 Prozent im öffentlichen Raum. Eine Parkgebühr muss lediglich auf etwa 11 Millionen (3,6 Prozent) Abstellmöglichkeiten entrichtet werden.

Gleichzeitig werden jeden Tag kostbares Ackerland und Grünflächen versiegelt. Lt. Umweltbundesamt wurde in Deutschland von 1992 bis 2018 ca. 9.500 qkm Fläche überbaut (dies entspricht etwa der halben Fläche von Rheinland-Pfalz).

Fazit: Die weitere Steigerung der individellen Automobilität ist – unabhängig von der Antriebstechnologie – neben der ungleichen Beanspruchung des öffentlichen Raums aus vielerlei weiteren Gründen keine anstrebenswerte Option für die nötige Verkehrswende – sowohl national als auch international. Weltweit gibt es im Augenblick 1,318 Milliarden PKW. Jährlich kommen 100 Millionen weitere dazu, jede Sekunde drei weitere PKW.

 Mehr Information: https://kirchheim.forum2030.de/ungleiche-beanspruchung-des-oeffentlichen-raums-durch-die-individuelle-automobilitaet/

Literatur: Hermann Knoflacher. Stehzeuge: Der Stau ist kein Verkehrsproblem. 2009.

Corona im Schlachthof – kein überraschender Skandal

Quelle: ISW sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.

Juni 2020-  Autorin:  Christin Bernhold  (leicht gekürzter Text)

Das Coronavirus wirke wie ein Brennglas, unter dem die Probleme der Fleischindustrie sichtbar würden. So leitete Moderator Frank Plasberg kürzlich eine viel diskutierte „hart aber fair“-Sendung zum Thema „Corona im Schlachthof“ ein, nachdem bekannt geworden war, dass sich zahlreiche Schlachthofarbeiter mit dem SARS-CoV-2-Erreger infiziert hatten.

Corona im Schlachthof – kein überraschender Skandal

In den vergangenen Jahren stand die Fleischindustrie immer mal wieder in der deutschen Medienöffentlichkeit. Punktuell haben Medien zum Beispiel über die Naturzerstörung berichtet, die der kapitalistischen Fleischproduktion immanent ist: mit Nitrat verschmutztes Grundwasser, die Klimaschädlichkeit der entsprechenden Konzerne, die zunehmende Vernichtung von Wäldern zwecks Tierfutterproduktion usw. Die Liste ließe sich fortsetzen. Auch die „Massentierhaltung als Pandemie-Risiko“ und das in diesem Zusammenhang zunehmende Auftreten antibiotikaresistenter Keime sind keine Unbekannten.

Aktuell fällt im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie mehr Scheinwerferlicht auf die Big Player des Fleischkapitals als gewöhnlich. Denn bei Tönnies, Westfleisch, Vion-Food, Wiesenhof und Müller-Fleisch haben die Arbeits- und Lebensbedingungen der Schlachthofarbeiter für eine starke Ausbreitung der Krankheit gesorgt.

Hatte Deutschlands größter Fleischfabrikant Clemens Tönnies noch Anfang Mai kritisiert, mit Kontrollen und umfangreichen Tests der Schlachthofarbeiter werde seine Branche „unter Generalverdacht gestellt“, wurden im Laufe der Kalenderwoche 25 immer mehr Beschäftigte des Unternehmens positiv auf das Coronavirus getestet. Am Samstag der Woche wurde bekannt gegeben, dass 1029 der bisher unter der Werksbelegschaft in Rheda-Wiedenbrück durchgeführten Tests positiv ausgefallen sind. Mindestens 14 der infizierten Arbeiter liegen im Krankenhaus. Tausende weitere Tests stehen noch aus. Bundesweit sind damit derzeit mehr als 2.200 Fälle bekannt, in denen sich Arbeiter der Fleischindustrie mit SARS-CoV-2 infiziert haben. Das sind etwa 1,2 Prozent aller bestätigten Corona-Infektionen in Deutschland, Tendenz steigend. Dabei sind es nicht die Betriebe, die von der Krankheit betroffen sind, wie es derzeit in zahlreichen Zeitungsberichten heißt, sondern lohnabhängig Beschäftigte. Sie haben in den letzten Wochen trotz der Infektionsgefahr weiter auf engstem Raum in kalten Schlachtanlagen – und damit in einer gut zur Übertragung des Virus geeigneten Umgebung – für die Fleischindustriellen gearbeitet.

Es lässt sich mit Autoren wie Rob Wallace, John Bellamy Foster & Intan Suwandi oder Andreas Malm argumentieren, dass die zunehmende pandemische Ausbreitung von Viren, die eine Gefahr für Leib und Leben bergen, alles andere als verwunderlich ist. Denn die kapitalistische Produktionsweise, insbesondere die industrielle Agrar- und Fleischproduktion, ist für sie zugleich Ursache und Katalysator. Auch ist es kein Wunder, dass die Schlachtindustrie nun Infektionshotspot ist – die Zustände, die dort herrschen, geben nicht erst seit Corona Anlass zur Kritik.

Die maximale Ausbeutung der Lohnabhängigen…

Das gilt unter anderem für die Arbeitsverhältnisse und -bedingungen. Nach Angaben des Deutschen Bundestages arbeiten in hiesigen Schlachthöfen knapp 37.000 versicherungspflichtig Beschäftigte (Drucksache 19/11284). Nach Schätzungen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sind allerdings bis zu 80 Prozent der Kollegen über Subunternehmen (bzw. undurchsichtige Sub-Sub-Konstruktionen) angestellte Werkvertragsarbeiter, die in dieser Zahl nicht abgebildet sind.

Die systematische Überausbeutung der lohnabhängig Beschäftigten in der deutschen Fleischindustrie, die überwiegend aus osteuropäischen Ländern der EU-Peripherie rekrutiert werden, wird momentan über dieses Werkvertragssystem organisiert. Die Großschlachtereien haben es so leichter, etwa den Mindestlohn zu unterwandern. Denn die Organisation des Arbeitsprozesses wird an Subunternehmer ausgelagert, die nicht nur das Personal besorgen, sondern auch für die Lohnprellerei zuständig sind. Deutschland ist so zu einem Billiglohnland geworden, auch Konzerne wie Danish Crown oder die niederländische Vion Food-Gruppe lassen deshalb hier produzieren. Für sie ist es günstig, dass eine gewerkschaftliche Organisierung der Beschäftigten unter diesen Bedingungen nur schwer möglich ist.

Der Mindestlohn, der in der Branche seit 2014 gilt, wird unter anderem durch Arbeitsschichten von 12, 15 oder mehr Stunden unterlaufen, von denen nur acht bezahlt werden. Teile des Lohns werden den Beschäftigten obendrein dadurch genommen, dass sie Vermittlungsgebühren oder Wuchermieten von 220 Euro oder mehr für einen Schlafplatz in einem Mehrbettzimmer bezahlen müssen. Und das bei physischer und psychischer Schwerstarbeit: In einem Klima von Stress und Gewalt töten die Werkvertragsarbeiter – angetrieben von Vorarbeitern – mitunter stundenlang leidensfähige Kreaturen, die bluten, stinken, schreien und sich wehren. Immer wieder wurde in den letzten Jahren zudem von Verletzungen und Erkrankungen berichtet, die durch die Arbeitsgeschwindigkeit sowie durch mangelnde bzw. mangelhafte Schutzkleidung und Hygiene zustande kommen: Verätzungen, Schnittwunden, Infektionen usw.

So verwundert es nicht, dass Kollegen berichten, sie hätten unter diesen Umständen keinen Fuß in deutsche Schlachtbetriebe gesetzt, wenn sie die Chance auf einen besseren Job gehabt hätten.

…und der Tiere

2018 wurden in der BRD nach offiziellen Angaben insgesamt 771,25 Millionen Tiere – meist im Akkord – geschlachtet. 709,7 Millionen Vogeltiere und 56,9 Millionen Schweine, knapp 3,5 Millionen Rinder und über eine Million Lämmer sind allen voran in Großbetrieben getötet worden. Hinzu kommen etwa 140.000 Schafe, 24.000 Ziegen und 6.900 Pferde (Statistisches Bundesamt 2018). Noch nicht in diesen horrenden Zahlen enthalten sind sogenannte unproduktive Tiere (z.B. männliche Küken), Fische und andere Wasserlebewesen sowie Wildtiere. Auch Milchkühe und Legehennen werden nach Jahren der Quälerei meist in Schlachthöfen weiterverarbeitet.

Angesichts des heutigen Standes der Produktivkraftentwicklung sind Profite nur dort zu machen, wo die Schlacht- und Zerlegearbeit besonders schnell geht. Das kapitalistische Schlachten ist entsprechend nicht nur mit einer hohen Arbeitsintensität verbunden. Es geschieht auch unter den Tieren systematisch zugefügten Qualen (über die es heute nicht an Berichterstattung mangelt). So berichten Kollegen zum Beispiel davon, dass Tiere häufig „nicht richtig betäubt werden und noch leben, sich noch bewegen, schreien, wenn sie ins heiße Brühbad kommen“.

Fleischoligopol

Während die Zustände in der Fleischindustrie und ihre Konsequenzen für Arbeiter, Tiere und die Natur lange bekannt sind, versuchen jene, die am meisten an ihnen verdienen, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Unterstützt durch Medienberichte, die an das schlechte Gewissen der Verbraucher appellieren, zeigt die Fleischindustrie auf die Discounter. Das Handelskapital schustert wiederum die Schuld den Konsumenten zu, die das billige Fleisch nun einmal kauften. Und wenn einmal etwas schief laufe, könne nicht gleich die gesamte Branche zur Rechenschaft gezogen werden, die „in den letzten Jahren immer wieder viel Kritik aushalten musste“, und zwar „in einer inakzeptablen und unzumutbaren Weise“, so der Verband der Ernährungswirtschaft in Niedersachsen (VDEW). Doch den Fleischriesen sind nicht etwa die Hände gebunden, was die Verhältnisse in ihrer Branche betrifft. Im Gegenteil: In der Frage, wie in der deutschen Fleischindustrie produziert wird, geben sie den Ton an.

Mit 42,5 Milliarden Euro respektive 23,7 Prozent des Gesamtumsatzes waren die Hersteller von Fleisch und Fleischwaren im Jahr 2018 nach Angaben der Bundesvereinigung der deutschen Ernährungsindustrie (BVE) der umsatzstärkste Zweig der Nahrungsmittelbranche. Für 2019 werden sich die Umsatzzahlen laut einer Studie der Ernst & Young GmbH sogar auf voraussichtlich knapp 45 Milliarden belaufen. Die Ernährungsindustrie wiederum ist nach Umsatz der viertgrößte Industriezweig Deutschlands. Die Fleischindustrie ist demnach kein wirtschaftliches Leichtgewicht.

Zwar gab es laut Online-Portal Statista im Schlachterei- und Fleischverarbeitungsgewerbe deutschlandweit im Jahr 2018 insgesamt etwa 1.400 Betriebe. Aber die Branche ist von einer starken Konzentration und Zentralisation des Kapitals geprägt. Die Top 10 der Unternehmen konnten im selben Jahr mit 20,6 Milliarden Euro knapp die Hälfte des Gesamtumsatzes der Branche auf sich vereinigen – unter ihnen die fünf oben genannten Großbetriebe mit Massenausbrüchen von COVID-19. Schaut man nur auf die Top 4, sind es stattliche 35 Prozent des Gesamtumsatzes.

Allein die Tönnies Holding fuhr mit 6,65 Milliarden Euro knapp 15,7 Prozent des Gesamtumsatzes deutschen Schlacht- und Fleischverarbeitungsbetriebe ein. 2019 erzielte der Branchenprimus sogar einen Rekordumsatz von 7,3 Milliarden Euro. Der Konzern führt mit jährlich 16,6 Millionen getöteten Schweinen (2018), also einem Anteil von knapp 30 Prozent, die Liste der größten Unternehmen an, die diese Tiere schlachten – vor Westfleisch (7,9 Millionen getötete Schweine), Vion Food Germany (7,8 Millionen) und Danish Crown (3,1 Millionen). Bei der Schlachtung von Rindern beherrscht Vion Food mit 750.000 Schlachtungen pro Jahr (2018) das Feld, gefolgt von Tönnies (444.000), Westfleisch (425.000) und der Müller-Gruppe. Das Geschäft mit der Tötung und Zerlegung von Geflügeltieren wird von der PHW-Gruppe (Marke Wiesenhof) angeführt.

Zunahme der Produktion auch durch Exportstrategien ermöglicht

Inwiefern diese Zahlen durch die Corona-Pandemie beeinflusst werden, bleibt abzuwarten. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) geht davon aus, dass die weltweite Fleischproduktion im Jahr 2020 um 1,7 Prozent zurückgehen wird – nicht nur aufgrund von COVID-19-bedingten Produktionsausfällen, sondern vor allem auch wegen der in China weiterhin grassierenden Afrikanische Schweinepest (ASP). Tönnies hält bisher daran fest, dass Corona bedingte Schlachtausfälle in Rheda-Wiedenbrück von anderen Standorten aufgefangen werden solle. Und auch die Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN) behauptet, „dass es sich nur um leichte Verschiebungen handeln wird.“

Für Schlachthofarbeiter und Tiere ist das keine gute Nachricht. Erstere müssen mit einer weiteren Intensivierung der Arbeit rechnen, letztere werden voraussichtlich mehr Zeit in Tiertransportern verbringen, bevor ihnen der Garaus gemacht wird.

Die Grünen und andere fordern nun die Einführung eines Mindestpreises für Fleisch, durch den die Verhältnisse in der Industrie verbessert werden sollen. Das ist allerdings nicht nur deshalb fragwürdig, weil das Kapital höhere Warenpreise nicht automatisch in bessere Löhne und Arbeits- und Lebensbedingungen für Beschäftigte und Tiere übersetzt, sondern den Preisaufschlag auch einbehalten könnte. Die deutsche Fleischindustrie arbeitet auch seit Jahren daran, ihre Gewinnmargen von deutschen Konsumverhältnissen unabhängiger zu machen. Sie geht bereits seit Jahren davon aus, dass der hiesige Markt gesättigt ist und dies – auf hohem Niveau – auch bleiben wird.

Und doch hat die Fleischproduktion in den letzten Dekaden exorbitant zugenommen. 1999 lag der Gesamtumsatz der deutschen Schlacht- und Fleischverarbeitungsindustrie nach Angaben des Statistischen Bundesamtes noch bei 18,1 Milliarden Euro. Bevor er auf die heutigen 44 Milliarden angestiegen ist, lag er 2007 bei 24,5 Milliarden und 2015 bei 34,8 Milliarden Euro.

Dass die Branche also wächst, lässt sich vorrangig durch die internationalen Konkurrenzvorteile des deutschen Fleischkapitals und seine geographische Expansion erklären, durch die es einen Teil der global wachsenden Fleischproduktion abdeckt. Die Akkumulationsstrategien insbesondere der Großkonzerne basieren seit Anfang des Jahrtausends zunehmend auf dem Verkauf von Fleischwaren ins Ausland. Tönnies erwirtschaftete im Jahr 2018 beispielsweise 50 Prozent seiner Umsätze durch den Export, bei Westfleisch waren es über 40 Prozent.

Auch der Kapitalexport ist Teil dieser Expansionsstrategie. Tönnies, der nach eigenen Angaben bereits über 29 Produktions- und Vertriebsstandorte außerhalb Deutschlands verfügt, kündigte beispielsweise Ende 2019 eine Großinvestition in China in Höhe von 500 Millionen Euro an. Die Holding visiert zunehmend auch dem Schlachten vorgelagerte Produktionsschritte für den Kapitalexport an und erwägt, in mehreren Ländern Mastbetriebe aufzubauen, „um in Zukunft dort eine Basis für die Produktion zu schaffen“. Der Geflügelgroßkonzern PHW hat ebenfalls außerhalb der BRD investiert. Neben zwei polnischen Tochtergesellschaften Drobimex und Bomadek hält die Unternehmensgruppe zum Beispiel Anteile an der bulgarischen Ameta-Gruppe. Denn es gebe „Teilbereiche, in denen wir mit deutscher Ware nicht wettbewerbsfähig sind“, erklärt PHW-Chef Wesjohann. Polen hingegen habe vorteilhaftere Tierschutzbestimmungen (dort sei mit 42 kg/m2 eine höhere „Besatzdichte“ erlaubt) und „viel niedrigere Lohn- und Baukosten“.

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) „unterstützt mit seinem Exportförderprogramm gezielt die Bemühungen der deutschen Unternehmen“. Denn angesichts des hohen Wettbewerbsdrucks im Inland sei der Export für die deutsche Ernährungsstrategie „zu einer wichtigen Absatzstrategie geworden“.

Staat gegen Kapital?

Die Bundesregierung hat die Strategien der Fleischriesen bisher nicht nur durch Exportförderung, Subventionen und diverse andere Unterstützungsmaßnahmen flankiert. Die staatliche Politik hat auch die systematische Überausbeutung ermöglicht – etwa durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz.

Im Zuge der Corona-Skandale kündigte Arbeitsminister Hubertus Heil nun an, er wolle in der Fleischbranche „durchgreifen“ und Werkverträge abschaffen. In dem Eckpunktepapier „Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft“ seines Bundesministeriums heißt es dazu: „Ab dem 1. Januar 2021 soll das Schlachten und die Verarbeitung von Fleisch in Betrieben der Fleischwirtschaft im Sinne des § 6 Absatz 10 Arbeitnehmer-Entsendegesetzes nur noch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des eigenen Betriebes zulässig sein. Damit wären Werkvertragsgestaltungen und Arbeitnehmerüberlassungen nicht mehr möglich.“

Ob bzw. wie viel sich tatsächlich ändern wird, bleibt allerdings abzuwarten. Gegendruck vonseiten des Fleischkapitals ist vorprogrammiert und die Frage ist, was dem von unten entgegengesetzt wird. Tönnies setzt sich zum Beispiel gegen ein generelles Verbot ein und fordert stattdessen „faire“ Werkverträge. Der Konzern „bietet der Bundesregierung an, seine Fachexpertise in den Gesetzgebungsprozess einzubringen“. Zudem sind Rechtsstreits in puncto Eingriffe in die Unternehmensfreiheit sowie entlang europarechtlicher Fragen zu erwarten. Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) hat indes bereits angekündigt, dass er bei einem generellen Verbot von Werkverträgen für nur eine Branche „aus verfassungsrechtlichen Gründen weiterhin skeptisch“ sei. Durch den Vorstoß von Hubertus Heil ist also die Durchsetzung besserer Arbeitsverhältnisse und eines sicher gezahlten Mindestlohns in der Branche alles andere als gesichert.

Das lehrt auch die jüngere Geschichte. Bereits 2017 hatte die damalige SPD-Ministerin Andrea Nahles Nebelkerzen gezündet. Ihr „Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft“, durch das sich Fleischunternehmer verpflichten, etwa für die Sozialversicherung ihrer Beschäftigten bei Subunternehmern zu haften, hat nichts an den Arbeitsbedingungen in der Industrie verbessert. Das liegt nicht nur an schwammigen Formulierungen in bestehenden Gesetzestexten, sondern auch daran, dass der Staat massiven, flächendeckenden Rechtsbrüchen bislang kaum Kontrollen entgegengesetzt hat. Und wenn doch welche durchgeführt werden, werden sie oft vorher angekündigt und sind daher keine Gefahr für den reibungslosen Ausbeutungsprozess. Dasselbe gilt für die Tierschutzbestimmungen, die ohnehin weit davon entfernt sind, auf das Wohl der Vogeltiere, Rinder, Schweine und Co ausgerichtet zu sein.“

Umbruch und Aufbruch in eine solidarische Moderne: Die Politik der Vielen – neue Broschüre des ISM

Quelle: Website des Instituts für Solidarische Moderne

24.06.2020

„Wir befinden uns zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung in einer Zeit des Umbruchs, der Krise, der radikalen Infragestellung einer nicht zum ersten Mal instabil erscheinenden globalisierten neoliberalen Weltordnung, der wir schon lange lokal, bundesweit, europäisch, weltweit emanzipatorische Ideen für eine solidarische Gesellschaft von morgen entgegenstellen.

Die Bedrohung durch die Corona-Pandemie hat im Institut Solidarische Moderne Diskussionen angeregt, Unsicherheit und Ambivalenzen ausgelöst. Sie hat uns aber vor allem darin bestätigt, gerade jetzt die richtigen Fragen zu stellen, begonnene Kämpfe weiterzuführen, uns im linken Mosaik zu ermächtigen, progressive Antworten zu finden und unserer selbsternannten Aufgabe als linker Programmwerkstatt für einen sozial-ökologischen Wandel gerecht zu werden.

Wir müssen dabei nicht neu beginnen. Am 31. Januar 2020 ist das ISM zehn Jahre alt geworden. In unserem Gründungsaufruf schreiben wir: „Die Zeit ist reif für einen neuen Politikentwurf. Die existenziellen gesellschaftlichen Gefahren verlangen politisch realisierbare Antworten. Die Probleme unserer Welt sind offenkundig: von den ökologischen und wirtschaftlichen Grenzen des bisherigen ressourcenvernichtenden Wachstums bis zum gravierenden Gefälle zwischen individueller Reichtumsanhäufung und um sich greifender Armut, von der alltäglichen Missachtung der Menschenrechte bis zu vielen neuartigen Konflikten und Friedensgefährdungen.“

Positiv formuliert sind wir unserem Gründungsgedanken treugeblieben, negativ betrachtet haben sich viele Gründe für unseren Zusammenschluss leider nicht zum Positiven verändert und zeigen sich aktuell in ihrer bedrohlichsten Gestalt.

Progressive, emanzipatorische Veränderung braucht in unserem Verständnis eine politische Kultur und einen gesellschaftlichen Dialog innerhalb dessen, was wir als linkes Mosaik bezeichnen. Wir bringen Menschen aus gesellschaftlichen Organisationen
und politischen Parteien, aus akademischer Wissenschaft und aus sozialen Bewegungen zusammen, sowohl innerhalb unserer eigenen Reihen als auch in den von uns organisierten Veranstaltungen und gesponnenen Netzwerken. Dabei geht es nicht darum, Unterschiede einzuebenen, sondern diese fruchtbar zu machen, neue Perspektiven einzunehmen und Übersetzungsarbeit zu leisten.

Vor diesem Hintergrund haben wir im Juni 2019 eine Konferenz mit dem Titel „Die Politik der Vielen“ in Berlin organisiert, aus der die hier veröffentlichten Texte und Interviews hervorgegangen sind. Dabei haben wir die Frage gestellt, welche sozialen Bewegungen von „unten“ gerade stark und wirksam werden und warum eigentlich „oben“ nicht so viel davon ankommt, im Regierungshandeln keine Rolle spielt.

Denn: Zahlreiche neue soziale Bewegungen und solidarische Praktiken haben in den letzten Jahren soziale, ökologische, ökonomische, kulturelle, feministische und migrantische Perspektiven verbunden, ohne dabei in nationalen Grenzen zu verharren. Ob in den Frauenstreiks, im Hambacher Forst, in den Solidarity Cities oder der solidarischen Landwirtschaft und Ökonomie – hier liegen Impulse und Potenziale für einen linken politischen Aufbruch.

Ein gemeinsames, gegenhegemoniales politisches Projekt, das eine sozial-ökologische Transformation in Angriff nehmen könnte, steht jedoch nicht am Horizont. Weder den Bewegungen noch der politischen Linken gelingt die Übersetzung in eine gemeinsame Strategie und Programmatik. Die Machtfrage, die sich heute in Deutschland und Europa von links stellen müsste, bleibt so weiterhin ungelöst; die sozialen Kämpfe der Vielen bleiben fragmentiert und diffus; und es ist zu befürchten, dass die aktuelle Corona-Krise alle bisherigen Erfolge und Bewegungen zurückwerfen wird.

Anlässlich unseres diesjährigen Jubiläums hatten wir euch im April diesen Jahres zu einer Veranstaltung mit dem Titel Demokratisiert euch! eingeladen, bei der wir die grundlegende Frage nach demokratischer Erneuerung mit euch diskutieren und gleichzeitig auf die letzten zehn Jahre der politischen Kämpfe zurückblicken wollten. Diese Einladung, mit euch zu diskutieren, zu streiten und zu feiern, mussten wir leider absagen und können wir in absehbarer Zeit nicht nachkommen. Aber wir wollen und können uns keinen Stillstand leisten – wir organisieren uns vorerst im digitalen Raum und werden auch dort neue Einladungen an euch aussprechen.

Diese Broschüre ist ein Dankeschön an alle unsere Mitglieder und Mitstreiter*innen und eine Einladung an alle Interessierten und Kritiker*innen, die virulenten politischen Fragen anzugehen, die schon vor dem Virus da waren und die nach dem Virus noch mehr Menschenleben, Existenzen und Kämpfe angehen werden.

Alle Texte findet ihr in unserer neuen Broschüre Die Politik der Vielen ,“