Ukraine-Krieg: Prof. Dr. Johannes Varwick

Prof. Dr. Johannes Varwick bei der Friedensinitiative Nottuln (21.03.22) 439 Aufrufe – 23.03.2022 –Varwick Uni Halle – 

Der Krieg in der Ukraine tobt noch immer und wird von Tag zu Tag brutaler. Prof. Dr. Johannes Varwick skizziert und diskutiert in einem nüchternen Vortrag bei der Friedensinitiative Nottuln verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten und Lösungswege des Kriegs.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=t7eJP… https://varwick.politik.uni-halle.de/ http://johannes-varwick.de/ https://twitter.com/JohannesVarwick

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Ökonomische Folgen des Ukrainekrieges

Quelle: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

 Kurzstellungnahme zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine

 Wirtschaftliche Lage in der Ukraine

„Der Krieg ist vor allem für die Ukraine verheerend. Das Land hatte seit Beginn des neuen Jahrtausends eine beachtliche gesamtwirtschaftliche Dynamik gezeigt. Seit 2014 ist diese Erfolgsgeschichte unterbrochen. Im Gefolge der politischen Instabilitäten schrumpfte im Jahr 2015 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um knapp 10 Prozent. Der anschließende Aufschwung fiel verhalten aus; in der Pandemie kam es zu einem weiteren gesamtwirtschaftlichen Einbruch. Im Jahr 2021 lag das Pro Kopf BIP bei 4.830 US-Dollar. Bei einer Bevölkerung von etwa 42 Millionen Menschen betrug der ukrainische Anteil am weltweiten BIP im Jahr 2021 weniger als 0,4 Prozent.

Die Infrastruktur, die Industrie und der Kapitalstock des Landes werden gerade brutal zerstört. Für 2022 rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) aktuell mit einem kriegsbedingten Kurzstellungnahme zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Schrumpfen des BIP um 35 Prozent – hierin sind die aktuellen Folgen der Kriegsentwicklung noch nicht eingeschlossen. Dies ist eine Katastrophe. Für das im internationalen Vergleich ohnehin arme Land wäre selbst bei einem sofortigen Frieden eine verheerende gesamtwirtschaftliche Rezession zu erwarten.“

Wirtschaftliche Lage in Russland

„Der Kriegstreiber Russland erlebte ähnlich wie die Ukraine zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Phase kräftigen Aufschwungs. Auch hier hat sich das Blatt seit 2014 gewendet. Lag das Pro Kopf BIP im Jahr 2013 noch bei 15.930 US-Dollar, so wurden 2015 nur noch 9.260 US-Dollar erreicht. In den Folgejahren gab es eine nur unvollständige Erholung. In Russland leben 145 Millionen Menschen. Für 2021 weist der IWF ein BIP von 1.780 Milliarden US-Dollar aus. Das entspricht einem Pro Kopf BIP von 12.200 US-Dollar und einem Anteil am weltweiten BIP von unter 4 Prozent. Für das Jahr 2022 geht der IWF von einem Schrumpfen des russischen BIP um 8,5 Prozent aus. Dabei sind die Folgen des Krieges und der Sanktionen gegen das Land noch nicht vollständig berücksichtigt; andere Schätzungen gehen von einem Rückgang um 15 Prozent aus.

Die russische Regierung mutet ihrer Bevölkerung eine massive Verarmung zu. Russland ist durch seine Rohstofflieferungen weitgehend vom Weltmarkt abhängig. Einen erheblichen Anteil haben die Exporte fossiler Energieträger. Sie machen etwa 50 Prozent des russischen Außenhandels aus.

Die Einnahmen aus dem Öl und Gasgeschäft spielen eine wichtige Rolle bei der Finanzierung des öffentlichen Haushalts. Als Reaktion auf die russische Aggression verhängten viele Staaten scharfe Sanktionen gegen Russland, allen voran die USA und die EU. Russische Konten, auch die der Zentralbank, wurden weitgehend gesperrt, und der russische Finanzsektor wurde mit einem Ausschluss vom Swift Abkommen von den internationalen Finanzmärkten abgetrennt.

Viele Staaten haben den Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt, ebenso ihre Häfen für russische Schiffe. Der Export vieler Waren nach Russland, vor allem von Hochtechnologie, wurde verboten. Zudem haben viele Unternehmen über die gesetzlichen Sanktionen hinaus ihre Wirtschaftsverbindungen zu Russland gekappt. Russische Fabriken in ausländischem Besitz haben weitgehend ihre Produktion eingestellt. Alles deutet jedoch darauf hin, dass Sanktionen die russische Regierung kurzfristig nicht zum Stopp des Krieges bewegen werden. Dennoch ist es geboten, den von der EU beschlossenen Sanktionskatalog gezielt zu verschärfen.“

Auswirkungen des Krieges auf die Exporte Russlands und der Ukraine

„Die eher geringe Anteile Russlands und der Ukraine an der weltweiten Wertschöpfung können dabei nicht das entscheidende Kriterium sein. Denn es gibt eine Reihe von wichtigen Rohstoffen, bei denen Russland einen erheblichen Weltmarktanteil aufweist. Vor allem Europa ist bisher in hohem Maße vom Import von Kohle, Erdöl, Erdgas und Brennelementen für Atomkraftwerke abhängig. Kohle und Erdöl lassen sich noch relativ gut auf dem Weltmarkt ersetzen, für Erdgas gilt das hingegen nicht.

Die Auswirkungen ausfallender Nahrungsmitteltransporte werden dramatisch sein. Es droht eine Zunahme des Hungers in der Welt. Fast ein Drittel der weltweiten Weizenexporte kommen aus Russland und der Ukraine. Die nächste Ernte in der Ukraine wird durch den Krieg schwer beeinträchtigt, und Russland hat den Export eingestellt. Auch Gerste und Speiseöle kommen im erheblichen Umfang aus diesen Ländern. Russland ist auch ein wichtiger Produzent von Kunstdünger. Die arabische Welt ist als großer Importeur russischer Lebensmittel besonders betroffen.

Auch bei wichtigen Metallen ist Russland ein bedeutender Lieferant. Mehr als 40 Prozent der weltweiten Exporte von Chrom, Rohstahl, Raffinadekupfer und Palladium stammen aus Russland. Die Ukraine ist zudem für Deutschland ein wichtiger Produzent von industriellen Vorprodukten. Bekanntestes Beispiel sind die Kabelbäume, deren Fehlen große Teile der deutschen Autoindustrie stillgelegt hat und die kurzfristig nicht zu substituieren sind.“

Preissteigerung, steigende Inflation, Spekulationsgewinne
„Eine wichtige Folge der Knappheiten, vor allem bei Energierohstoffen und Nahrungsmitteln, sind stark steigende Preise. Schon im Verlauf des Jahres 2021 war die Inflation weltweit kräftig gestiegen.
Nach Ausbruch des Krieges und der Verhängung der Sanktionen gab es einen weiteren deutlichen Preisschub. Im März legten die Verbraucherpreise in Deutschland gegenüber dem Vorjahresmonat um 7,3 Prozent zu. Je nach weiterem Verlauf des Kriegsgeschehens und der dagegen gerichteten Sanktionspolitik kann die Inflationsrate weiter steigen.

Die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten Preissteigerungsraten von bis zu über acht Prozent. Damit verschärft sich das im MEMORANDUM 2022 beschriebene Dilemma der Geldpolitik weiter: Mit geldpolitischen Instrumenten lassen sich die Inflationstreiber nicht bändigen. Eine Straffung der Geldpolitik mit Zinserhöhungen würde die Wirtschaft in die Rezession treiben.
Russland hat seine langfristigen Lieferverträge für Öl und Gas bisher in vollem Umfang erfüllt. Allerdings haben russische Energiefirmen seit dem vergangenen Jahr ihre Angebote auf den Spotmärkten künstlich verknappt und ihre Speicher in Europa kaum gefüllt. Dies und die Erwartung weiterer Knappheiten haben die Energiepreise stark nach oben getrieben und bieten nun die Basis für Spekulationen. Das heißt aber auch, dass an den hohen Preisen kräftig verdient wird, es also Gewinner dieser Entwicklung gibt.“

Die Arbeit gruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert Maßnahmen, um diese Spekulation einzudämmen. Das können beispielsweise begrenzte Preiskontrollen für Ölprodukte und Gas sein. Solche Regelungen müssen schnell umgesetzt werden. Auch kartellrechtliche Eingriffe sollten eingeleitet werden. Schnelle Hilfe ist dabei nicht zu erwarten, da die entsprechenden Verfahren
langwierig sind.“

Entlastungspakete sozial unausgewogen
Angesichts der stark steigenden Preise hat die Bundesregierung zwei Entlastungspakete beschlossen, um vor allem die Belastungen durch die Energiepreise für die Haushalte zu mindern. Die Pakete haben ein Volumen von je 15 Milliarden Euro und beinhalten eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen.
Dazu gehören eine Erhöhung der Steuerfreibeträge, eine Erhöhung des Arbeitnehmerpauschbetrages, eine Energiepreispauschale für Erwerbstätige, ein Familienzuschuss für Eltern mit Kindern, eine vorübergehende Absenkung der Energiesteuern für Kraftstoffe, eine Erhöhung der Pendlerpauschale, Einmalzahlungen für Empfänger*innen von Transferleistungen und für drei Monate eine Senkung der ÖPNV Tarife. Eine Entlastung ist dringend geboten, da vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen die hohen Kosten nicht mehr tragen können.

In einer Studie des IMK (Dullien/Rietzler/Tober: Die Entlastungspakete der Bundesregierung, April 2022) werden die unterschiedlichen finanziellen Belastungen durch die steigenden Energiepreise und die Entlastungswirkungen der Pakete auf Haushaltstypen mit unterschiedlichen Einkommen untersucht. Weil die relativen Entlastungen (in Prozent der Belastungen) bei höheren Einkommen abnehmen, werden die Wirkungen der Pakete als sozial ausgewogen bewertet. Das ist für die Arbeit gruppe Alternative Wirtschaftspolitik nicht nachvollziehbar.

Höhere Einkommen werden absolut stärker entlastet. Ein alleinlebender Mensch mit einem monatlichen Nettoeinkommen von unter 900 Euro profitiert von den Maßnahmen mit
339 Euro. Verdient er oder sie über 5.000 Euro, dann liegt die Entlastung bei 435 Euro. Noch schlechter kommen Alleinerziehende weg: Mit zwei Kindern und einem Einkommen zwischen 2.000 und 2.600 Euro profitieren sie mit 629 Euro, ein Paar mit zwei Kindern und gleichem Einkommen profitiert mit 1.006 Euro. Hier ist sogar die relative Entlastung erheblich größer.“

Rentner*innen profitieren fast gar nicht von den Entlastungspaketen.

„Bei niedrigen Renten droht infolge der Preissteigerungen große Not. Das Argument der Bundesregierung, die Rentner*innen würden in diesem Jahr eine kräftige Rentenerhöhung
bekommen, sticht nicht. Auch mit dieser Erhöhung müssen sie schon das zweite Jahr in Folge reale Einkommensverluste erleiden. Bezieher*innen von Grundsicherung bekommen zwar einen erheblichen Anteil ihrer zusätzlichen Belastungen ersetzt. Aber da ihr geringes Einkommen schon jetzt nicht eine kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, wächst auch hier die Not.“

Sozial und ökologisch unsinnig ist die Absenkung der Energiesteuern auf Kraftstoffe.

„Hiervon profitieren vor allem Menschen mit hohen Einkommen und besonders spritfressenden Autos. Um diejenigen zu fördern, die auf ihr Auto angewiesen sind, um zur Arbeit zu kommen, sollte stattdessen, wie schon länger von der Arbeit gruppe Alternative Wirtschaftspolitik gefordert, ein einkommensunabhängiges Mobilitätsgeld eingeführt werden. Denn von der derzeitigen Entfernungspauschale profitieren hohe Einkommen besonders stark.
Die Entlastungspakete müssen dringend sozial und ökologisch nachgeschärft werden. Vor allem Menschen mit sehr geringem Einkommen brauchen eine vollständige Entlastung. Sehr hohe Einkommen brauchen keine Unterstützung, da sie die Belastungen aus den Preissteigerungen verkraften können. In der aktuellen Situation ist zudem mehr denn je eine gesetzliche Neuregelung für den Fall notwendig, dass Menschen ihre Strom- oder Gasrechnungen nicht mehr begleichen können. Sie dürfen nicht von den Netzen abgeklemmt werden, denn die Grundversorgung mit Energie ist ein Menschenrecht.“

Klar ist, dass sich angesichts des Krieges und der Sanktionen die wirtschaftlichen Aktivitäten in Deutschland abschwächen.

„Zusammen mit den stärker steigenden Preisen kommt es zu stagflationären Tendenzen. Die wirtschaftliche Erholung nach der Corona Krise wird zäher und dauert länger.

Insgesamt kann die deutsche Ökonomie die Situation mit fehlenden Rohstoffen und Vorprodukten bisher aber noch einigermaßen verkraften. Unklar ist, was passieren würde, wenn alle Rohstofflieferungen aus Russland gestoppt würden.“

„Die Debatten um ein sofortiges vollständiges Embargo werden immer intensiver.“

Vor allem Erdgas aus Russland ist kurzfristig nicht substituierbar. Ein naheliegender Ersatz ist Flüssiggas. Gegenüber Gas, das über Pipelines transportiert wird, ist es in der Regel klimaschädlicher, da die Prozesse der Verflüssigung, des Transportes und der Regasifizierung sehr energieaufwendig sind, hinzu kommen weitere Risiken wie die Verunreinigung von Grundwasser durch Fracking. Davon abgesehen reichen weder die vorhandenen Kapazitäten auf dem Weltmarkt noch die Schiffskapazitäten aus, um die zusätzlich benötigten Mengen nach Europa zu transportieren und anzulanden. Speziell in deutschen Häfen gibt es bisher noch überhaupt keine Terminals dafür, ein Neubau würde mehrere Jahre dauern. Im Fall eines völligen Stopps der Gasimporte aus Russland müsste daher der Gasnotfallplan in Kraft treten. Gas würde streng rationiert, wobei die privaten Haushalte prioritär berücksichtigt würden. Produktionsanlagen müssten zwangsläufig stillgelegt werden. Über die wirtschaftlichen Folgen einer solchen Entwicklung wurde in den letzten Wochen ein heftiger Streit unter Ökonomen ausgefochten. Dass es zu heftigen wirtschaftlichen Einbußen käme, ist dabei unstrittig. Aber wie heftig würde der Absturz der Wirtschaft ausfallen, und käme es überhaupt zu einer Rezession?

In Modellrechnungen werden Wachstumsverluste von bis zu 6 Prozent (IMK) prognostiziert. Das wäre ein neuerlicher kräftiger Absturz, zumal die deutsche Wirtschaftsleistung ihr Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht hat.

Es stellen sich dazu zwei Fragen:

  • Ist ein solcher Schritt politisch sinnvoll und gewünscht? Gerechtfertigt wird er mit der Annahme, dass Deutschland mit den Energiekäufen Russlands Krieg finanziert und ein Embargo den Krieg schnell beenden könnte. Das ist zu bezweifeln. Die bisherigen Sanktionen wirken bereits, Russland gleitet in eine schwere Wirtschaftskrise ab, erste Schätzungen erwarten dort einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 15 Prozent. Auch bei einer Verschärfung der Sanktionen würden die russischen Truppen kurzfristig nicht aufgehalten.
  • Sind die Ergebnisse der Modellrechnungen realistisch? Auch das ist zu bezweifeln. Die unmittelbaren Folgen (Stilllegung von Betrieben) haben auf der Ebene des BIP noch keine großen Effekte. Es fallen aber insbesondere in der Chemie viele Produkte vom Anfang der Lieferkette weg, die dann auch in anderen Bereichen fehlen. Eine solche Situation ist mit den Standardmodellen kaum realistisch abbildbar. Für die angenommenen Elastizitäten liegen keine Erfahrungswerte vor. Eine unmögliche Substitution von Produkten ist in den Modellüberlegungen gar nicht vorgesehen. Auch ist überhaupt nicht absehbar, wie lange solche Produktionsausfälle anhalten würden. Der Vergleich mit dem Corona Schock hinkt insofern an vielen Stellen.

Die Arbeit gruppe Alternative Wirtschaftspolitik hält die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen eines sofortigen und vollständigen Gasembargos für kaum kalkulierbar.“

Die Energiewende erhält durch den russischen Angriffskrieg eine neue Dringlichkeit.

„Was aus Einsicht in die Notwendigkeit zur Vermeidung einer Klimakatastrophe nicht schnell genug zu funktionieren scheint, könnte jetzt zur Verringerung der Energieabhängigkeit von Russland gelingen. Mit dem sogenannten Osterpaket will die Bundesregierung den Ausbau von Erneuerbaren Energien vorantreiben. Viele der einzelnen Maßnahmen, wie die Vereinfachung von Genehmigungsverfahren, sind sinnvolle Schritte in die richtige Richtung. Hingegen werden bestimmte Maßnahmen, die auf die Senkung der Nachfrage zielen – wie etwa ein allgemeines Tempolimit –, aus rein ideologischen Gründen durch die FDP blockiert. Ob die geplanten Maßnahmen ausreichen, um den Ausbau der Erneuerbaren im notwendigen Ausmaß voranzutreiben, bleibt daher abzuwarten.

Generell fehlt eine Energiesparoffensive, die rund 10 Prozent Energieeinsparung relativ zügig realisieren könnte. Eine ökologische Energiewende funktioniert nicht nur mit dem Ausbau von Solar und Windenergie. In allen Bereichen der Gesellschaft, im Verkehr, beim Wohnen, in der industriellen Produktion und beim Konsumverhalten muss der sozial ökologische Umbau vorangetrieben werden.
Dadurch lässt sich Energie in großem Umfang ein sparen und ein hoher Anteil Erneuerbarer Energien schneller, kostengünstiger und gesellschaftlich akzeptierter erreichen.
Allerdings darf man sich dabei keinen Illusionen hingeben. Auch ein solcher Weg würde Jahre beanspruchen und wegen der differenzierten Abhängigkeiten keine schnellen Lösungen bieten. Wie im MEMORANDUM 2022 dargestellt wird, würde eine solche Entwicklung auch nicht zu einer Energieautarkie führen. Deutschland wird dauerhaft auf Energieimporte (vor allem von grünem Wasserstoff) angewiesen sein. Die Importabhängigkeit würde mit dieser Strategie allerdings quantitativ geringer sein als bei fossilen Energien und sich bei vorsorgender Diversifizierungspolitik nicht mehr auf wenige Länder konzentrieren.“

Von einer Zeitenwende könnte man am ehesten beim neuen Aufrüstungskurs der Bundesregierung sprechen.

„Doch auch schon vor dem Kriegsausbruch wurde kräftig aufgerüstet. Preisbereinigt stiegen die Militärausgaben seit 2014 um 10,5 Milliarden Euro bis zum bisherigen Etatentwurf für 2022 von 50,3 Milliarden Euro. Nach der Aussage des Bundeskanzlers soll einmalig ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Außerdem sollen zukünftig immer mehr als 2 Prozent der Wirtschaftsleistung für das Militär ausgegeben werden.

Die Arbeit gruppe Alternative Wirtschaftspolitik lehnt diesen Aufrüstungspolitik strikt ab. Das ist die falsche Reaktion auf den russischen Angriffskrieg. Schon bisher war Deutschland nach den Rüstungsausgaben die siebtgrößte Militärmacht der Erde. Würde das Zwei Prozent Ziel umgesetzt, wäre Deutschland von den jährlichen Ausgaben her gesehen nach den USA und China die drittgrößte Militärmacht der Welt. Unbestritten hat die bisherige Aufrüstungspolitik den Krieg nicht verhindern können. In Zeiten der atomaren Bewaffnung gibt es keine Möglichkeit, eine Macht wie Russland mit
militärischen Mittel in die Knie zu zwingen. Eine Eskalation birgt nur das Risiko eines atomaren Infernos, bei dem ganz Europa oder große Teile der Welt in Trümmern läge. Mehr Rüstung schafft nicht mehr Sicherheit, aber es verschärft viele Probleme.“

Fehlende finanzielle Mittel für den sozialökologischen Umbau

„Vor allem, wenn die Bundesregierung weiter daran festhält, keine Steuern bei Reichen und Vermögen den zu erhöhen und die Schuldenbremse prinzipiell einzuhalten. Die Arbeit gruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat im MEMORANDUM 2022 ausführlich dargelegt, dass die finanziellen Mittel des Bundes unter den Voraussetzungen der Ampelkoalition
nicht reichen, um die riesige Lücke bei den zivilen Investitionen zu schließen, den ökologischen Umbau zu bewältigen, die Mängel am Sozialstaat und am Gesundheitssystem zu beheben und einen leistungsfähigen öffentlichen Sektor aufzubauen. Als weitere Aufgaben kommen aktuell die Abfederung der hohen Energiekosten für Menschen mit niedrigem Einkommen und die Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen aus der Ukraine hinzu, für die die Kommunen dringend finanzielle Hilfen benötigen. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ist unter
diesen Bedingungen nicht ohne massive Einschnitte in andere Bereiche umzusetzen, auch wenn es über mehrere Jahre gestreckt und die Tilgungsphase auf Jahrzehnte hin angelegt würde. Wir brauchen Ausgabenprogramme für den ökologischen Umbau und die soziale Absicherung der Menschen. Es ist unerträglich, dass seit zwei Jahren auf Intensivstationen die Pfleger*innen am Limit und darüber hinaus arbeiten und dabei um eine bessere Bezahlung und wirksame Maßnahmen der Entlastung ringen müssen, während auf der anderen Seite mit einem Federstrich gigantische Summen für die weitere Aufrüstung bereitgestellt werden.

Nach der Finanzkrise 2008/2009 und der Coronakrise 2020 zeigt der Staat wieder einmal, dass er enorme Summen an Finanzmitteln mobilisieren kann, denn diese sind da und müssen nur richtig eingesetzt werden. Damit wird zum wiederholten Male das Argument widerlegt, dass viele der seit Jahren vorgebrachten Vorschläge der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik vielleicht wünschenswert, aber schlicht nicht zu finanzieren seien. Die Prioritäten werden mit dem Aufrüstungsprogramm völlig falsch gesetzt. Rüstung ist keine Investition in die Zukunft der Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch in ökonomischer Hinsicht destruktiver Konsum. Sie erzeugt keinen Wohlstand, sie vergeudet gesellschaftliche Werte.“

Historiker Baberowski: „Diese Demütigung hat Putin niemals vergessen“  

Quelle: t-online

Von Marc von Lüpke

27.04.2022

Interview mit dem Historiker Baberowski  

„Diese Demütigung hat Putin niemals vergessen“

Wladimir Putins Angriff kam überraschend, doch die Welt hätte vorgewarnt sein können. Denn am Neubau des russischen Imperiums arbeitet der Kremlchef schon lange, erklärt Historiker Prof. Dr. Jörg Baberowski (Humboldt-Universität Berlin).

Als realitätsfern, gar als verrückt haben Beobachter Wladimir Putin nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine bezeichnet. Doch die Wirklichkeit ist schlimmer, denn Russlands Präsident ist sich wohl bewusst, was er tut. Diese Einschätzung trifft mit Jörg Baberowski einer der renommiertesten Osteuropa-Historiker.In Putins Welt zählt demnach der gewaltsame Wiederaufbau des russischen Imperiums in alter, historischer Größe mittlerweile mehr als Frieden und Diplomatie. Wie der Krieg gegen die Ukraine enden könnte, wieso die Vorsicht von Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ihren Sinn hat und der Vergleich Putins mit dem Sowjetdiktator Josef Stalin unnötig ist, erklärt Jörg Baberowski im Gespräch.

t-online: Professor Baberowski, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine erlebt die Kreml-Astrologie ungeahnten Aufschwung. Wie gut sind wir im Westen über die Entscheidungswege im russischen Machtapparat informiert?

Jörg Baberowski: Wir wissen wenig darüber, was im Kreml geschieht. Die Inszenierung verborgener Staatlichkeit, die in Russland seit Peter dem Großen als Tradition fest verankert ist, erfüllt immer noch ihren Zweck. Als es die Sowjetunion noch gab, haben westliche Experten versucht, aus der Aufstellung der Personen auf der Kremlmauer Aufschluss über die Machtverhältnisse zu gewinnen. Viel weiter sind wir heute auch nicht.

So wurde im Westen eine gewisse Zeit über den Verbleib des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu spekuliert, dessen Truppen vor Kiew recht erfolglos agierten.

Das ist ein gutes Beispiel unserer Ahnungslosigkeit.

Nun konzentrieren sich Experten vor allem darauf, Wladimir Putins Beweggründe für den Krieg zu verstehen. Haben Sie eine Vermutung?

Manches lässt sich aus seinem Lebensweg herauslesen. Nach dem Fall der Berliner Mauer musste Putin 1990, der in der DDR im KGB gedient hatte, in seine Heimatstadt Leningrad zurückkehren. Dort aber, umgeben von Chaos und Kriminalität, war er ein Niemand. Diese Demütigung hat Putin niemals vergessen.

Also besteht Putins Motivation vor allem im Wunsch nach Revanche und einer gewissen Großmannssucht?

Putin hat sehr früh die Absicht verfolgt, Russland wieder stark und groß zu machen. Das war so in seiner Zeit als Chef des FSB, aber auch später als russischer Ministerpräsident und Staatschef. Anfangs dachte er, dieses Ziel auf friedlichem Weg, in Kooperation mit dem Westen, vorantreiben zu können.

Der Westen sollte Putin bei der Restauration des früheren russisch-sowjetischen Imperiums helfen?

Vermutlich hat er daran wirklich geglaubt. Allerdings hat Putin den Westen und dessen Vorstellungen von einer Zusammenarbeit falsch eingeschätzt. Wir sollten nicht vergessen, dass die Entscheidungsträger in der späten Sowjetunion und in der Russischen Föderation von den Verhältnissen im Westen wenig wussten. Kaum jemand sprach Englisch, wenige waren überhaupt im Ausland gewesen. In den Neunzigerjahren ließen sie sich dann von westlichen Beratern marktliberale Wirtschaftsreformen aufschwatzen, die Russland in die Katastrophe führten.

Keine guten Voraussetzungen für die vertrauensvolle Koexistenz.

Ganz sicher nicht. Diese Erfahrungen haben sich dann zu dem Eindruck verfestigt, dass Russland dem Westen damals vollkommen ausgeliefert gewesen sei.

Gab es einen Schlüsselmoment, der sich als verhängnisvoll für das westlich-russische Verhältnis erweisen sollte?

Es gab einen großen und einschneidenden Moment: Die Luftangriffe der Nato auf Belgrad, die Hauptstadt Serbiens, im Jahr 1999, während des Kosovokrieges. Damals musste die russische Regierung die Erfahrung machen, nicht einmal mehr zu Rate gezogen zu werden. Russland verstand sich als Verbündeter Serbiens, spielte in den Kriegen auf dem Balkan aber keine Rolle mehr. In Moskau herrschte Konfusion. Warum gab es die Nato noch? Und weshalb demütigte sie Russland auf diese Weise? Solche Fragen standen am Beginn der langsam einsetzenden Absetzbewegung Russlands vom Westen.

Woraufhin Putin sich dann daran machte, das Imperium wiederherzustellen? 2001 gab er sich in seiner vielbeachteten Rede im Deutschen Bundestag noch überaus friedfertig, während russische Truppen das tschetschenische Grosny zuvor in Schutt und Asche gelegt hatten.

Russlands Präsident zeigt eine bemerkenswerte Ausdauer bei der Verfolgung seiner Ziele. Macht hat, wer warten kann, wer den entscheidenden Moment erspürt. Putin hat im Geheimdienst gelernt, worauf es ankommt, wie man seine Absichten verschleiert und am Ende doch bekommt, was man will. Putins Aggression kommt aus den Lehren, die er aus den Erfahrungen des Jahres 1991 gezogen hat.

Also aus den Ereignissen, die zur Auflösung der Sowjetunion geführt haben.

Putin hat dieses Ereignis einmal als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Aus seiner Sicht hätte die Sowjetunion nicht zerfallen müssen, nicht zerfallen dürfen. Diesen „Fehler“ will Putin nun korrigieren. Indem er der Ukraine eine eigene Staatlichkeit abspricht und sie deshalb wie eine abtrünnige Republik mit Krieg überzieht. Putin ist keineswegs ein Zyniker, der sich die Geschichte so zurechtlegt, wie er sie für seine Zwecke gebrauchen kann. Für ihn ist die Ukraine Teil des russischen Imperiums.

Das klingt nach der Gedankenwelt eines Ewiggestrigen.

Wir denken in nationalstaatlichen, Putin in imperialen Kategorien. Denn die Sowjetunion, als dessen Erbe sich Russland versteht, war ein Vielvölkerreich. Für Putin ist die Ukraine ein künstliches Gebilde ohne Existenzberechtigung, geschaffen von Politikern, die die Sowjetunion fahrlässig aufgelöst hatten. Er sieht die Welt aus der Perspektive imperialer Macht, er versteht nicht, dass die Ukraine dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ein Nationalstaat ist, der sich in das alte Imperium nicht mehr einfügen lässt.

Diese Denkweise klingt nun in der Tat nach der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Genau wie Putins Krieg gegen die Ukraine dem vorherigen Jahrhundert zu entspringen scheint.

Die Sowjetunion ist nicht durch Krieg oder Revolution untergegangen, sondern durch einen Regierungsakt. Darüber kommen Putin und seine Gefolgsleute nicht hinweg. Und deswegen glauben sie, den vermeintlichen Irrtum der Vergangenheit korrigieren zu müssen und zu können. Sie wollen nicht anerkennen, dass sich die Republiken der UdSSR inzwischen in Nationalstaaten verwandelt, sich vom Imperium gelöst haben. Das herausragende Beispiel ist die Ukraine, die seit der russischen Annexion der Krim 2014 einen bemerkenswerten Prozess der Identitätsfindung über alle sprachlichen und kulturellen Grenzen erlebt.

Nun scheint diese Entwicklung in Moskau entweder nicht wahrgenommen worden zu sein. Oder Putin will sie gezielt zerstören.

Die Frage ist, was Putin überhaupt noch wahrnimmt. Er leidet unter dem Dilemma aller Autokraten, nämlich einem eklatanten Informationsdefizit. Er umgibt sich nur noch mit Dienern, die ihm das berichten, was er hören will. Auf dieser Basis trifft Russlands Präsident Entscheidungen.

Wann wird er denn entscheiden, dass der Krieg vorbei sein soll?

Der russische Präsident braucht einen Erfolg, den er als Sieg verkaufen kann. Es wird vom Verlauf des Krieges abhängen, was am Ende als Sieg gelten kann und von der Widerstandsfähigkeit der Ukraine. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Ukraine am Ende eines zermürbenden und zerstörerischen Krieges nachgibt, weil den meisten Menschen ein Leben im Frieden lieber ist als der Heldentod. Darauf vertraut Putin, weil seine Armee zu großen Operationen nicht mehr in der Lage ist. Und möglicherweise wird ihm genau das gelingen.

Wladimir Putin ist bereit, zahlreiche seiner Soldaten in den Tod zu schicken. Von den ukrainischen Soldaten und Zivilisten ganz zu schweigen. Wie schätzen Sie seine Persönlichkeit ein? Manche Beobachter attestieren ihm gar einen völligen Realitätsverlust.

Putin weiß genau, was er tut. Und dennoch können wir uns Menschen, die Gewalt und Zerstörungen als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele einsetzen, offenbar nur als Verrückte vorstellen. Es fällt uns leichter, den Schrecken zu bewältigen, wenn wir die Täter pathologisieren und für anormal erklären.

Auch Elwira Nabiullina, Präsidentin der russischen Zentralbank, hält den Krieg allem Anschein nach wegen der gravierenden Folgen für irrational.

Putin ist die Ehre wichtiger als die Ökonomie, wie Elwira Nabiullina erfahren musste. In seiner Gedankenwelt sind Ehre und Männlichkeit, Militär und Gewalt positiv besetzte Begriffe. Für Putin ist der Krieg eine Möglichkeit, die man ergreifen kann und muss, wenn man sich davon einen Gewinn verspricht. Putin vertraut darauf, dass die mehr oder weniger geschlossene Front des Westens einbrechen wird, weil sich dort niemand zum Helden machen will und weil die Wirtschaftskrise die verwöhnten Europäer am Ende härter treffen könnte als Russland, dessen Bevölkerung mit Entbehrungen besser umzugehen versteht. Putin spielt auf Zeit – und er ist bereit, den Krieg zur Not monatelang weiterzuführen. An seiner Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit sollten wir nicht zweifeln.

Halten Sie es für realistisch, dass einzelne Staaten die Einheitsfront gegen Russland verlassen werden?

Ungarn unter dem frisch wiedergewählten Viktor Orbán hat diese Abkehr faktisch bereits vollzogen. Je länger der Krieg dauert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Interesse an der Ukraine im Westen erlischt. Putin sitzt einfach am längeren Hebel, weil er und sein autoritäres Regime auf ihre Bürger, auf die öffentliche Meinung keine Rücksicht nehmen und auch keine Wahlen gewinnen müssen.

Die Bundesregierung unter Olaf Scholz laviert, wenn es um die Lieferung schwerer Waffen für Ukraine geht. Ist es Rücksicht, weil man den Konflikt mit Russland nicht eskalieren lassen will?

Deutschland hat sich aus guten Gründen in einer Kultur des Pazifismus eingerichtet. Und es ist richtig, dass der Kanzler über die Konsequenzen nachdenkt, die eintreten könnten, wenn Deutschland sich in diesem Krieg engagiert. Früher nannte man das Realpolitik, man könnte aber auch von Verantwortungsethik sprechen. Ich verstehe nicht, warum das keine ehrenwerte Haltung sein soll.

Diese Tatsache ist auch im Kreml wohlbekannt. Sind wir Deutschen möglicherweise zu berechenbar?

Putin weiß sehr genau, dass hierzulande wahrscheinlich niemand für die Verteidigung der Ukraine sein Leben riskieren würde. Die meisten Polen hingegen würden es ohne Zweifel tun, weil auch für sie etwas auf dem Spiel steht.

Kommen wir aber noch einmal auf diese ungeheure Gewalt zurück, die Russland unter Wladimir Putin entfesselt hat und die Polen wie auch die Baltischen Staaten fürchten. Wie erklärt sich diese?

Die Bilder aus der Ukraine sind verstörend. Russlands Armeen zerstören die Infrastruktur eines Landes, das sie eigentlich erobern wollen. Wie soll man sich das erklären? Ich vermute, dass diese Zerstörungswut aus der Frustration kommt. Putin weiß, dass er keinen vollständigen militärischen Sieg erringen wird. Deshalb vernichtet er die Lebensgrundlagen der Ukraine.

Nun haben Russland und seine Menschen eine fast unvorstellbare Gewalt im 20. Jahrhundert erfahren. Einerseits durch die nationalsozialistischen Invasoren, aber auch durch den Terror, den der Diktator Josef Stalin gegen die eigene Bevölkerung angewandt hat. Wieso gelingt es nicht, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen?

Deutschland hat aus den Verbrechen und Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs gelernt, seine Regierungen wissen, dass sie auf gewaltfreiem Wege mehr denn je erreichen können. Deutschland ist einflussreich, weil es sich mit seinen Nachbarn friedlich vernetzt hat. Russland, wie schon die Sowjetunion, hat der Welt wenig zu bieten außer Waffen und Rohstoffen. Seine politischen Führer glauben, dass man mit Gewalt viel erreichen kann. Und leider fand dieser Glaube immer wieder eine Bestätigung, zuletzt in Tschetschenien, als das russische Militär Grosny zerstörte.

Grosny wurde auch deshalb dem Erdboden gleichgemacht, um eine Abschreckungswirkung nach innen und außen zu erzielen.

Richtig. Einen solchen Krieg führt man aber nicht aus einer Haltung der Stärke, sondern aus dem Geist der Schwäche. Russland ist nicht stark, das sehen wir auch in diesen Tagen. Wer schwach ist, sich nicht durchsetzen kann, isoliert ist, greift auf Gewalt zurück. Die Gewaltbereitschaft der russischen Staatlichkeit wird aber auch durch die Schwäche der Zivilgesellschaft begünstigt. Es gibt keine organisierten gesellschaftlichen Strukturen, die sich gegenüber dem Staat behaupten könnten.

Nicht zuletzt müsste die russische Armee reformiert werden.

Die russische Armee ist seit Jahrhunderten ein wanderndes Gefängnis, in dem die Ärmsten der Armen dienen. Jede Familie in Russland, die es sich erlauben kann, zahlt Bestechungsgelder, damit die Söhne nicht zum Wehrdienst eingezogen werden. Im Grunde dienen in Russlands Armee Bauern, arme Menschen und Angehörige ethnischer Minoritäten, die sich ihrer Rekrutierung nicht widersetzen können.

Und in diesem Krieg lässt sich erneut beobachten, wie rücksichtlos Russlands Militärführung mit dem Leben der Soldaten umgeht.

Die Generäle behandeln ihre Soldaten wie Kanonenfutter, weil sie offenbar glauben, dass einfach genug Soldaten nachkommen werden. Es gibt in der russischen Armee keine innere Führung, keine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der unteren Offiziere, wie es in der Bundeswehr Brauch ist. Der russische Staat versteht Menschen als sein Eigentum, als Verfügungsmasse, die er nach Belieben für seine Ziele einsetzen kann.

Die meisten Russen fürchten den Staat als eine gewaltige Maschine, gegen die der Einzelne machtlos ist. Das gilt vor allem für die Armee. Und was tun Menschen, die gedemütigt und misshandelt werden? Sie lassen ihre Verzweiflung und ihren Zorn an Menschen aus, die sich nicht wehren können, mit denen sie genauso verfahren, wie die eigene Obrigkeit mit ihnen verfährt. Diese Wirklichkeit können wir nun in der Ukraine besichtigen.

Der russische Misserfolg vor Kiew hat viele Experten überrascht, die davon ausgingen, dass Russlands Militär etwa in Syrien Kampferfahrung erworben hätte.

Die Kriege in Tschetschenien und Syrien waren doch alles andere als militärische Erfolge. Die Armee zerstörte, was sie nicht erobern konnte und hinterließ verwüstetes Land. Von militärischer Effizienz kann nicht die Rede sein. Und auch in der Ukraine zeigt sich, dass Russlands Armee schlecht geführt wird. Wie kann man Panzer und LKW-Kolonnen ohne Begleitung der Infanterie ungesichert auf asphaltierten Straßen fahren lassen, wo sie zu einer leichten Beute der Verteidiger wurden? Nicht einmal die Logistik der russischen Streitkräfte wird den Anforderungen des modernen Bewegungskrieges gerecht.

Nun soll aber eine neue Großoffensive im Osten der Ukraine endlich die gewünschten Erfolge bringen.

Die russische Armee hat den Moment der Überraschung verpasst, die Verteidiger wissen nun, was sie tun müssen, um die Invasoren aufzuhalten. Die Kampfmoral der russischen Soldaten ist gebrochen, ihre Kampfkraft gering. Sie werden zweifellos große Verluste erleiden. Ich befürchte, dass die russische Armee aus diesem Grund mit Charkiw, Kramatorsk oder Slowjansk genauso wie mit Mariupol verfahren wird.

Also die Stadt systematisch zerbomben. Sehen Sie einen Ausweg, der den Krieg ohne dieses Szenario enden lassen könnte?

Ich habe Zweifel, ob es gelingen wird, durch die Lieferung schweren Kriegsgeräts an die Ukraine den Konflikt zu beenden. Putin wird sich nicht geschlagen geben, weil er sich eine Niederlage nicht leisten kann. Die Folgen eines langwierigen Zerstörungs- und Vernichtungskrieges werden für Russland und die Ukraine verheerend sein. Insofern handelt Bundeskanzler Olaf Scholz weise, wenn er die möglichen Folgen kalkuliert, die sich aus einer Ausweitung des Krieges ergeben könnten.

Jetzt kommt es darauf an, einen neutralen Vermittler zu finden, der einen Frieden aushandelt, von dem beide Seiten einen Gewinn haben. Eine andere Lösung kann es gar nicht geben, wenn wir einen langen Zermürbungskrieg verhindern wollen.

Was würde Putin denn als „ehrenhaft“ empfinden, um in seiner Diktion zu bleiben?

Putin will erreichen, dass die Annexion der Krim akzeptiert, vielleicht auch der Donbass preisgegeben wird. In jedem Fall aber möchte er verhindern, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wird. Wir wissen nicht, was die Ukraine am Ende des Krieges verlangen könnte. Eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union würde ihr jene Sicherheit geben, die sie jetzt nicht hat, weil Rußland kein Land angreifen würde, das der Europäischen Union angehört.

Wer weiß, ob sich Russlands Aggression am Ende nicht als Pyrrhussieg erweisen könnte. Denn wer möchte denn in einem vom Krieg zerstörten und von Russland besetzten Territorium leben? Und warum sollte die Ukraine nicht auf Zeit spielen, Kompromisse eingehen, weil sie in zehn Jahren vielleicht auf friedlichem Weg erreichen könnte, was jetzt nicht gelingen kann? Was immer auch geschehen wird: Ohne eine Garantiemacht wird es wahrscheinlich keinen Frieden geben können, der den nächsten Tag überdauert.

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Professor Baberowski, vielen Dank für das Gespräch.

Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, lehrt Osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsfelder sind unter anderem der Stalinismus und die Geschichte der Gewalt. 2012 erhielt Baberowski den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Standardwerk „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt„. Drei Jahre später erschien seine Studie „Räume der Gewalt„, zuletzt dann im letzten Jahr „Der bedrohte Leviathan. Staat und Revolution in Russland„.

 

Russische Oligarchen in Aufruhr Ein Mutiger, ein Rücktritt und zwei Todesfälle

Der große Aufschrei von Russlands Wirtschaftsführern gegen den Krieg in der Ukraine bleibt bislang aus, doch kritische Stimmen werden durchaus immer wieder mal laut. Weil Moskau gegen seine Gegner im eigenen Land hart vorgeht, äußerten sich die meisten Unternehmer oder Topmanager bislang allerdings eher zurückhaltend.

Umso bemerkenswerter ist, was Wladimir Lissin (65) jetzt von sich gegeben hat. Der Mehrheitseigner des Stahlkonzerns NLMK, mit einem Vermögen von rund 23,2 Milliarden US-Dollar laut „Forbes“ gegenwärtig zweitreichster Russe nach Norilsk-Nickel-Eigner Wladimir Potanin (61, Privatvermögen: 24,5 Milliarden US-Dollar), geht mit der Aggression seines Landes gegen die Ukraine so hart ins Gericht, wie vor ihm kaum ein anderer russischer Wirtschaftskopf seines Kalibers. Einem Bericht der „FAZ“  zufolge sprach Lissin gegenüber der russischen Zeitung „Kommersant“ von einer „humanitären Katastrophe“ und zeigte auch Verständnis für die Sanktionen des Westens. Damit bewegt sich Lissin gefährlich nahe an einem Straftatbestand. Denn das Aufrufen zu Strafmaßnahmen gegen Russland steht dort seit Kurzem unter Strafe.

Lissins Kritik erscheint umso erstaunlicher, weil sich der Stahlmagnat, soweit bekannt, bis zuletzt in Russland aufhielt. Der Multimilliardär gehört zwar nicht zu jenen Oligarchen, die vom Westen mit Sanktionen belegt wurden. Doch auch zu den Strafmaßnahmen gegen seinesgleichen äußerte er sich gegenüber „Kommersant“.

Solche Sanktionen gegen Russlands Wirtschaftslenker führten einerseits zu einer „Kaskade negativer Folgen“ für zehn-, vielleicht sogar hunderttausende Mitarbeiter, so Lissin. Andererseits sei es beschämend, sich angesichts einer „humanitären Katastrophe“ über persönliche Probleme zu beschweren. Sanktionen könnten zwar ungerecht erscheinen, aber es sei klar, dass der Westen mit allen möglichen Mitteln versuchen werde, das „Sterben von Menschen und die Zerstörung von Städten“ zu stoppen, sagte Lissin.

Derart offene Kritik vonseiten eines führenden Vertreters der russischen Wirtschaft am Angriffskrieg Wladimir Putins (69) in der Ukraine ist selten, aber nicht einmalig.

Erst vor wenigen Tagen hatte der russische Milliardär Oleg Tinkow (54) mit einem deutlichen Post auf der Plattform Instagram für Schlagzeilen gesorgt.

Tinkow warf der russischen Armee vor, „Massaker“ in der Ukraine zu verüben, und forderte ein Ende des „irrsinnigen Krieges“ gegen das Nachbarland. Der Gründer der Internetbank Tinkoff hielt sich dabei mit deutlichen Worten nicht zurück: Die russischen Generäle hätten inzwischen erkannt, „dass sie eine Scheißarmee haben“, schrieb er. „Und wie sollte die Armee auch gut sein, wenn der ganze Rest des Landes beschissen ist und beschmutzt ist von Vetternwirtschaft, Speichelleckerei und Unterwürfigkeit?“

Er selbst sehe „keinen einzigen Profiteur dieses irrsinnigen Krieges“, der nur dazu führe, dass „unschuldige Menschen und Soldaten sterben“.

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