Linke, Krieg und Frieden: Haltelinien, Konzepte, Fragen – Anmerkungen zum Ukraine-Krieg

Quelle: Journalismus von Links

Von Paul Schäfer – 10.3.22

Das Ziel muss ein stabiler Frieden sein

Linke, Krieg und Frieden: Haltelinien, Konzepte, Fragen – Anmerkungen zum Ukraine-Krieg

Das Entsetzen ist groß über den Krieg Putins, das Leid, das er in der Region, aber auch weltweit verursacht: Wo soll das enden? Und erschrocken sind wir auch: Wie schnell die Bundesregierung, die Mehrzahl der Medien und nahezu alle Parteien auf die Logik der Konfrontation und der Hochrüstung einschwenken.

Die neue Lage ist: Wir haben die programmatischen Ansprachen Putins als Propaganda für das heimische Publikum angesehen. Von »historischen Gebieten« war die Rede, die als natürliche Einflussbereiche reklamiert wurden; der Ukraine wurde gar das Existenzrecht abgesprochen. Nun wissen wir: Es war ernst gemeint.

Welche Kriegsziele verfolgt das Putin-Regime?

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird. Die Losung, die Ukraine »entmilitarisieren« und »entnazifizieren« zu wollen, besagt: Der generalstabsmäßig geplante russische Angriff ist der Versuch, in der Ukraine ein willfähriges System zu etablieren (»regime change«), das den russischen Ambitionen, die Ukraine dem eigenen Herrschaftsbereich zu unterstellen, entgegenkommt.

Wie ist diese Invasion strategisch einzuordnen?

Mit dem Angriffskrieg wird die Absicht untermauert, den postsowjetischen Raum (von Belarus bis Zentralasien) als unverrückbares russisches Einflussgebiet zu befestigen. Die Russische Föderation ist damit zu einer revisionistischen, neozaristischen Macht geworden, die sich über die Grundsätze und Festlegungen der UN-Charta (Artikel 1 »Selbstbestimmung der Völker« und Artikel 2 »Gewaltverbot«), der KSZE-Konferenz 1975 (»Unverletzbarkeit der Grenzen«, der Charta von Paris 1991 (»gemeinsames Haus Europa«), des Budapester Abkommens von 1994 (Entnuklearisierung der Ukraine gegen die Zusage, die Souveränität Kiews zu wahren) hinwegsetzt und eine Neuordnung dieses Großraums auch mit Gewaltmitteln festschreiben will.

Was ist das Besondere der gegenwärtigen Lage?

Im linken Lager wird auf Kriege der USA in Vietnam, in vielen Teilen der Welt, auf den Nato-Krieg im Kosovo, die US-geführte Invasion im Irak, auf frühere Völkerrechtsbrüche verwiesen. Das ist richtig. Dennoch: Putin ist der »Imperialist des Tages«. Und wir sollten aufpassen, dass diese Bezüge nicht als Relativierung des gegenwärtigen Angriffskrieges aufgefasst werden.

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg sollten wir die unterschiedlichen Dimensionen beachten: Als 1999 inmitten des Krieges um Kosovo ein russisches Regiment einen Teil des Flughafens in Pristina besetzte, wurde dies von allen Seiten als symbolischen Akt nach dem Motto »Wir sind auch noch da« verstanden. Heute stehen wir am Rande einer militärischen Konfrontation zwischen Nato und Russland, die den Weltfrieden bedroht. Dies erinnert an die zugespitzte Lage während der Kuba-Krise 1962. Präsident Putin hat anderen Staaten, die »sich von der Seite einmischen«, indirekt, aber unmissverständlich mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht (»Konsequenzen, die sie noch nie in der Geschichte erlebt haben«) und seine strategischen Abschreckungskräfte, zu denen die Nuklearwaffen, gehören in Alarmbereitschaft versetzt. Wie besorgt die Weltgemeinschaft ist, hat die präzedenzlose Ablehnung des Krieges durch 141 Mitglieder der UN-Generalversammlung gezeigt.

Wie wurde Paulus zum Saulus oder: Wie ist es so weit gekommen?

2001 wurde Wladimir Putin im Deutschen Bundestag für seine auf Kooperation ausgerichtete Rede mit »standing ovations« bedacht. Bei der Sicherheitskonferenz in München 2007 empörte er sich, dass man auf seine Angebote für eine neue europäische Friedensordnung nicht eingegangen sei und Russland permanent demütige. Der erfahrene US-Diplomat George Kennan hat 1997 mit seiner düsteren Prognose, die Nato-Osterweiterung würde in Russland nationalistische und militaristische Tendenzen begünstigen, leider recht gehabt. Dieser Prozess wurde durch die Aufkündigung wichtiger Rüstungskontrollabkommen (zum Beispiel Raketenabwehrvertrag 2002 durch die USA) weiter angeheizt.

Aber den Wandlungsprozess im Kreml ausschließlich damit zu begründen, greift zu kurz. Erinnern wir uns: Die Duma-Wahl 2011 war von heftigen Protesten im Land begleitet. Erstmals hatte sich in nennenswertem Umfang eine wirkliche Opposition zu Wort gemeldet, die das Putin-Regime dazu veranlasste, Wahlfälschungen zu begehen und hart gegen jegliche Opposition vorzugehen. Dazu verbündete sich die Putin-Partei mit der extremen Rechten im Lande, die konsequent die Rolle des faschistoiden Mobs gegen zivilgesellschaftliche Bewegungen einnahm.

Eine Schlussfolgerung daraus: Es geht dem Putin-Lager um den eigenen Machterhalt. Dazu greift man auf eine Methode zurück, die wir von Despoten kennen: der Feind, das sind »auswärtige Agenten und Mächte«. Dass es um reaktionäre Regimeinteressen geht, haben zuletzt auch die Interventionen in Belarus und Kasachstan gezeigt. In diesem Rahmen sind die engen Bindungen der Putin-Partei mit einer zusehends globalisierten extremen Rechten nicht zu übersehen.

Es ist schon erstaunlich, dass auch in linken Betrachtungen Russlands der militärisch-industrielle Komplex so gut wie nicht vorkommt. Dabei spielt der militärische Sektor neben den fossilen Energiekonzernen eine tragende Rolle bei den Staatseinnahmen des Landes. Und für das Putin-Regime sind Waffenexporte von strategischer Bedeutung zur Mehrung internationalen Einflusses. Der Machtkomplex aus Rohstoff- und Rüstungskonzernen ist die Machtbasis Putins. Wenn diese Annahme richtig ist, wären dann nicht andere Schlüsse zu ziehen als heute üblich? Partnerschaften zur Umstellung auf erneuerbare Energien und Abrüstungsvereinbarungen wären dann die Konsequenz. Wenn nicht heute, so morgen!

Wie verhält es sich mit den russischen Sicherheitsinteressen?

Betrachten wir es nüchtern: Russland ist nicht existenziell bedroht. Schon allein dadurch, dass niemand die Absicht hat, in Russland militärisch einzufallen. Auch die Generalität und die politische Führung in Moskau wissen das. Und selbst ein Nato-Beitritt der Ukraine, der den Aufbau zusätzlicher militärischer Infrastruktur nach sich ziehen würde, bedroht Russland nicht existenziell. Der Preis eines konventionellen Krieges wäre für beide Seiten nicht bezahlbar und würde wahrscheinlich auch eine nukleare Konfrontation als letzte Eskalationsstufe einschließen. Russlands Rückversicherung liegt – ob es uns gefällt oder nicht – in seinem nuklearen Waffenpotenzial, genauer: in der Sicherung seiner Zweitschlagfähigkeit. Daher waren und sind die Sorgen Russlands nach der Ankündigung Raketenabwehrsysteme auch in Rumänien oder Polen zu stationieren, vollauf berechtigt. Aber dafür fängt man keinen Krieg in der Ukraine an, sondern forciert Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen und wendet sich an die Weltöffentlichkeit.

Und nur zur Erinnerung: Der Ausgangspunkt des gewaltförmigen Streits um die Ukraine war nicht der Beitritt des Landes zur Nato – der war nach 2008 auf Eis gelegt. Es ging um das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union! Dass sich die nach dem Maidan-Aufstand ins Amt gekommene ukrainische Führung für die EU entscheiden wollte, hat die Annexion der Krim und die militärisch abgestützte Separation im Donbass ausgelöst. Die eigentliche Bedeutung von Pufferzonen: Freiheitlich-demokratische Reformen in Osteuropa sieht man als Gefährdung des eigenen, autokratischen Systems, die man nicht toleriert.

Müssen linke Geschichtsbilder revidiert werden?

Ja. Sahra Wagenknecht hat auf einem ihrer Podcasts beispielhaft dargelegt, wie Geschichtslegenden auf der linken Seite aussehen. Ihr Plädoyer für eine russlandfreundliche Politik begründet sie aus der Geschichte: Russland sei immer wieder »vom Westen« angegriffen worden, und dies habe sich in das kollektive Gedächtnis der Russen eingegraben. Letzteres hat gewiss Richtiges. Sie räumt knapp ein, dass es auch Phasen russischer Dominanz im Rahmen des Warschauer Vertrages gegeben habe. In diesem Weltbild kommen die rollenden Panzer in Ost-Berlin 1953, in Budapest 1956 und Prag 1968 offenbar nicht vor.

Auch der Hitler-Stalin-Pakt, der zur Inbesitznahme und Auslöschung Polens führte, wird in linken Erzählungen als Akt schierer Verteidigung gedeutet, um Zeit und Raum gegen die Nazis zu gewinnen. Katyn? Schrecklich, aber dem Furor des Krieges geschuldet. Dass es dabei um die vorsätzliche und systematische »Liquidierung« der polnischen Führungselite ging, um den Pufferstaat Polen in unseliger russischer Tradition vom Erdball zu tilgen, wird dabei negiert. Die Sorge unserer östlichen Nachbarn vor einem russischen Imperialismus hat sich in deren kollektives Gedächtnis eingegraben (wie auch in Finnland, das ebenfalls überfallen wurde).

Das eigentliche Trauma, das heute die russische Führung prägt, ist der Verlust an Weltgeltung (= Supermacht auf Augenhöhe mit den USA). Auch hier ist Putin wörtlich zu nehmen. Der Satz vom Untergang der UdSSR als größter geopolitischer (sic!) Tragödie des 20. Jahrhunderts ist so einfach zu entschlüsseln. Diese Großmachtambitionen stehen in krassem Missverhältnis zur Wirklichkeit. Russland verfügt über ein Bruttoinlandsprodukt wie Italien. Es stützt sich vorwiegend auf Energiequellen, die keine Zukunft mehr haben. Der Versuch, dies durch militärische Macht auszugleichen ist aussichtslos und dennoch brandgefährlich. Gerade deshalb müssen Wege gefunden werden, wie das »unverrückbare Russland« (Egon Bahr) einen respektierten Platz in der Staatengemeinschaft wiederfinden kann.

Was ist in dieser Situation aus der Entspannungspolitik der 70er Jahre zu lernen?

Willy Brandt und Egon Bahr haben ihre »neue Ostpolitik« trotz Mauerbau 1961 und CSSR-Einmarsch 1968 eingeleitet. Aus der Tatsache, dass ein Atomkrieg niemals gewinn- und daher nicht führbar sei, leiteten sie das Konzept »gemeinsamer Sicherheit« ab. Die nukleare Eskalationsgefahr sollte gebannt werden; die Anerkennung des territorialen Status quo sollte helfen, Vertrauen zwischen West und Ost aufzubauen und den Weg für konkrete Schritte der Abrüstung freimachen. Last not least: Der Eiserne Vorhang sollte durchlässig gemacht werden, nicht zuletzt aus humanitären Gründen. Es war zugleich erklärte Absicht, dadurch Spielräume für demokratische Prozesse zu vergrößern.

Was unsere Ausgangslage heute so schwierig macht: Russlands Versuch, ein postsowjetisches Regime wieder zu errichten, ist damit verbunden, die erreichten demokratischen Spielräumen in den Nachbarländern (wie immer man das dortige Oligarchentum, die Korruption etc. beurteilen mag) zu eliminieren. Auf diese neue Situation brauchen wir eine Antwort. Wir werden am Ende des Tages wieder bei den Grundsätzen der Entspannungspolitik und konkreten Vorschlägen zur De-Eskalation, der Rüstungskontrolle, für eine atomwaffenfreie Welt landen. Durchzusetzen ist dies gegen den autoritären Nationalismus unserer Tage.

Solidarität mit der Ukraine – auch mit Waffenlieferungen?

Die Ukraine hat gemäß Artikel 51 der Uno-Charta das verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Und die ukrainische Bevölkerung scheint bereit zu sein, dies auch durchzufechten. Ob dazu Waffenlieferungen hilfreich und unumgänglich sind, ist sorgfältig abzuwägen.

Wir sollten diese Frage vom Umgang mit dem »normalen« Rüstungsexportgeschäft abkoppeln. Diesbezüglich gelten alle Forderungen nach einer besonders restriktiven Politik weiter uneingeschränkt. Das Argument, dass aus historischen Gründen zur Abstinenz verpflichtet sei, sticht nicht. Man kann es auch umdrehen. Die Ukraine, die auch Opfer des deutschen Vernichtungskrieges war, die jetzt zum zweiten Male angegriffen wird, ist in ihrem Existenzkampf zu unterstützen.

Bis zum 24. 2. gab es gewichtige Einwände: Was ist mit den irregulären, schwer kontrollierbaren Milizen auf dem Kriegsschauplatz, die sich der Waffen bemächtigen könnten? Könnte die ukrainische Führung, gestützt auf effiziente Geräte wie bewaffneten Kampfdrohnen (die im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt kriegsentscheidend waren), versucht sein – trotz der Georgien-Erfahrung -, eine gewaltsame Entscheidung im Donbass zu suchen?

Jetzt stellt sich die Frage, ob eine militärische Unterstützung nur noch zu einem mörderischen Abnutzungskrieg beiträgt, wie er sich womöglich abzeichnet. Zu bedenken ist auch, dass die Nato mit ihren Waffenlieferungen immer mehr in das Kriegsgeschehen hineingezogen wird. Ist eine solche Eskalation des Krieges vertretbar? Aber ist es andererseits nicht richtig, den Preis für die russische Aggression durch bewaffneten Widerstand möglichst weit hochzutreiben? Wie sonst soll Moskau zum Umdenken gebracht werden? Und welche Demoralisierung löste es aus, wenn die Ukraine im Bombenhagel allein gelassen würde?

Ich gestehe: Ich bin ratlos. Statt Antworten aus dem Bauch heraus brauchen wir hier kollektives Nachdenken.

Ziviler Widerstand als Alternative?

Die Ukraine hat sich zum militärischen Widerstand gegen die Aggression von außen entschieden. Dass damit entsetzliche Opfer verbunden sind, ist unvermeidlich. Wäre es da nicht besser, von vornherein die Waffen niederzulegen und zu kapitulieren? Die pazifistische Haltung verlangt genau dies. Sie verbindet dies mit dem Vorschlag, Besatzungsmächten mit zivilen Mitteln entgegenzutreten. Dies wird gerne als rettungslos naiv, weltfremd abgetan. Und wenn das Kriegsgetöse tobt, erscheint diese Idee besonders abseitig. Wir sollten dem widersprechen. Ziviler Widerstand ist angesichts der Zerstörungspotenziale moderner Streitkräfte durchaus in Betracht zu ziehen. Und verfügen wir nicht heute durch öffentliche und soziale Medien, durch eine vernetzte Zivilgesellschaft über neue Möglichkeiten ziviler Gegenwehr? Die globale Delegitimierung brutaler Herrschaft ist eine scharfe Waffe. Wir tun gut daran, in der Tradition Mahatma Gandhis Gewaltfreiheit als Alternative zum Kriegsfuror zu verteidigen.

Andererseits: Die epochale Abschüttelung des kolonialen Jochs Mitte des vorigen Jahrhunderts wäre ohne Gewalt nicht möglich gewesen. Und die Vorstellung, man hätte die Weltherrschaftspläne Hitler-Deutschlands mit der weißen Fahne durchkreuzen können, fällt schwer. Was bedeutet es, wenn die Kriegsherren mit ihren Gewaltaktionen durchkommen und ihre expansiven Ziele erreichen? Der Appetit kommt beim Essen. In Extremsituation werden wir bewaffnete Gegengewalt akzeptieren müssen und zugleich an einer Welt arbeiten, in denen ein Friede mit friedlichen Mitteln eine Chance hat.

Was ist mit Sanktionen zu erreichen?

Ein Sanktionspaket wie jetzt gegen Russland beschlossen, hat es in dieser Form wohl noch nie gegeben (Ausnahme: Nordkorea/Iran/Irak). Und es ist erkennbar, dass diese Maßnahmen kurzfristig wirken. Richtig ist aber auch, dass die Abschnürung Russlands von der globalen Wirtschaftszusammenarbeit die gesamte Bevölkerung des Landes empfindlich treffen wird. Das gilt wahrscheinlich auch für uns. Trotzdem herrscht allenthalben die Einsicht vor, dass man der russischen Aggression nicht nur mit Appellen begegnen kann. Die Bereitschaft, auf wirtschaftliche Sanktionen zu setzen, ist groß – auch unter Linken. Und war die Embargopolitik gegenüber dem Apartheid-Regime in Südafrika nicht erfolgreich? Die Ukrainer*innen würden diese Politik mittragen. Unter dem Strich führt kein Weg an der Logik vorbei, dass der Preis, den das Putin-Regime für seine Aggression zu zahlen hat, sehr hoch sein und die Vorteile der Besatzung überwiegen muss.

Aber Vorsicht: Die vielfältigen Interdependenzen in der Welt aufsprengen zu wollen, kann nicht gut gehen. Nach den Negativerfahrungen mit nicht eingehaltenen Versprechungen aus dem Iran-Nuklearabkommen bleibt zudem die strikte Forderung: Sanktionen sind konditioniert zu verhängen und müssen sukzessive aufgehoben, durch weitreichende Kooperationsangebote ersetzt werden, wenn ein Friedensprozess in Gang kommt.

Wie gehen wir mit der Aufrüstungsoffensive der Bundesregierung um?

Ein zusätzliches 100-Milliarden-Rüstungsprogramm lehnen wir ab; das pauschale Zwei-Prozent-Aufrüstungsziel ist unsinnig. Immerhin zeigt das in Aussicht gestellte, 100 Milliarden Euro umfassende Sondervermögen, dass die Schuldenbremse ausgedient hat und sehr viel Geld vorhanden ist. Es könnte durch Vermögensabgaben noch aufgestockt werden. Der Kampf um die Verteilung dieser Mittel hat begonnen. Wir werden uns dafür stark machen, dass erhebliche Mittel für die zivile Konfliktbearbeitung, für eine nachhaltige Entwicklungspolitik, für die ökologische Transformation und die soziale Abfederung der ökonomischen Folgen der Sanktionspolitik aufgewandt werden. Das ist wirkliche Sicherheitsvorsorge. Unser Ceterum Censeo bleibt, alle ad-hoc-Maßnahmen mit grundsätzlichen Perspektiven eines stabilen Friedens in Europa zu verknüpfen.

Was den Mittelabfluss an die Streitkräfte angeht, gilt es zuvörderst zu klären, wo das ganze Geld bleibt, das die Bundeswehr Jahr für Jahr zu verbrennen scheint – wenn die Aussage stimmt, dass die Truppe nicht einsatzbereit sein sollte.

In diesem Rahmen sollten wir neu über eine Bundeswehr als Verteidigungsarmee nachdenken. Dabei können wir an eine Debatte aus den 80er Jahren unter der Überschrift »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit« anknüpfen. Nur ein Hinweis: Das kleine Finnland etwa hat sehr wenig Panzer, mit denen man eine raumgreifende Offensive durchführen könnte, aber eine »schlagkräftige« Artillerie. Es ist bei modernem Kriegsgerät zugegebenermaßen sehr schwierig, zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zu unterscheiden. Wie ein anderes Streitkräftedispositiv aussehen würde, wie hoch die Kosten einer möglichen Umrüstung sind, wissen wir nicht genau. Ein solches Konzept kann nicht ohne militärischen Sachverstand entwickelt werden. Dazu wird Die Linke ihre Einstellung gegenüber der Bundeswehr ändern müssen – ohne ihren Anspruch auf eine Welt ohne Armeen aufzugeben.

Noch eine gedankliche Provokation zum Schluss: Die baltischen Staaten, Polen, alle osteuropäischen Nachbarn halten die Nato auf absehbare Zeit für ihre Risikoversicherung. Das gilt nach dem russischen Angriffskrieg umso mehr. Jetzt orientieren sich auch unsere nördlichen Nachbarn Finnland und Schweden auf diesen Schutzschirm. Sind wir da gut beraten, wenn wir den Austritt Deutschlands aus den militärischen Strukturen der Allianz fordern? Andererseits: Wozu solle es gut sein, dass sich an der Nahtstelle der Konfrontation immer zerstörerische Waffensysteme und immer mehr Soldaten gegenüberstehen? Über Initiativen zur De-Eskalation und Abrüstung wird man zu gegebener Zeit sprechen müssen – im Bündnis.

Paul Schäfer war von 2005 bis 2013 verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Er engagiert sich nach wie vor in der Linkspartei, ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« und gehört dem Willy Brandt-Kreis an. Auf seiner Webseite www.paulschaefer.info widmet er sich friedens- und sicherheitspolitischen Themen sowie globalen Fragen und Alternativen. 2014, als die Ukraine-Krise ein erstes Mal eskalierte, gab er im VSA-Verlag das Buch »In einer aus den Fugen geratenden Welt. Linke Außenpolitik: Eröffnung einer überfälligen Debatte« heraus. In dem hier veröffentlichten Text führt er diese Debatte unter dem Eindruck des russischen Krieges gegen die Ukraine fort.

Ukraine-Krise Die Stunde der Bellizisten

Quelle: https://www.rosalux.de/news/id/46167/die-stunde-der-bellizisten

Führt die Ukraine-Solidarität zu einer Identifikation mit NATO-Politik oder einer neuen Friedensbewegung? Von Thomas Klein

Thomas Klein, Jahrgang 1948, Ostberlin, Mathematiker und Zeithistoriker, Linksoppositioneller in der DDR und in der Bundesrepublik. Er ist Mitglied der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Der verbrecherische Überfall von Putins Russland auf die Ukraine scheint das historische Gedächtnis und die friedenspolitische Vernunft abgeschaltet zu haben. Eine kritische Reflexion der Kriegsziele Russlands und der Interessenpolitik der NATO ist ausgesetzt. Übriggeblieben ist, immerhin, die weltweite Ächtung von Russlands Angriffskrieg.

Mit dem Angriffskrieg hat Russland nicht «nur» das Völkerrecht, sondern auch die Sicherheitsgarantien gebrochen, die Moskau der Ukraine im Budapester Memorandum 1994 – im Gegenzug zur Übergabe der auf ukrainischem Territorium stationierten Atomwaffen – gegeben hatte. Was aber hat Putins Russland bis jetzt erreicht? Die «hirntote» NATO (Emmanuel Macron) scheint wiedererwacht, die zerstrittene EU steht vermeintlich wiedervereinigt mit den USA «wie ein Mann» hinter der zunehmend zerbombten Ukraine, und in der UN-Vollversammlung verurteilen die allermeisten Staaten den russischen Angriffskrieg. Dabei verweist gerade der Charakter jener vier Despotien, die dort offen Russlands Überfall billigten – nämlich Nordkorea, Eritrea (oft auch als «Nordkorea Afrikas» bezeichnet), Syrien und Belarus –, auf die Natur dieser unsäglichen Allianz. Selbst China und Serbien wollten Russland nicht über ihre Stimmenthaltung hinaus unterstützen.

Inzwischen erwägen Schweden und Finnland offen den NATO-Beitritt, der Drang hinein in die EU an Russlands Peripherie wächst, und die Russische Föderation würde, falls es ihr gelänge, in der Ukraine ein russlandfreundliches Regime zu installieren, von sich aus westwärts an die NATO heranrobben. Was die eskalierenden Sanktionen des Westens in der schwachen Wirtschaft Russlands anrichten werden, ist noch unklar – fest steht hingegen, dass die russische Bevölkerung die Hauptlast tragen wird.

Das alles dürfte Russland wenig gefallen. Der Westen fürchtet seinerseits eine mögliche Allianz der gewaltigen Atommacht Russland und des wirtschaftlichen Riesens China. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass die jährlichen Militärbudgets der USA und ihrer NATO-Partner die Militärausgaben Russlands fast um das Zwanzigfache übersteigen.

Die monströsen Geschichtslügen des russischen Präsidenten lassen sich ohne großen Aufwand widerlegen;[1] ihre Funktion zur Legitimation der russischen Militärintervention ist offenkundig. Putins Einlassungen, so bizarr sie auch die Geschichte verzerren, entlarven jedoch seine Konstruktion der Rolle Russlands auch außerhalb der Grenzen der Föderation – vor allem seine Verurteilung der Leninschen Nationalitätenpolitik (Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Sezessionsrecht der Völker Russlands) als Ursache des 70 Jahre später erfolgten – und von Putin als verhängnisvoll beklagten – Untergangs der Sowjetunion sowie seine Rüge an die Adresse Stalins, dessen Revision der Leninschen Nationalitätenpolitik sei politisch inkonsequent gewesen.

Dass aus Putins Sicht aber Stalins Verträge mit Nazideutschland 1939 Lob verdienen, entlarvt ihn als großrussischen Chauvinisten, der vom Russischen Reich in den Grenzen von 1914 träumt. Putin sieht sich als Garant der Rechte aller Russ*innen auch außerhalb der russischen Föderation, was nicht nur im Baltikum, in Georgien und der Moldau-Republik Angst auslösen dürfte. Er erweist sich damit als russischer Imperial-Nationalist, ganz im Sinne des von ihm verehrten antibolschewistischen Bürgerkriegskommandeurs Anton Iwanowitsch Denikin, den er ehrenhalber nach Moskau umbetten ließ.

Putin reichert seine Propaganda überdies mit Versatzstücken des stalinistischen Sowjetpatriotismus an. Zugleich versteht er es, den Stalinismus mit Hinweisen auf die verhängnisvolle Rolle des Westens in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs (Münchner Abkommen, gescheiterte Verhandlungen der Sowjetunion mit dem Westen für eine Allianz gegen Nazideutschland)[2] zur Rechtfertigung des deutsch-sowjetischen Vertragswerks von 1939 wie der zeitgenössischen russischen Politik in Dienst zu nehmen.

Neben den jetzt verkündeten Kriegszielen Russlands (Demilitarisierung und »Entnazifizierung« der Ukraine) reagierte Putin zuvor beiläufig auch auf den Abriss der Lenin-Denkmäler in der Ukraine: «Wollen Sie die Entkommunisierung?», fragte Putin. «Nun, uns passt das sehr gut. Aber wir dürfen nicht, wie man so schön sagt, auf halbem Weg stehen bleiben. Wir sind bereit, Ihnen zu zeigen, was eine echte Entkommunisierung für die Ukraine bedeutet. »

Mario Keßler bewertet dies wie folgt: »Lenins erklärter Internationalismus und Putins Großrussischer Chauvinismus sind in der Tat inkompatibel. Putins Interpretation der Geschichte zielt zugleich auf die Auslöschung linken Denkens wie auch jeder Erinnerung an die Tradition ukrainischer Staatlichkeit ab. All dies sollte insbesondere Sozialistinnen und Sozialisten deutlich machen, dass im Moskauer Kreml ihr erbitterter Feind sitzt.«[3] Jutta Ditfurth meint, «das bewusstlose Reden vom ‚verrückten‘ Putin» müsse ein Ende haben. Er verfolgt einen Plan für ein neues großrussisches Reich vom Mittelmeer bis zum Nordmeer, seine Eurasien-Geostrategie […]. Putin ist keine Einzelperson, sondern der Protagonist der reaktionären, nationalistischen und autoritären russischen Fraktion. Auch deshalb ist er der Held deutscher Nazis.»[4]

Die deutsche Linke und der Krieg

Damit kommen wir zu den Linken, den «Linken» und der Partei DIE LINKE. Unter ihnen soll es ja immer noch Leute geben, die in Putin einen Sachwalter antifaschistischen Sowjetpatriotismus sehen oder ihn (Stalin hin oder her) für «einen Linken» halten. Dazu bedarf es allerdings diverser Scheuklappen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Es ist schier unerträglich, wenn «Linke» verschämt zur dortigen Diskriminierung Homosexueller schweigen, die taktische Allianz von Putins Russland mit rechtsnationalistischen Parteien und neofaschistischen Bünden «übersehen», das Ausmaß von Zensur und Repression gegen putinkritische Oppositionelle (so fragwürdig manche dieser Strömungen auch sein mögen) herunterspielen und die Mediengleichschaltung, welche inzwischen Breschnewsche Dimensionen annimmt, verharmlosen.[5]

Die Mehrheit der kommunistischen und linken Parteien in Europa hat mit teilweise scharfen Verurteilungen des russischen Überfalls reagiert[6] – auch die Partei DIE LINKE. Gregor Gysi sagte sogar, dass das, was er zuvor an (womöglich zutreffenden) Beurteilungen zur Mitverantwortung der NATO artikuliert habe, seit Kriegsbeginn als erledigt zu betrachten sei. Doch hier liegt er falsch. Denn es ist ein großer Unterschied, ob man die Verbrechen von NATO-Mitgliedern als Rechtfertigung oder Verharmlosung des russischen Überfalls in Anschlag bringt[7] oder ob man gemäß der Maxime handelt, dass Linke in einem Machtkampf kapitalistischer Antagonisten durch Parteinahme für eine Seite nichts zu gewinnen haben. Das war 1914 so und ist es auch 100 Jahre später.

Manche Linke begründen ihre Zurückhaltung gegenüber der russischen Kriegspartei mit der Maxime «Unser Feind steht im eigenen Land». Doch die Konflikte nehmen mehr und mehr globalpolitischen Verflechtungscharakter an; dadurch wird diese Maxime kurzsichtig. Russland führt einen verbrecherischen Angriffskrieg, aber deshalb sind die Interventionen des Westens (zuletzt in Panama 1989, Irak 1991, Somalia 1992, Sudan 1998, Jugoslawien/Serbien 1999, Afghanistan 2001, Irak 2003 und Libyen 2011) mit hunderttausenden Toten und Millionen Geflüchteten nicht im Nachhinein legitimiert. Das NATO-Land Türkei führt im eigenen Land, in Syrien und im Irak Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Das alles gerät jetzt aus dem Blick, ebenso wie die zahlreichen «Aufstandsbekämpfungsprogramme» der Geheimdienste, Regime-Change-Versuche und unterstützte Putsche oder wirtschaftliche Destabilisierungen (etwa in Ländern Süd- und Mittelamerikas vor und nach 1990).

Die NATO-Osterweiterung

Die Osterweiterung der NATO – also die Aufnahme von Ostdeutschland; dann von Polen, Tschechien, Ungarn (1999); Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Slowakei, Lettland, Litauen, Estland (2004); Albanien, Kroatien (2009); Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) – wird von russischer Seite als wortbrüchig qualifiziert; in jedem Fall berührte sie eindeutig russische Sicherheitsinteressen. Käme nun noch der – inzwischen eher unwahrscheinliche – Beitritt der Ukraine hinzu, wäre die von Russland völkerrechtwidrig annektierte Krim nach westlicher Lesart ebenso NATO-Schutzgebiet wie die ostukrainischen Sezessionsgebiete[8] – ein Pulverfass. Dies hat neben dem Westen nun auch die Ukraine realisiert. Das Fenster zu einer alternativen, nichtprovozierenden, gemeinsamen Lösung für Sicherheit und Zusammenarbeit durch Schaffung einer europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands ist vom Westen als «Sieger der Geschichte» hochmütig geschlossen worden.

Und dennoch: Das alles rechtfertigt in keiner Weise den russischen Überfall. Er ist nicht die «legitime Antwort» auf westliche Machtpolitik, sondern deren Übernahme. In allen Konfliktzonen wird die Opposition gegen diese Gewaltpolitik kompromisslos ausgeschaltet.[9]

Die Wahrheit stirbt zuerst

Im Krieg stirbt die Wahrheit bekanntlich zuerst. Und überall setzt man auf das Vergessen. Es ist die Stunde der Bellizisten und Patrioten. Dagegen haben Linke anzukämpfen, ohne einen der aufeinanderprallenden Antagonisten zu schonen, zu entschuldigen oder zu legitimieren.

So bleibt es wahr, dass in der Ukraine auch rechtsextreme Milizen in der Tradition der antisowjetischen Kampfverbände, die einst an der Seite Nazideutschlands kämpften, agieren, darunter das Regiment Asow, die Miliz «Rechter Sektor» und die Aidar-Brigade, die besonders brutal gegen die prorussischen Rebellen in der Ostukraine vorgegangen sind. Dort kämpften sie gegen nicht weniger zimperliche prorussische Milizen, die nun von regulären russischen Truppen unterstützt werden.

Das Minsker Abkommen haben beide Seiten – gewissermaßen gemeinsam – erledigt. Der russische Einmarsch hat fatalerweise den schon vorher in der Ukraine grassierenden Kult um den Nazikollaborateur Stepan Bandera und die Rehabilitierung der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) sowie der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) verstärkt. Aber die (russische) Rede vom «Genozid» an der ostukrainischen russischen Minderheit ist umso abwegiger, als die russische militärische und logistische Unterstützung der sezessionistischen Volksrepubliken kaum geleugnet werden kann. Ebenso wenig kann allerdings die Diskriminierung der Russ*innen im westlichen Machtbereich der ukrainischen Regierung bestritten werden.[10] Als Kriegslegitimation war die Legende vom Genozid für Putin daher durchaus brauchbar, wobei immer wieder das Pogrom von Odessa gegen prorussische Aktivist*innen vom 2. Mai 2014 angeführt wird.

Und dennoch: Die ukrainische Mehrheitsbevölkerung hat von einer Orientierung auf Russland inzwischen nichts mehr zu erwarten. Obgleich in der ersten Wahl nach der prowestlichen «Orangen Revolution» der prorussische Kandidat Viktor Janukowitsch gewann, war der Majdan-Aufstand alles andere als ein (so die russische Lesart) «faschistischer Putsch», auch wenn hier die erwähnten Rechtsextremisten kräftig mitmischten. Sein Ergebnis war der Austausch einer korrupten prorussischen Elite gegen eine ebenso korrupte prowestliche Elite. Die teilweise agrarischen ukrainischen Westoligarchen sind, anders als die russlandorientierten industriellen Ostoligarchen, schon aus finanziellem Eigeninteresse für eine EU- und Westbindung.

Der diskriminierende Umgang der prowestlichen Administrationen mit der russischen Minderheit trug dazu bei, dass diese Minderheit auf der Krim und in der Ostukraine keine Alternative zu ihrer Orientierung auf Russland mehr sah. Trotzdem markierten sowohl die russische Annexion der Krim 2014 als auch die russische Anerkennung der ostukrainischen Sezession 2022 einen Bruch des Völkerrechts. Dass die Mehrheit der dortigen ukrainisch-russischen Bevölkerungsminderheit diese Schritte dennoch begrüßte, ist evident.

Die «Zeitenwende» in Deutschland

In Deutschland reagiert man auf die Mediengleichschaltung und das Verbot unabhängiger Sender in Russland mit der wenig souveränen Entscheidung einer Empfangsblockade russischer Staatsmedien. Russische Bürger*innen in der Bundesrepublik, die sich nicht eindeutig gegen Putin positionieren, verlieren mitunter ihre Arbeit. Jene publizistische und politische Minderheit nicht-lobbyistischer deutscher Akteure, die sich 30 Jahre lang (vergeblich) um eine Verständigung mit Russland bemühten, werden jetzt nicht nur für ihre Illusionen kritisiert, sondern auch als «nützliche Idioten Moskaus» oder gar «Putins Komplizen» stigmatisiert und zuweilen auch beruflich diskriminiert. Man setzt sie umstandslos gleich mit dem unappetitlichen «Gas-Putin»-Lobbyisten Gerhard Schröder.

Darüber hinaus werden nun 100 Milliarden Euro für die Aus- und Hochrüstung der Bundeswehr zur Verfügung gestellt, damit aus der internationalen Eingreiftruppe wieder eine «schlagkräftige Landesverteidigungsarmee» (Lindner: «eine der schlagkräftigsten in Europa») wird. Die Grünen und die linken Sozialdemokrat*innen werden auch diese Kröte schlucken. Die Kriegsindustrie, schon lange durch deutsche Waffenexporte im guten Geschäft, erwartet nun Spitzengewinne. Allenthalben wird eine modifizierte Wiederbelebung der Wehrpflicht als Dienstpflicht erwogen.

Derzeit nimmt der Einsatz international operierender Söldnerlegionen auf beiden Seiten und an allen Fronten massiv zu. Pazifismus und Antimilitarismus werden mehr und mehr marginalisiert. Die Solidarität und überwältigende Hilfsbereitschaft für die ukrainischen Kriegsopfer und Flüchtlinge werden überwölbt vom Sound der Kriegshysterie und Frontberichterstattung. Der äußere Feind steht wieder im Osten, den inneren Feind argwöhnt man zunehmend wieder links. Die «Abschreckungskultur» des Kalten Krieges erwacht, ein neuer «Eiserner Vorhang» zieht sich zu, und zwei Drittel der deutschen Bevölkerung begrüßen die Wiederaufrüstung – es ist wie ein Zurück in die Zukunft der 50er Jahre. Die Lösung der globalen Menschheitsfragen – des Hungers, des Klimawandels, der soziale Ungleichheit – gerät einmal mehr ins Hintertreffen. Schöne neue Welt.

Eine neue Friedensbewegung?

Die gesellschaftliche Linke muss diesem reaktionären Sog in den Bellizismus widerstehen. Nur, wenn sie nicht ins Kriegsgeheul einstimmt, kann sie politisch bestehen. Denn wir wissen, was geschieht, wenn länderübergreifende Koalitionen emanzipatorischer und sozialistischer Kräfte ihren Internationalismus zugunsten eines aggressiven Patriotismus aufkündigen. Das haben schon vor hundert Jahren Entstehung, Verlauf und Folgen des verheerenden Ersten Weltkriegs gezeigt. Der zeitgenössische europaweite Aufschwung neofaschistischer Strömungen und Parteien droht, die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zu entwerten. Entgegen der trügerischen Hoffnung, mit dem Ende der Blockkonfrontation sei nach 1990 auch die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen gebannt, scheint die Konjunktur solcher Kriege nun erneut begonnen zu haben. Dabei zeigen die Jugoslawien-Nachfolgekriege, welche entsetzlichen Folgen der Triumph eines chauvinistischen Nationalismus, religiösen Fanatismus und militärischen Interventionismus zeitigen. Es war der bisher blutigste europäische Krieg nach 1990, international nur übertroffen vom Terror islamfaschistischer Regime.

Es stellen sich zwei Fragen: Führt die Solidarität mit den Kriegsopfern in der Ukraine, die Unterstützung der verfolgten Kriegsgegner*innen in Russland und der Kampf gegen den russischen imperial-militärischen Expansionismus in eine bedingungslose Identifikation mit der Politik von NATO und Selenski-Ukraine? Bedeutet der Widerstand gegen kapitalistische Geopolitik und westliche Doppelmoral womöglich auch die Verharmlosung oder gar Rechtfertigung russischer Machtpolitik, im Inneren wie nach außen?

Eine internationalistische Linke, die diesen Namen verdient, muss beide Fragen entschieden mit «Nein» beantworten.[11] Es geht um nicht weniger als die Revitalisierung eines weltweiten Bündnisses der vielschichtigen sozialen Bewegungen, die endlich auch wieder die übergreifenden Zusammenhänge herstellt: Gegen Militarismus, militaristischen Interventionismus und Aufrüstung, gegen die tödlichen Grenzen der Festung Europa sowie für die Geltung globaler sozialer Rechte und der Menschenrechte. Ein erster Schritt wäre die Wiedergeburt einer neuen internationalen Friedensbewegung. Die Frage lautet: Wird es eine solche internationale Friedensbewegung geben?

[1] Zu Putins geschichtsklitterndem Bild der Ukraine, das der Legitimation des Krieges dient, siehe Mario Keßler, Putins imperiale Träumereien, in: „Jacobin“, 27.2.2022, https://jacobin.de/artikel/putins-imperiale-traumereien-konnten-zum-verhangnis-ukraine-krieg-invasion-lenin-sowjetunion-internationalismus. Zu Putins Dekuvrierung als großrussischer Chauvinist siehe Thomas Kuczynski, Vielvölkerstaaten in Europa und ihr Schicksal, in: „Lunapark21“, Heft 57.

[2] Besonders prägnant in Putins Rede zum 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg am 19. Juni 2020. Die Webseite der russischen Botschaft, auf der man diese nachlesen konnte, ist derzeit nicht erreichbar.

[3] Mario Keßler, a.a.O.

[4] Vgl. das Interview mit Jutta Ditfurth: Ukraine-Krieg als „willkommene Ausrede für Aufrüstung der Bundeswehr“, in: „Frankfurter Rundschau“, 1.3.2022, www.fr.de/politik/ukraine-krieg-bundeswehr-aufruestung-interview-jutta-ditfurth-news-91380249.html.

[5] Siehe die Erklärung des Sekretariats des Parteivorstands der DKP vom 25.2.2022, https://hamburg.dkp.de/erklaerung-des-sekretariats-des-parteivorstands-der-dkp-vom-25-2-2022, und die Erklärung des Sekretariats des Landesvorstands der DKP Brandenburg vom 26.2.2022, die den „russischen Militäreinsatz“ als friedenspolitische Maßnahme analog der Grenzsicherung am 13. August 1961 bewertet.

[6] Vgl. Stimmen linker und kommunistischer Parteien zum Krieg in der Ukraine, in: „junge welt“ vom 26.2.2022, S. 3.

[7] Hinsichtlich der russischen Anerkennung der „vom Genozid bedrohten“ sezessionistischen ukrainischen Volksrepubliken wird häufig auf die „Blaupause“ der Anerkennung des von Serbien abgespaltenen, „vom Genozid bedrohten“ Kosovo im NATO-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien verwiesen. Auch dem deutschen Überfall auf Polen 1939 ging die Argumentation voraus, man müsse die „Auslandsdeutschen“, also die deutsche Minderheit in Polen, vor antideutschen Pogromen schützen. Vgl. Ingar Solty, Die geopolitischen Konsequenzen der Eskalation des Ukrainekonflikts, www.rosalux.de/news/id/46023. Auf die Beihilfe der KP der Russischen Föderation – Arm in Arm mit dem Klerus der Russisch-Orthodoxen Kirche – konnte sich Putin immer verlassen. Siehe etwa Sjuganow: „Die Anerkennung der DVR und der LVR sollte Russlands entschlossene Antwort auf die US-Provokationen sein!“ Vgl. https://kprf.ru/party-live/cknews/208562.html.

[8] Michael von der Schulenburg, In der Ukraine könnte das Fundament für einen europäischen Frieden gelegt werden, in: „Berliner Zeitung“, 11.2.2022, www.berliner-zeitung.de/wochenende/in-der-ukraine-koennte-das-fundament-fuer-einen-europaeischen-frieden-gelegt-werden-li.209288.

[9] „Auf dem politischen Trümmerfeld des postsowjetischen Raums kämpfen die Gruppen einer sozialen und demokratischen Opposition um ihre Existenz, nicht um die Macht.“ Sebastian Gerhardt, Putins Stärke, Putins Schwäche, 24.2.2022, https://planwirtschaft.works/2022/02/24/putins-staerke-putins-schwaeche.

[10] Gemäß dem neuen Sprachgesetz von 2019 soll die russische Sprache in Behörden sowie von Dienstleistern und in der Presse nicht mehr verwendet werden. Die Gewalttaten der neofaschistischen Partei Swoboda, die sich in der Tradition der ukrainischen Nazikollaborateure in der SS-Division „Galizien“ sehen, treffen auch die russische Bevölkerungsgruppe in der Ukraine. Vgl. Tomasz Konicz, Nazis mittendrin, www.ag-friedensforschung.de/regionen/Ukraine/faschos5.html.

[11] Instruktiv der Aufruf „Den Krieg in der Ukraine stoppen – eine neue Antikriegsbewegung aufbauen“ der Interventionistischen Linken (IL) vom März 2022, https://interventionistische-linke.org/beitrag/den-krieg-in-der-ukraine-stoppen-eine-neue-antikriegsbewegung-aufbauen. Siehe auch: Manifest gegen den Krieg, https://www.heise.de/tp/features/Manifest-gegen-den-Krieg-6549580.html.

Der Krieg in der Ukraine, von innen betrachtet

Quelle: https://www.rosalux.de/news/id/46116/der-krieg-in-der-ukraine-von-innen-betrachtet

Krieg / Frieden – Osteuropa – Ukraine-Krise Der Krieg in der Ukraine, von innen betrachtet

Ein Interview mit Oksana Dutchak (Oksana Dutchak ist stellvertretende Direktorin des Zentrums für Sozial- und Arbeitsforschung in Kiew und forscht zu Arbeit und Arbeitsbedingungen, sowie zur Ungleichheit der Geschlechter).

Wie ist die momentane Situation in der Ukraine und wie hat die Bevölkerung auf den Kriegsausbruch reagiert?

Die Situation ist sehr verfahren. Während der ersten Tage schien es, als wolle die russische Armee Zivilist*innen verschonen. Sie versuchten zunächst die militärische Infrastruktur des Landes zu zerstören, wohl in der Annahme, dass Regierung und Bevölkerung sich rasch ergeben würden. Doch ihr Plan ist nicht aufgegangen. Das Geheimdienstversagen auf russischer Seite ist wirklich verblüffend, sie haben sich völlig verkalkuliert. Sie hatten die Rechnung ohne den Widerstand der Armee und der lokalen Bevölkerung gemacht. Das stimmt einerseits hoffnungsvoll, andererseits hat diese Entwicklung auf russischer Seite aber auch zu einer dramatischen Veränderung der Taktik geführt. Sie sind nun dazu übergegangen, Zivilist*innen anzugreifen. Wie es jetzt weitergeht, wissen wir nicht.

Was die Zivilbevölkerung angeht, schieben viele westliche Linke nun der NATO die Schuld in die Schuhe. Aber nichts hat der Idee eines NATO-Beitritts in der ukrainischen Bevölkerung so viel Popularität verschafft wie die aktuelle russische Invasion. Einer jüngst veröffentlichten Umfrage zufolge befürworten heute 76 % der ukrainischen Bevölkerung einen Beitritt zu dem Militärbündnis.

Dieser Rekordwert erklärt sich aus der sprunghaft angestiegenen Zustimmung im Osten und Süden des Landes, wo bislang eine ablehnende Haltung gegenüber der NATO überwog. Als militärische und zivile Vertreter*innen der USA immer wieder vor einem russischen Angriff warnten, haben nur wenige ihnen Glauben geschenkt. Ich selbst habe bis zum letzten Augenblick nicht an einen Angriff geglaubt. Nun deutet aber alles darauf hin, dass Russland sich schon seit Monaten oder sogar noch länger aktiv auf diese Großinvasion vorbereitet hat.

Die Bevölkerung ist jetzt sehr gegen Russland eingenommen. Der Versuch Russlands, die Ukraine vollständig dem eigenen Einfluss zu unterwerfen, verkehrt sich somit genau in sein Gegenteil, denn die Stimmung ist jetzt in weiten Teilen sehr antirussisch. Es gibt auch andere Stimmen, die nicht in diesen Chor einstimmen. Aber angesichts dessen, was um uns herum passiert – etwa die Bombardierung der mehrheitlich russischsprachigen Stadt Charkiw, eine der größten Städte des Landes – ist es schwer, gegenüber Russland keine radikale Abneigung zu empfinden. Der Hass ist derzeit verständlicherweise sehr stark. Unter den gegebenen Umständen ist es kaum möglich, in Russland etwas anderes zu sehen.

Einige ukrainische Linke haben seit geraumer Zeit vergeblich auf die Gefahren einer Invasion hingewiesen, aber niemand hat hingehört. Nun werden wir Zeug*innen, wie Russland nach seiner alten imperialen Größe trachtet, mit schlimmen Folgen für uns, die russische Bevölkerung und die globale Weltordnung.

Manche meiner Freund*innen haben sich entschieden, in ihren unter Beschuss stehenden Städten auszuharren, auch einige Verwandte konnten oder wollten nicht evakuiert werden. Viele von ihnen bereiten sich nun darauf vor, einen Guerillakrieg zu führen. Auch hier lag die russische Regierung völlig daneben: sie verkündete, die Truppen würden vor Ort mit Freuden empfangen werden – ob sie das wirklich selbst geglaubt hat, kann ich nicht beurteilen. Stattdessen machen nun Aufnahmen von Zivilist*innen die Runde, die sich mit bloßen Händen den Panzern entgegenstellen. Wahrscheinlich haben unter anderem solche Szenen Russland dazu bewogen, zu einer Zermürbungstaktik überzugehen und vermehrt Luftangriffe auf zivile Ziele zu fliegen. Den Bombern können zivile Straßenblockaden nichts anhaben.

In einigen Fällen haben Leute auch Panzer mit Molotow-Cocktails etc. attackiert. Die Menschen in Kiew und vielen anderen Städten treffen Vorkehrungen für den Partisanenkampf. Selbst wenn das militärische Kalkül der russischen Regierung irgendwie aufgeht und es ihr gelingt eine Marionettenregierung einzusetzen, könnte solch eine von außen oktroyierte Regierung sich nicht lange halten. Denn es würde eine heftige Eskalationsspirale einsetzen, die auch die Zivilbevölkerung miteinbeziehen würde. Nicht alle beteiligen sich an solchen Aktionen, aber es ist unter dem Eindruck der aktuellen Geschehnisse ein starker Sog entstanden, sich zu involvieren. Ich gehe davon aus, dass die Menschen vielerorts auch probieren werden, gewaltfreien Widerstand zu leisten. Aber wenn Städte aus der Luft verwüstet werden, kann man sich kaum in irgendeiner Weise wehren.

Dem Großangriff auf die Ukraine war sowohl von amerikanischer, als auch von russischer Seite ein wochenlanges Kriegsgerassel vorausgegangen. Wie positionieren sich feministische Organisationen und die organisierte Arbeiter*innenschaft in der aktuellen Situation?

Von verschiedenen Seiten kamen unterschiedliche Reaktionen. Leute melden sich als Freiwillige um die Zivilbevölkerung zu unterstützen. Unter der Oberfläche entstehen viele selbstorganisierte Strukturen, die dabei helfen, Menschen zu evakuieren und an einen sicheren Ort zu bringen, oder diejenigen mit Nahrung und Medikamenten zu versorgen, die in ihren Städten bleiben wollen oder müssen. Darüber hinaus gibt es auch einige unterschiedlich gut organisierte Graswurzelinitiativen von Menschen, die als Freischärler*innen im Krieg mitkämpfen wollen.

Viele nutzen ihre Beziehungen ins Ausland, um Menschen über die Grenze zu helfen oder eine Unterkunft in Polen, Rumänien oder Moldawien zu vermitteln. Diese Netzwerkarbeit spielt auch eine große Rolle bei den anarchistischen, feministischen und linken Organisationen. In der Stadt findet gerade viel Selbstorganisation statt, sowohl auf dem Gebiet der zivilen Hilfe, als auch in Vorbereitung auf den bevorstehenden Einmarsch russischer Truppen.

Einige Menschen hängen an der Grenze fest und erfahren dort rassistische Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe. Hast du dazu weitere Informationen?

Das ist ein reales Problem, aber ich weiß nicht, ob diese Diskriminierung systematisch erfolgt. Menschenrechtsaktivist*innen versuchen jedoch, die Öffentlichkeit auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Die Regierung hat kürzlich in einer offiziellen Stellungnahme Diskriminierung deutlich missbilligt und online ein Sonderformular für ausländische Studierende bereitgestellt, das ihren Grenzübertritt erleichtern soll.

Es ist unverkennbar, dass Europa sich in dieser Frage sehr uneinheitlich verhält. Polen hat als eines der ersten Länder seine Grenzen für Geflüchtete aus der Ukraine geöffnet. Das ist kein Vergleich zum Vorgehen derselben Regierung an der Polnisch-Belarussischen Grenze. Der Unterschied ist augenfällig und ich sehe das sehr kritisch. Hier geht es ganz klar um Rassismus. Das Problem ist aber nicht, dass diese Länder zu nett gegenüber Ukrainer*innen sind, sondern dass sie andere Leute schlecht behandeln. Das alles sagt viel über Rassismus und die ungleiche Wahrnehmung verschiedener Länder aus.

Ist es möglich eine Antikriegsposition zu entwickeln, ohne dabei für Russland oder die NATO Partei zu ergreifen? Können Frauen, Migrierende und Arbeiter*innen eine transnationale Bewegung aufbauen, ohne der nationalistischen Logik der Geopolitik anheimzufallen?

Wenn ich mit Linken aus anderen Ländern rede, bin ich immer wieder überrascht darüber, wie sehr sie darauf bedacht sind, nur ja die NATO nicht zu gut wegkommen zu lassen. Bei jeder Gelegenheit weisen sie darauf hin, dass «die NATO auch Dreck am Stecken hat». Selbstverständlich kann man die NATO für ihr Auftreten im Vorfeld kritisieren, aber wenn jetzt Bomben vom Himmel fallen, dann trägt dafür ausschließlich Russland die Verantwortung. Für uns vor Ort stellt sich die Situation anders dar, weil wir erleben, wie sich die russische Regierung verhält. Sie halten stur an ihren Plänen fest. Da ausschließlich Russland in die Ukraine einmarschiert ist, scheint es uns kaum sinnvoll zu fordern, dass Russland und die NATO verschwinden sollen. Denn für uns ist es völlig offensichtlich, dass nicht die NATO unsere Städte in Schutt und Asche legt.

Es ist nicht möglich, indifferent zu bleiben. Vor allem hier vor Ort kommst du nicht umhin, dich für eine Seite zu entscheiden. Ich rate west- und osteuropäischen Linken davon ab, eine indifferente Haltung einzunehmen. Wer hier nicht Partei ergreift, will seine Hände in Unschuld waschen.

Ein Freund sagte mir, die NATO sei an den Entwicklungen mitschuldig und dass die Ukraine nach diesem Krieg ein sehr nationalistisches, fremdenfeindliches Land mit großen Problemen sein werde. Ich antwortete ihm, er habe damit wahrscheinlich recht, doch ich könne erst später über seine Sätze nachdenken, wenn unsere Städte nicht länger unter Feuer stehen und die russische Armee abgezogen sein wird. Wir können diese Probleme jetzt nicht lösen. Wir können darüber sprechen, aber wir dürfen den Elefanten im Raum dabei nicht übersehen.

Einige Linke meinen, wir müssten verhandeln und die Neutralität der Ukraine zusichern, um aus dieser Situation herauszukommen. Ich kann mich dieser Auffassung derzeit schwerlich anschließen. Diese Position hat etwas Koloniales an sich, denn sie verweigert einem Land seine Souveränität. Es ist Sache der Bürger*innen eines Landes zu entscheiden, was sie tun wollen und damit sie das tun können, darf es keinen Krieg geben. Noch einmal, dieser Krieg bestimmt die Geschicke der Ukrainer*innen über ihre Köpfe hinweg. Auch wenn es gerne heißt, es gebe im Leben immer eine Wahl, sehen viele Ukrainer*innen gerade keine Wahl mehr für sich.

Wir geben unsere Handlungsmacht nicht auf. Doch einige Linke – im Westen – sprechen uns unsere Handlungsmacht ab und erteilen den Ukrainer*innen Ratschläge was sie tun sollen. Die Ukraine soll sich nicht für eine Seite entscheiden, sie soll keinem Lager angehören und ihre Neutralität bewahren – das sind alles sehr schöne Worte. Doch die Geschichte lehrt, dass ein neutraler Status starken, reichen und wehrhaften Staaten vorbehalten ist. Die Ukraine war nicht in der Lage, sich gegen einen Angriff zu verteidigen und ich weiß nicht, wie lange wir der Invasion jetzt noch standhalten können, da wir es versuchen.

Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 noch über die Neutralität der Ukraine zu sprechen, klingt wie Hohn in meinen Ohren. Die Ukraine hat ihr Nuklearwaffenarsenal gegen entsprechende Sicherheitsgarantien aufgegeben. Eine Reihe von Ländern, darunter die USA, Großbritannien und Russland, gaben der Ukraine verbindliche Zusagen, nach denen ihr Hoheitsgebiet unverletzlich sei und sie keine Angriffe anderer Staaten zu befürchten habe. Russland hat diese Zusagen 2014 gebrochen. Ich kann daher gut verstehen, dass die ukrainische Gesellschaft seither kaum noch etwas auf solche Zusagen gibt. Die Garantien haben sich als wertlos herausgestellt. Sie können jederzeit gebrochen werden, ohne dass dies irgendwelche rechtlichen oder anderweitige Konsequenzen nach sich zöge. Ich weiß nicht, wie wir dieser Wahl zwischen Russland und der NATO entkommen können. Ich habe darauf gerade keine andere Antwort.

Du hast wahrscheinlich einige der Statements gelesen, die die russische Invasion verurteilen und Unterstützung für die ukrainische Bevölkerung zum Ausdruck bringen. Einige russische Feminist*innen bezeichnen den Krieg in ihrem Aufruf als Fortsetzung der alltäglichen Gewalt, die Putins Regime gegen Frauen, LGBTQI+-Personen und alle jene ausübt, die die Regierung nicht unterstützen oder sich gegen sie auflehnen. In zahlreichen Städten kam es zu Antikriegsdemonstrationen, die Putins Rolle auf verschiedenen europäischen und außereuropäischen Schauplätzen anprangerten. Was denkst du über diese Proteste? Wie sollte eine transnationale Friedenspolitik zum aktuellen Zeitpunkt aussehen?

Es führt kein Weg daran vorbei, sehr viel Druck auf Russland auszuüben. Sie sind zu weit gegangen. Ich bin sehr dankbar für die Proteste in aller Welt. Ich setze einige Hoffnung in die Protestierenden, weil wir schon jetzt sehen, dass sie Druck auf ihre Regierungen ausüben können. Das ist eine Art humanitärer Hilfe, die wir zusätzlich zur militärischen Unterstützung benötigen, die zum gegebenen Zeitpunkt ebenfalls sehr wichtig ist. Wenn man in einem Land lebt, das von einem anderen Land überfallen wird, lässt sich ein antimilitaristischer Standpunkt schwerlich aufrechterhalten.

Ich möchte auch allen meinen Dank aussprechen, die jetzt in Russland auf die Straße gehen. Einige Russ*innen, die im Land selbst oder im Ausland leben, legen sich nun sehr ins Zeug, um Proteste zu organisieren und die Geflüchteten aus der Ukraine zu unterstützen. Auch in anderen Ländern beschaffen Leute Hilfsgüter und stellen Informationen oder Infrastruktur zur Verfügung.

In der Ukraine wird nun viel über einen Aufstand in Russland geredet, der vielleicht einen Ausweg aus unserer Lage weisen könnte. Leider glaube ich nicht, dass das passieren wird. In Russland und vielen anderen postsowjetischen Staaten – darunter vermutlich auch die Ukraine – sind zivilgesellschaftliche Strukturen ziemlich schwach entwickelt und dieser Mangel lässt sich auch in einer akuten Notlage nicht von einem Tag auf den anderen beheben. Daher glaube ich nicht, dass in der russischen Gesellschaft die nötigen Kräfte existieren, um Putin zu stoppen. So traurig das klingen mag, ich halte eine Palastrevolution aus den Kreisen der russischen Elite da noch für wahrscheinlicher. So etwas könnte kurzfristig eine entscheidende Wendung der Situation herbeiführen.

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Das Interview erschien zuerst bei Lefteast

Übersetzung von Maximilian Hauer für Gegensatz Translation Collective