Radikalisierung der Impfgegner: Ursache „Denkpest“?

Quelle: Spiegel online. 5.1.2022

Eine Kolumne von Sascha Lobo 05.01.2022

Radikalisierung der Impfgegner – Ursache „Denkpest“?

Sascha Lobo – Jahrgang 1975, Autor „Realitätsschock: Zehn Lehren aus der Gegenwart. Kiepenheuer &Witsch. 2019) und Spiegel-Kolumnist bietet zur Frage nach den Ursachen der Radikalisierung der Impfgegner folgende These an:

 Die Extremsituation der Pandemie, schlechte (staatliche, institutionelle) Kommunikation und soziale Medien wie Telegram haben ein neues Massenphänomen hervorgebracht, eine Vorstufe zum umfassenden Verschwörungsglauben: die Denkpest“.

„Denkpest“ bezeichnet er ausdrücklich nicht als Krankheit: „Bei der Denkpest hat einerseits die Art und Weise der Verbreitung etwas mit Übertragung zwischen Personen zu tun. Andererseits wirkt sie mehr oder weniger auf den gesamten Menschen: auf die Denkweise, die Wahrnehmung, das Verhalten, die Kommunikation, die soziale Interaktion. Denkpest ist, was passiert, wenn ein Mensch sich in den Gedankenirrgärten von Fake News und Verschwörungstheorien verläuft.“

Als wissenschaftliche Referenz für seine These führt er den Soziologen Karl Mannheim an: „Denkpest ist eine Art unbewusste Ideologie. Das ist ein lange existierender und trotzdem sehr aktueller Begriff der politischen Soziologie. Der österreich-ungarische jüdische Soziologe Karl Mannheim beschrieb die unbewusste Ideologie so: Der Betroffene kann »die Inkongruenz seiner Vorstellungen mit der Wirklichkeit deshalb nicht entdecken […], weil die Gesamtaxiomatik seines historisch und sozial bestimmten Denkens so gelagert ist, dass die Inkongruenz prinzipiell nicht sichtbar werden kann.«“

„Denkpest“ sei eine „Vorform und (ein) Nährboden der Verschwörungsideologie… Der größte Unterschied zwischen beiden: Man muss an keine einzige Verschwörung glauben und kann trotzdem die Denkpest haben. Es reicht aus, wenn man ein derart tiefes Misstrauen entwickelt hat, dass man einfach nichts glaubt. Wenn man mit Denkpest-Betroffenen versucht zu diskutieren, stößt man nicht zwingend auf das geschlossene Weltbild vieler Verschwörungsgläubiger. Häufiger sind gefühlte, diffuse Zweifel, die eher von einer tiefen Verunsicherung herrühren als vom Glauben an eine konkrete Erklärung in Form einer Verschwörung. Vielleicht liegt darin der Millionenerfolg der Denkpest begründet: … nicht an die Herrschaft der Echsenmenschen zu glauben, sondern einfach daran, dass irgendwas ja wohl irgendwie faul sein muss. Weshalb man sich lieber auf sein Bauchgefühl verlässt als auf »offizielle« Informationen. Maßgeblich ist wie bei vielen Radikalisierungsprozessen ein übersteigertes Misstrauen in klassische, redaktionelle Medien. Nicht, dass es dort nicht viel zu kritisieren gäbe. Aber die Denkpest braucht als Grundlage die Überzeugung, dass mehr oder weniger alle Medien absichtlich oder aus Unwissen falsch berichten.“

Hier die ganze Kolumne lesen