Das Ende des amerikanischen Traums – Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – nur eine Illusion

Quelle: IPG – Internationale Politik und Gesellschaft

Von Keeanga-Yamahtta Taylor | 20.05.2020

Das Ende des amerikanischen Traums – Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – nur eine Illusion.

Für einen Großteil der Bevölkerung funktioniert der „American Way of Life“ nicht mehr.

Der Trump-Unterstützer Chris Christie, Ex- Gouverneur von New Jersey, forderte die Amerikanerinnen und Amerikaner am 5. Mai eindringlich auf, wieder zur Arbeit zu gehen und dafür auch Krankheit und tödliche Risiken auf sich zu nehmen. „Natürlich will jeder möglichst viele Menschenleben retten“, erklärte er, „aber einen Teil der Leute müssen wir wieder zur Arbeit gehen lassen.“ Andernfalls werde man den „American Way of Life“ der betreffenden Familien zerstören. Dieser ist jedoch derzeit dabei, sich in ein Schlachtfeld zu verwandeln.

Auf der einen Seite steht die arbeitende Bevölkerung. Weder die Amazon-Lagerarbeiter noch die streikenden Müllmänner in New Orleans sind bereit, jedes Risiko auf sich zu nehmen, um die Gewinne ihrer Arbeitgeber zu sichern. Sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung zu wehren sind Millionen von Arbeitnehmern in den USA gewohnt, und wenn die etablierte Politik ihnen keine Gerechtigkeit oder Entlastung widerfahren lässt, greifen sie mitunter auch zu konfrontativeren Mobilisierungsmöglichkeiten, um ihre Rechte durchzusetzen.

Auf der anderen Seite steht die Republikanische Partei mit der Trump-Administration an der Spitze und fordert die Bundesstaaten in immer kürzeren Abständen auf, die Wirtschaft „wieder aufzumachen“ und die Menschen zurück an die Arbeit zu schicken. Trump räumt zwar ein, dies werde den einen oder anderen „hart treffen“, aber insistiert dennoch: „Wir müssen es schaffen, unser Land zu öffnen.“

Gesundheitsexperten sind da ganz anderer Meinung. Sie fordern eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Tests und eine konsequentere Kontaktverfolgung und Isolation wie in Ländern, die das Coronavirus erfolgreich in Schach halten. Ohne solche Maßnahmen, so sagen Experten voraus, werde die Zahl der Todesfälle steil ansteigen. Nach einem vorsichtigen Prognosemodell wurde im April die entsetzliche Zahl von 60 000 Toten bis August vorausgesagt; inzwischen rechnet man nach demselben Modell mit 147 000 Todesfällen bis August. Kaum gehen in Städten wie New York und Detroit die Infektionszahlen zurück, drohen dort, wo die Beschränkungen gelockert werden, neue Ausbruchswellen.

Dass Dutzende Millionen Menschen noch länger zu Hause bleiben sollen, kann man allerdings nur erwarten, wenn sie nicht um Einkommen, Lebensmittel, sicheren Wohnraum und eine verlässliche Gesundheitsversorgung bangen müssen. Wenn die Menschen nicht zur Arbeit gehen können, ist es schlicht und einfach Aufgabe der US-Bundesregierung, ihnen all das zur Verfügung zu stellen.

Für die Republikaner wäre ein „American Way of Life“ mit umfassenden staatlichen Sozialleistungen noch schlimmer als die Pandemie.

Für die Republikaner wäre ein „American Way of Life“ mit umfassenden staatlichen Sozialleistungen noch schlimmer als die Pandemie. In ihrer Vision der USA ist krasser Individualismus die zentrale Tugend; jeder sorgt für sich selbst, und harte Arbeit wird mit Erfolg belohnt. Das heißt im Umkehrschluss: Wer nicht erfolgreich ist, hat nicht hart genug gearbeitet.

Hinter dieser Vision verbirgt sich die irrige Vorstellung, in den USA gebe es keine Klassenhierarchien. In den Augen der Republikaner und der meisten Mainstream-Demokraten ist Amerika ein sozial durchlässiges Land, in dem der Erfolg jedes Einzelnen davon abhängt, wie stark er sich ins Zeug legt. Dieses zugkräftige Narrativ war für Millionen von Menschen der Grund, in die USA auszuwandern. Doch mit der Lebenswirklichkeit vieler Millionen Menschen im Land hat dieses Bild vom „American Way of Life“ nichts gemein.

In der Regel werden die Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft durch Patriotismus, eine erdrückende Überheblichkeit und den triumphalistischen Anspruch, etwas Besonderes zu sein, kaschiert. Doch die Pandemie rückt die Probleme des Landes ins Rampenlicht und hat nur allzu deutlich gezeigt, wie die überproportional wohlhabende und weiße politische Klasse der USA wochenlang herumeierte, um schließlich ein paar enttäuschende „Rettungspakete“ zu schnüren, die im besten Fall notdürftig den Status quo sichern.

2018 betrug das Medianvermögen eines US-Senators 3,2 Millionen Dollar; ein Mitglied des Repräsentantenhauses besaß durchschnittlich 900 000 Dollar. Die gewählten Volksvertreter stimmten für einmalige Nothilfe-Schecks über 1 200 Dollar, als ließe sich damit auch nur annähernd der Lebensunterhalt von Arbeitnehmern sichern, die im Schnitt 61 973 Dollar verdienen, mittlerweile seit fast zwei Monaten zu Hause bleiben sollen und nicht zur Arbeit gehen können. So kam es, dass inzwischen von zwei Pandemien die Rede ist.

Die Krise beleuchtet schlaglichtartig den krassen Klassenunterschied, der die US-Gesellschaft spaltet, die zudem mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit durchsetzt ist. Afroamerikaner sind durch die Krankheit überproportional stark gefährdet, und es kursieren erschreckend viele Videoaufnahmen, die zeigen, wie brutal die Polizei gegen schwarze Menschen vorgeht, die keine Atemschutzmaske tragen oder sich nicht an die Abstandsregeln halten, während weiße Mittelklasse-Amerikaner bei vergleichbaren Verstößen unbehelligt bleiben. In New York sind 92 Prozent aller Menschen, die wegen Verletzung der Abstandsregeln verhaftet werden, und 82 Prozent derjenigen, die deswegen ein Bußgeld zahlen müssen, Schwarze oder Latinos.

In ihrem Selbstbild ist die amerikanische Gesellschaft frei von starren Klassengegensätzen, doch in Wahrheit gibt es ein erdrückendes Maß an Leid, Not und Hunger.

In ihrem Selbstbild ist die amerikanische Gesellschaft frei von starren Klassengegensätzen, doch in Wahrheit gibt es ein erdrückendes Maß an Leid, Not und Hunger. Tafeln und Essensausgabestellen im ganzen Land berichten von außerordentlicher Nachfrage und rücken das Bild eines Landes zurecht, in dem angeblich allgemeiner Überfluss herrscht. An der Küste von New Jersey hat eine Tafel einen SMS-Service eingerichtet, damit die Bedürftigen ihr Essen von anderen unbemerkt abholen können.

Andernorts lassen sich die Krisenzeichen, die an die Große Depression erinnern, nicht mehr verbergen. Im kalifornischen Anaheim, wo das Disneyland zu Hause ist, bildete sich vor einer Ausgabestelle, an der kostenlose Lebensmittel verteilt wurden, in zwei Richtungen eine 800 Meter lange Autoschlange. In San Antonio warteten 10 000 Pkw stundenlang vor einer Tafel. Trotzdem sperren sich die Republikaner dagegen, die Vergabe von Lebensmittelgutscheinen auszuweiten. Unterdessen greift der Hunger immer mehr um sich. Fast jedes fünfte Kind unter 12 Jahren hat nicht genug zu essen.

Dieser „Way of Life“ könnte auch schon bald auf Massenobdachlosigkeit hinauslaufen. Nach den ersten fünf Apriltagen hatten in den USA 31 Prozent aller Mieter ihre Miete nicht gezahlt. Im Mai zahlten zwar wieder mehr, doch wenn Millionen Menschen ihren Job verlieren, ist fraglich, wie viele dies auch weiterhin tun werden. 43 Millionen US-Haushalte wohnen zur Miete, aber staatliche Hilfen für Menschen, die ihre Miete nicht mehr aufbringen können, gibt es nicht. Da die Räumungsfrist oft nur wenige Wochen beträgt, ist es für Dutzende Millionen Amerikaner vom sicheren Wohnraum zur Obdachlosigkeit nur ein kleiner Schritt.

Viele Mandatsträger in der Republikanischen Partei sind gut abgesichert, weil sie Zugang zu Covid-19-Tests und qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung haben und über ein stattliches Vermögenspolster verfügen. Gleichzeitig verlangen sie von anderen, dass sie das „Risiko“ der Rückkehr an den Arbeitsplatz eingehen und mit diesem notwendigen patriotischen Akt die Wirtschaft wiederbeleben.

Während die amerikanische Wirtschaft und der „Finanzsektor“ mit Billionen Dollar aus staatlichen Hilfspaketen bedacht wurden, bekamen die Bürger nur magere Direktzahlungen für Lebensmittel, Miete oder medizinische Hilfe. Das Sicherheitsnetz ist so dünn und löchrig, dass dem Durchschnittsamerikaner nichts anderes übrig bleibt, als wieder zur Arbeit zu gehen.

Das Sicherheitsnetz ist so dünn und löchrig, dass dem Durchschnittsamerikaner nichts anderes übrig bleibt, als wieder zur Arbeit zu gehen.

Zumindest für einen Teil der Mandatsträger gehört es einfach zum „American Way of Life“, dass die Arbeitnehmer stets arm genug bleiben, damit die „unverzichtbaren“ Arbeitskräfte jeden Tag zur Arbeit erscheinen. Statt für angemessene Löhne, Gefahrenzulagen, umfassende Schutzausrüstung und die einfachsten Arbeitsschutzmaßnahmen zu sorgen, nutzen die gewählten Volksvertreter die Drohkulisse von Hunger und Wohnungsverlust, um die Arbeiterschaft bei der Stange zu halten.

In der Fleischverpackungsindustrie zum Beispiel gibt es keinerlei Entscheidungsspielräume, weil die dortigen Arbeitsplätze unbegreiflicherweise als lebenswichtig eingestuft werden, als wäre ohne Fleischkonsum kein Leben möglich. Die Arbeitskräfte in dieser Branche – vor allem Einwanderer und Schwarze – werden kaum besser behandelt als die Schlachtkörper, die sie verarbeiten, und sind absolut austauschbar. Tausende werden positiv getestet, aber die Betriebe laufen weiter und gewährleisten nach Aussagen von Beschäftigten nur das absolute Minimum an Schutzmaßnahmen. Die unhaltbaren Zustände in den Fleischverpackungsfabriken kann man daran ablesen, dass bei 145 Fleischbeschauern Covid-19 diagnostiziert wurde; drei von ihnen starben.

Ein weiteres krasses Beispiel dafür, wie Arbeitnehmer zur Rückkehr in ein unsicheres Arbeitsumfeld gezwungen werden, lieferten neulich Lindsey Graham und Tim Scott. Die beiden Senatoren aus South Carolina stellten sich lautstark gegen die temporäre Aufstockung des Arbeitslosengeldes um 600 Dollar. Scott nannte die Erhöhung einen „Fehlanreiz“, der die Menschen vom Arbeiten abhalte, und monierte ebenso wie Graham, manche Beschäftigte würden dadurch mehr bekommen als ihren normalen Lohn. Allerdings ist das ja wohl nicht den Beschäftigten anzulasten, sondern sagt eher Einiges über deren Arbeitsverträge und Unternehmen aus.

Es ist nicht das erste Mal, dass Südstaatenpolitiker sich über Staatshilfen beschweren, weil sie dem perversen „Angewiesensein“ der Armen und Arbeiter auf Niedriglohnjobs den Boden entziehen könnten. Während der Großen Depression machten führende Politiker in den Südstaaten gegen neue soziale Sicherungssysteme mobil, weil sie die Befürchtung hatten, sie würden „unsere gewohnte Zivilisation“ aushöhlen, wie eine Zeitung in Charleston, South Carolina, 1934 berichtete.

Besonders unverblümt formulierte es in den frühen 1960er-Jahren ein Amtsleiter in Alabama: Er forderte mit Nachdruck, Sozialleistungen für Afroamerikaner müssten niedriger sein, weil „Neger schlicht und einfach nicht arbeitswillig“ seien. Die Logik dahinter: Wenn Schwarze fünf Cent bekommen, freuen Weiße sich umso mehr, dass sie zehn Cent bekommen. Dabei waren zu dieser Zeit anderswo ohnehin schon deutlich höhere Löhne üblich. Bis heute ist das Lohnniveau im Süden durchweg niedriger als in den übrigen USA.

In der Fleischverpackungsindustrie gibt es keinerlei Entscheidungsspielräume, weil die dortigen Arbeitsplätze unbegreiflicherweise als lebenswichtig eingestuft werden, als wäre ohne Fleischkonsum kein Leben möglich.

Fortschritt auf Amerikanisch bedeutet, dass inzwischen ein afroamerikanischer Senator wie Tim Scott aus South Carolina solche Standpunkte vertritt. Nicht geändert hat sich allerdings in all den Jahren, dass das Klagen über Sozialleistungen ein wesentliches Instrument zur Disziplinierung der Arbeitnehmer ist. Für Disziplin sorgt in den USA immer auch eine niedrige und uneinheitliche Arbeitslosenunterstützung, kombiniert mit krasser Benachteiligung. Beides führt dazu, dass die amerikanische Erwerbsbevölkerung bei niedrigem Sozialleistungsniveau im Verhältnis zu vergleichbaren Ländern extrem produktiv ist.

Um genau dieses Kernproblem geht es bei dem Konflikt, ob das Land wieder geöffnet werden soll oder die Menschen weiterhin zu Hause bleiben dürfen, um das Virus zurückzudrängen. Voraussetzung für den Erfolg von Social Distancing und Schließungen wäre gewesen, dass man allen Arbeitnehmern die nötigen Mittel zur Verfügung stellt, damit sie sorgenfrei zu Hause abwarten können, bis die Pandemie vorbei ist. Stattdessen wurden sie vor die Wahl gestellt, ob sie lieber hungern und obdachlos sein, sich den Tod holen oder sich am Arbeitsplatz anstecken wollen.

Dies machte auf schmerzliche Weise die Gouverneurin von Iowa, Kim Reynolds, deutlich, als sie bekannt gab, dass Iowa zum Normalbetrieb zurückkehrt und beurlaubte Beschäftigte im öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft, die aus Angst vor Ansteckung der Arbeit fernbleiben, ihre bisherige Arbeitslosenunterstützung verlieren. Sie stufte die Entscheidung dieser Beschäftigten als „selbstgewählte Kündigung“ ein.

Das Arbeits- und Familienministerium im Bundesstaat Ohio hat die Arbeitgeber sogar aufgefordert, Beschäftigte zu melden, die sich wegen der Pandemie weigern, zur Arbeit zu gehen. Der Hintergrund ist, dass die staatlichen Mittel zur Neige gehen, weil immer mehr Menschen Hilfsleistungen beantragen. Verschärfend kommt hinzu, dass die Trump-Administration sich sträubt, den Regierungen der Bundesstaaten finanziell aus der Klemme zu helfen. Dass die US-Regierung auf der einen Seite die Unternehmen mit Billionen bedenkt und sich auf der anderen Seite dagegen sperrt, den Bundesstaaten mit Geld auszuhelfen, gehört offenbar ebenfalls zum „American Way of Life“, der an die Rettung der Finanzbranche im Jahr 2008 erinnert.

Der Status quo ist unhaltbar.

Nicht alles kann man der Trump-Administration anlasten, wenngleich nicht von der Hand zu weisen ist, dass sie die Lebensbedingungen für Millionen von Menschen verschlechtert hat. Es rächt sich zurzeit eine Politik, die seit Jahrzehnten leugnet, dass das Land ein soziales Sicherungsnetz braucht, und die ganze Zeit auf Wachstum spekulierte, damit die Arbeitnehmer in den USA sich gerade so weit über Wasser halten konnten, dass sie sich nicht ernsthaft beschweren oder auf die Barrikaden gehen.

Die Attacken gegen Sozialleistungen, Lebensmittelgutscheine, den sozialen Wohnungsbau und die Programme, mit denen man die schlimmsten Folgen der Katastrophe abfedern könnte, gehen parteiübergreifend weiter. Die lautstarken Lobeshymnen auf den Demokraten Andrew Cuomo, Gouverneur des Bundesstaats New York, als positive Gegenfigur zu Präsident Trump, übertönen die Proteste gegen die 400-Millionen-Dollar-Budgetkürzung, die derselbe Cuomo den New Yorker Krankenhäusern zumutete, während das Virus in der Stadt wütete.

In den kommenden Monaten werden noch etliche weitere Demokraten die Axt anlegen, weil ihnen finanziell in nie dagewesenem Maß das Wasser bis zum Hals steht. Mit weiterem Fortschreiten der Krise – die Arbeitslosenzahl hat die astronomische Dimension von 33 Millionen Menschen erreicht, während den Bundesstaaten das Geld ausgeht und sie darüber nachdenken, Medicaid (das staatliche Gesundheitsprogramm für Mittellose) und andere ohnehin dürftige Sozialleistungen zusammenzustreichen – könnte die politische Klasse angesichts des Riesenbedarfs an staatlicher Unterstützung ihre Scheu vor solchen Eingriffen zunehmend verlieren.

Als Amerika sich in einem langen und holprigen Prozess von der Großen Rezession erholte, führte die ungleiche Vermögensverteilung dazu, dass die Arbeitnehmer aufbegehrten und sich organisierten. Die gegenwärtige Krise ist für weite Teile der Arbeiterschaft schon jetzt tiefer und viel desaströser als alles, was wir seit den 1930er-Jahren erlebt haben. Der Status quo ist unhaltbar.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

(c) The New York Times