Umfrage „The Berlin Pulse“ (Körber-Stiftung) zur deutschen Sicherheitspolitik

Deutsche Sicherheitspolitik Militärische Führungsrolle unerwünscht

Trotz „Zeitenwende“: Eine große Mehrheit der Deutschen lehnt laut einer Studie eine militärische Führungsrolle in Europa ab. Zudem befürchten viele, dass sich der russische Krieg gegen die Ukraine auf NATO-Gebiet ausweitet.

Von Kai Küstner, ARD-Hauptstadtstudio

Sind die unverhohlenen Atomdrohungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Bluff oder bitterer Ernst? Das ist seit Wochen eine viel diskutierte Frage auch unter westlichen Militärexperten. Die halten fast übereinstimmend einen russischen Atomschlag für weiterhin eher unwahrscheinlich. Bei vielen Menschen in Deutschland lösen Putins Drohungen aber durchaus Befürchtungen aus: Mehr als zwei Drittel, nämlich 69 Prozent der Befragten, sorgen sich vor einem russischen Atomschlag: 31 Prozent machen sich „sehr starke oder starke“, 38 Prozent immerhin „ein wenig“ Sorgen. Das ist ein Ergebnis der Umfrage „The Berlin Pulse“ im Auftrag der Körber-Stiftung.

Wie sehr der russische Angriffskrieg die Deutschen aufwühlt, zeigen noch zwei andere Werte: Eine überwältigende Mehrheit der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger, nämlich 80 Prozent, sorgt sich um eine Ausweitung des Krieges auf das NATO-Bündnisgebiet, etwa auf das Baltikum oder Polen. Gleichzeitig wird die Ukraine derzeit als die bei weitem größte außenpolitische Herausforderung gesehen, dieses Thema rangiert vor den Bereichen Energiekrise, Klima und Russland. Wohingegen Migration im Gegensatz zu den Vorjahren in der Wahrnehmung der Deutschen kaum eine Rolle zu spielen scheint. 

Bundeswehr ja, Führungsrolle nein

Dies alles bedeutet jedoch nicht, dass sich die Menschen hierzulande mehrheitlich ein stärkeres Engagement der Bundesrepublik wünschen: Infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte Bundeskanzler Olaf Scholz bereits wenige Tage nach der Invasion von einer „Zeitenwende“ gesprochen – einem tiefen Einschnitt, was sowohl den Umgang mit Moskau als auch die Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit angeht.

Bei der besseren Ausrüstung der Bundeswehr geht zwar eine Mehrheit auch langfristig mit: 60 Prozent befürworten dauerhaft höhere Verteidigungsausgaben. Aber: Eine militärische Führungsrolle Deutschlands in Europa lehnen zwei von drei Befragten, nämlich 68 Prozent ab. „Die Bundeswehr ist bei Weitem noch nicht in die Mitte unseres Landes gerückt“, diagnostiziert Julia Ganter von der Körber-Stiftung.

Trotz der veränderten Weltlage wünschen sich weiterhin etwa 52 Prozent der Befragten eine internationale Zurückhaltung Deutschlands. Seit 2017 gibt es bei diesem Wert kaum Bewegung. Wenn überhaupt, dann solle die Bundesregierung ihr diplomatisches Gewicht in die Waagschale werfen, weniger ihr militärisches. Das deckt sich mit dem jüngsten ARD-DeutschlandTrend, demzufolge eine Mehrheit der Deutschen stärkere diplomatische Anstrengungen der Bundesregierung zur Beendigung des Krieges befürwortet.

Die „Zeitenwende“ in den Köpfen der Menschen zu verankern und Deutschland zu einer Führungsmacht in Europa zu machen, wie es Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in einer Grundsatzrede vor gut zwei Monaten forderte, wird also Zeit brauchen.

Bestnoten für die transatlantischen Beziehungen

Was Russlands Machthaber Putin mit seinem Angriffskrieg zweifellos bewirkt hat: Er hat den Westen in der Wahrnehmung der Deutschen enger zusammengeschweißt. Die USA werden von 81 Prozent der Befragten als Partner beim Schutz und der Verteidigung Europas gesehen, deutlich mehr als im Vorjahr. Dass die Deutschen den transatlantischen Beziehungen derzeit Bestnoten verleihen, die besten seit Beginn der Befragungen, dürfte aber auch an US-Präsident Joe Biden liegen: Während der Trump-Jahre befanden sich die Werte auf einem Tiefpunkt.

Die Wahrnehmung Russlands hingegen hat sich klar verschlechtert – und zwar kontinuierlich in den vergangenen Jahren. Den eigentlichen Einschnitt bewirkten aber – wie die Auswertung der Studie ergab – der Giftanschlag auf den Kreml-Gegner Alexej Nawalny und die Massenproteste in Belarus des Jahres 2020, und gar nicht so sehr der Angriff auf die Ukraine. Durchaus bemerkenswert aber auch: Noch immer sehen 75 Prozent der Befragten in Russland eine geringe oder gar keine militärische Bedrohung.

Die jährlich erscheinende Publikation „The Berlin Pulse“ thematisiert die drängendsten aktuellen außen- und sicherheitspolitischen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven. Zentraler Bestandteil ist eine aktuelle Meinungsumfrage zu den außenpolitischen Positionen der Deutschen. Für die repräsentative Umfrage wurden von Kantar Public 1088 Wahlberechtigte ab 18 Jahren in Deutschland im Zeitraum vom 2. bis 11. August 2022 befragt.