Die geopolitischen Konsequenzen der Eskalation des Ukrainekonflikts

Quelle: Website Rosa-Luxemburg-Stiftung

Ingar Solty

25.02.2022 Krieg / Frieden – Osteuropa – Ukraine-Krise

Die geopolitischen Konsequenzen der Eskalation des Ukrainekonflikts (gekürzte Version des Artikels von Ingar Solty)

Für alle Menschen, die in Europa an Frieden und Sicherheit interessiert sind, in der Ukraine, in Osteuropa, in Russland und in Westeuropa war der 22. Februar 2022 ein rabenschwarzer Tag. Noch schwärzer ist der 24. Februar, da Russland einen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland Ukraine begonnen hat, der durch nichts gerechtfertigt werden kann. Russland muss diesen Krieg sofort und ohne Bedingungen beenden, um den Weg zurück an den Verhandlungstisch freizumachen.

Mit der Bombardierung von Zielen in der Ukraine und dem Einmarsch von Bodentruppen hat Russland sein volles Aggressionspotenzial gezeigt und das Völkerrecht gebrochen. Die Leidtragenden sind die Ukrainer*innen, die sich jetzt in einer Kriegssituation wiederfinden, die höchstwahrscheinlich sehr große Fluchtbewegungen aus allen Landesteilen hervorrufen wird. Die Eskalation des Konflikts durch Russland ist unerträglich und durch nichts zu rechtfertigen.

Für Frieden und Sicherheit der Menschen in der Ukraine, für die territoriale Integrität des Landes hätte es friedliche Lösungen gegeben. Es hätte perspektivisch auch bessere Lösungen für die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands gegeben – und auch für Frieden und Sicherheit in ganz Europa. Was jetzt aller Voraussicht nach passieren wird, ist weder im Interesse der ukrainischen noch der russischen noch der westeuropäischen Zivilbevölkerung – und, denn auch ihr Staat ist ein ganz wesentlicher Akteur, genauso wenig im Interesse der US-amerikanischen Zivilbevölkerung. …

Die aktuellen Entwicklungen in Osteuropa haben mindestens sechs mittel- bis langfristige geopolitische Konsequenzen, die besorgniserregend sind.

Erstens: Die Ukraine ist durch das Zerren aus West und Ost, das lange vor 2014 und lange vor der Krim-Annexion durch Russland begann, endgültig zerrissen. Auch der Minsk-II-Prozess, der auf einen innerukrainischen Waffenstillstand, Dialog zwischen Kiew und den Sezessionsgebieten und einen Autonomiestatus in einem territorial geeinten Staat abzielte und der von der Regierung in Kiew mit Verweis auf die «Illegitimität» der «Volksrepubliken» blockiert wurde, ist damit Geschichte. Das Gleiche gilt für das Normandie-Format, das heißt die Verhandlungen zwischen der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland, die als Versuch gewertet werden können, als Europäer*innen selbst und ohne die USA über unser eigenes Schicksal zu entscheiden.

Zweitens: Mit der nun endgültigen Spaltung der Ukraine gehen in einem weiteren osteuropäischen Land mit junger Nationalstaatlichkeit die gelebte Multiethnizität und Multikulturalität nun dauerhaft verloren, sodass sich wohl auf beiden Seiten die nationalistische Homogenisierungspolitik verschärfen wird, die Familien und ihre jeweilige multiethnische, multilinguale und auch geschichtspolitisch und ideologisch diverse Geschichte  zerreißt. Dass bei dieser Politik auf beiden Seiten wohl auch Antisemitismus und Antiziganismus in irgendeiner Form eine Rolle spielen werden, ist naheliegend.

Drittens drohen damit auch Spillover-Effekte in anderen jungen Nationalstaaten in Osteuropa (wie etwa in Ungarn mit den dortigen großungarischen Träumen in Bezug auf die Auslandsungarn in Rumänien, der Slowakei usw.). Denn wenngleich es auch in den russisch-sezessionistischen Gebieten Abchasien und Südossetien keine formelle Einverleibung durch den russischen Staat gab und diese wohl auch jetzt nicht zu erwarten ist , sind in dieser spezifischen Form der Neugrenzziehung durch Sezessionen Spillover-Effekte in anderen Regionen der postsowjetischen Staaten, ebenso wie in der restlichen Welt, zu befürchten, die viel Gewalt und zivilgesellschaftliches Leid mit sich bringen dürften.

Viertens: Die Rede Putins vom 21. Februar zeigt, dass man auch in Russland die Hoffnung auf das «gemeinsame Haus Europa» aufgegeben hat. Die im Januar 2022 erhobenen Forderungen der russischen Regierung an den Westen, zurückzukehren zur Situation nach 1991 und dem Versprechen der USA, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, keine Truppen und auch keine Atomwaffen (mit fünfminütiger Reaktionszeit) an der russischen Grenze zu stationieren, waren angesichts der Kräfteverhältnisse im Westen und der in fünf NATO-Osterweiterungsrunden vom Westen geschaffenen Fakten illusorisch. In den letzten 25 bis 30 Jahren ist mit der NATO-Osterweiterung, dem NATO-Krieg gegen Serbien-Montenegro, dem Irakkrieg und dem Libyenkrieg einerseits und der Krim-Annexion, der Legitimierung der Separatistengebiete im Donbass und dem aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine andererseits – von beiden Seiten so viel Porzellan zerschlagen worden, dass das gegenseitige Vertrauen nachhaltig erschüttert worden ist. Die falsche Politik muss nun die Zivilbevölkerung in der Ukraine, in Osteuropa, in Russland, in Westeuropa und in den USA ausbaden.

In einem neuen Zeitalter der Großmachtrivalität droht nun ein neuer «Eiserner Vorhang», der von beiden Seiten gestählt wird, der mitten durch Europa verläuft und der die gefährliche Blockbildung in «West» (bis zur Ukraine) einerseits und ein von China und Russland angeführtes Bündnis «Ost» vertieft. Damit aber wird auch das globale Wettrüsten weitergehen, das nicht nur reale Kriegsgefahren mit sich bringt, sondern auch Ressourcen bindet, die zur Bearbeitung der globalen Menschheitsfragen – des Hungers und der sozialen Frage, der laufenden Klimakatastrophe – dringend gebraucht werden.

Fünftens: Russland hat mit seinem Angriff endgültig das «Budapester Memorandum» von 1994 zerstört, in dem sich Russland im Gegenzug für den ukrainischen (sowie kasachischen und belarussischen) Verzicht auf (sowjetische) Atomwaffen dazu verpflichtet hatte, die territoriale Integrität der Ukraine (und der der anderen beiden Staaten) zu respektieren. In der Ukraine werden infolgedessen auch die teilweise agrarischen Westoligarchen gestärkt werden, die aus finanziellem Eigeninteresse eine stärkere Bindung an die EU und den Westen wollen, weil sie im Gegensatz zu den binnenwirtschaftlich- bzw. russlandorientierten, industriellen Ostoligarchen durch eine solche nichts zu verlieren, sondern viel zu gewinnen haben.

Womöglich und verständlicherweise wird der Anteil der Bevölkerung steigen, der einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft stellen will. Bis 2014 war nur ein kleiner Teil der Bevölkerung dafür, in den letzten Jahren stieg die Zustimmung für einen Beitritt zur NATO und ist spätestens jetzt eine Mehrheitsmeinung. Die ukrainische Verfassung sowie die NATO-Statuten stehen bzw. standen einer solchen Mitgliedschafts-Perspektive bislang zwar im Weg: Die ukrainische Verfassung schrieb dem Land bis 2019 einen neutralen Status vor[2] und die NATO nimmt Länder, die sich im Konfliktfall befinden, nicht auf. Nichtsdestotrotz dürfte dies die Richtung sein, in die die dominanten Westeliten und die Bevölkerung der (West-)Ukraine angesichts der Eskalation des Konflikts drängen werden.

Eine solche Perspektive ist aus (west-)ukrainischer Sicht natürlich absolut nachvollziehbar. Die osteuropäischen Staaten haben genauso wie Russland legitime Sicherheitsinteressen, die auch auf historischen Erfahrungen fußen. Gerade in Deutschland, das die osteuropäischen Länder im 20. Jahrhundert mehrfach – 1917 ff., 1939, 1941 – überfallen, geteilt und kolonisiert hat und auch maßgeblich an der dreifachen polnischen Teilung im 18. Jahrhundert beteiligt gewesen ist, müssen sie sensibel behandelt werden. Dazu gehört aber eben auch die Erkenntnis, dass die kleinen osteuropäischen Länder ihre eigenen Sondererfahrungen mit Russland gemacht haben, das von den polnischen Teilungen bis zum Hitler-Stalin-Pakt (und dem polnischen Trauma Katyn) ebenfalls offensiv nach Westen agierte und Teile reannektierte, die man mit dem einseitigen Friedensschluss von Brest-Litowsk mit erheblichen Gebietsabtretungen 1917 durch Lenin verloren hatte. Die Sicherheitsinteressen nicht nur Russlands sind legitim, sondern – das müsste spätestens jetzt klar sein – auch die Sicherheitsinteressen der osteuropäischen Staaten, von denen jetzt eines von russischem Boden aus angegriffen wird.

Nichtsdestotrotz wäre ein NATO-Beitritt der Ukraine mit Blick auf Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Hoffnung auf ein atomwaffenfreies Europa eine Katastrophe, denn er würde im schlimmsten Fall bedeuten, dass sich in der jetzigen Ukraine die westlichen NATO-Atommächte und die Atommacht Russland direkt gegenüberstehen.

Die bündnispolitische Souveränität der Ukraine wird vom Westen zu Recht angeführt. Die Sicherheit der Ukraine (oder anderer osteuropäischer Staaten, wie der baltischen) war und ist nicht ohne ukrainische Beteiligung in Moskau oder Washington auszuhandeln. Aber: Es ist anzumerken, dass es auch der Westen, wenn es seinen geopolitischen Interessen entgegenlief, mit der bündnispolitischen Souveränität oft nicht ernstnahm – etwa wenn das revolutionäre Kuba gegen US-amerikanische Invasionen wie die in der Schweinebucht vom April 1961 im Folgejahr die Sowjetunion als ihre Schutzmacht gegen US-imperialistische Gewaltpolitik ersuchte oder wenn der venezolanische Staat sich in der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre bündnispolitisch China, Russland und dem Iran annäherte, worauf die USA mit Destabilisierungs-, Regime-Change-Politik und Invasionsplänen (von Präsident Donald Trump) reagierten.

So unwahrscheinlich nach der derzeitigen Eskalation die Perspektive einer kollektiven europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands und mit wechselseitigen Sicherheitsgarantien geworden ist, umso alternativloser scheint diese Perspektive trotzdem zu sein, wenn man die frontale Konfrontation zwischen der NATO und einem russisch-chinesischen Wirtschafts- und Militärblock mit all ihren Konsequenzen auch für die großen Menschheitsprobleme – von der Friedens- über die soziale Frage bis hin zur Klimakatastrophe – verhindern will.

Sechstens: Deutschlands Versuch, durch den Verzicht auf (Offensiv-)Waffenlieferungen an die Ukraine und die Betonung des Normandie-Formats eine Vermittlerrolle spielen zu können, ist leider ebenfalls gescheitert.

Im Ergebnis bekommen auch die USA das, was sie als geopolitische Hauptziele lange verfolgt haben: zum einen die Schwächung Russlands – durch Sanktionen, durch das (potenzielle) Ende von Nord Stream 2 und durch US-Energieexporte nach Westeuropa – und zum anderen die energie- und damit geopolitische Abhängigkeit Deutschlands und Westeuropas von den USA. Diese Abhängigkeit ist eines der effektivsten Druckmittel, Deutschland und die westeuropäischen NATO-Staaten zu der von den USA avisierten transatlantischen Arbeitsteilung im imperialen «Management» des globalen Kapitalismus zu bringen, in der «wir» den USA mit mehr «militärischem Engagement» von Osteuropa über den Mittleren Osten bis nach Nordafrika den Rücken freihalten sollen, damit sie ihre schwindenden Machtressourcen voll und ganz auf ihren Systemkonflikt mit China richten können. Die Aussicht auf eine «strategischen Autonomie» Europas ist damit deutlich geschwächt.

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