Die NATO, Russland und der jahrzehntelange Weg in die Eskalation

IMI-Analyse 2022/06 Der NATO-Prolog des Ukraine-Krieges

Die NATO, Russland und der jahrzehntelange Weg in die Eskalation von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 3. März 2022

Die Grundlage dieses Beitrags ist ein Artikel, der zuerst am 25. Januar 2022 als IMI-Analyse 2022/02 erschien und anschließend mehrmals aktualisiert wurde. Im Lichte der jüngsten Ereignisse hat er sich so stark verändert, dass wir ihn nun unter neuem Titel grundlegend überarbeitet und mit Fokus auf die NATO-Politik im Vorfeld des scharf zu veruteilenden russischen Angriffs auf die Ukraine veröffentlichen. Für Beiträge, die sich mit den aktuellen Entwicklungen beschäftigen möchten wir auf unsere IMI-Sonderseite zum Ukraine-Krieg verweisen).

Ohne lange darum herumzureden: Die russische Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk am 21. Februar 2022 ist ein klarer Bruch des Völkerrechtes. Der anschließende russische Angriff auf die Ukraine ist unabhängig davon, dass auch der Westen an der Misere einen erheblichen Anteil hat, durch nichts zu rechtfertigen, wie auch in zahlreichen Stellungnahmen der Friedensbewegung klar zum Ausdruck gebracht wurde. Ganz abgesehen von den Folgen für die Ukraine selbst liefert Russland durch sein Agieren der NATO auch zusätzlichen Rückenwind für genau die Politik, die es angeblich eigentlich verhindern will: „Jetzt gibt es für die Nato keinen Grund mehr zur Zurückhaltung“, titeln jetzt die üblichen Verdächtigen, in diesem Fall die Welt. Die Tatsache, dass sich die NATO bisher keineswegs in Zurückhaltung geübt, sondern im Gegenteil die Eskalationsspirale Jahr um Jahr weiter befeuert hat, wird nun hierzulande leider deutlich schwerer zu vermitteln sein.

Dennoch ist es weiter wichtig, diese Vorgeschichte nicht unter den Teppich zu kehren, weshalb dieser Beitrag das Handeln der NATO bis zum 17. Dezember 2021 in den Blick nimmt. An diesem Tag übermittelte Russland Forderungen zur Entschärfung der Lage, die auf insbesondere drei Kritikpunkte hinausliefen: Erstens die sukzessive Aufrüstung und Eingliederung weiterer osteuropäischer Staaten in die NATO, insbesondere der Ukraine; zweitens die Sorge vor einer Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Osteuropa; und drittens vor allem die dauerhafte, aber auch die temporär im Zuge immer häufigerer Manöver erfolgende Ansammlung massiver NATO-Truppenverbände an seinen Grenzen.

Bei näherer Betrachtung lässt sich kaum abstreiten, dass alle drei russischen Kritikpunkte – nicht die daraus gezogenen Schlussfolgerungen! – nachvollziehbar sind. Dies ist von großer Bedeutung: Nur wer versteht, wie der Weg in diese Katastrophe verlief, wird auch einen Weg aus ihr heraus finden. An ernsthaften Verhandlungen über eine Sicherheitsarchitektur, die die Interessen aller Akteure berücksichtigt, führt perspektivisch kein sinnvoller Weg vorbei. Die aktuell bevorzugten Alternativen – Sanktionen, Drohungen, Aufrüstung – sind es, die uns erst in diese Lage gebracht haben, es ist höchste Zeit, eine andere Richtung einzuschlagen.

In einer Stellungnahme verschiedener FriedensforscherInnen des Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) heißt es dazu: „Friedens- und Sicherheitspolitik, die an einer gerechten, stabilen und langfristigen Ordnung interessiert ist, beginnt dort, wo die Interessen, Ängste und Befindlichkeiten der anderen Seite ernst genommen werden. Das bedeutet nicht, dass alle Ansprüche und Behauptungen gerechtfertigt sind. Und es bedeutet schon gar nicht, völkerrechtswidriges Verhalten zu entschuldigen oder zu akzeptieren. Aber es bedeutet, nicht nur die eigene nationale Sicherheit als alleinigen Maßstab zu nehmen, sondern gleichsam systemisch zu denken und die Herstellung von Stabilität, Sicherheit und Frieden als gemeinsame Herausforderung zu begreifen. […] Das Ende des Friedens darf nicht das Ende der Friedenspolitik sein. Im Gegenteil muss er der Beginn eines neuen Nachdenkens über die Zukunft einer europäischen und globalen Friedensordnung sein.“