Geldpolitik der EZB: Zinsen rauf, Verstand runter

Quelle: Website Relevante Ökonomik

Heiner Flassbeck28. Oktober 2022

Zinsen rauf, Verstand runter

Die Europäische Zentralbank hat sich offenbar entschlossen, den restriktiven Pfad, auf den sie im Sommer eingeschwenkt ist, mit Gewalt durchzuziehen – selbst wenn jeden Tag deutlicher wird, dass er falsch ist. Auch große, auf Rationalität aufgebaute Institutionen wie die EZB können ein solch kindisches Trotzprogramm fahren, wenn ihre Führung intellektuell überfordert ist und sich einmal dem politischen Druck vollständig ergeben hat. Christine Lagarde ist zu Recht zum Symbol dieses Versagens geworden, weil sie mangels Sachkenntnis nicht in der Lage war und ist, dem primitiven öffentlichen Verständnis von Inflation und Geldpolitik auch nur das Geringste entgegenzustellen.

Insgesamt kann man schon jetzt konstatieren, dass die Politik im weitesten Sinne beim zweiten Auftreten von Preissteigerungen, die aus einer Kombination von globalen Angebotsschocks und Spekulation herrühren, mindestens so hilflos ist wie beim ersten Mal in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Natürlich werden Politiker ausgetauscht und eher per Zufall gewählt, erschreckend ist dennoch die völlige Unfähigkeit des Systems, aus einmal gemachten Erfahrungen zu lernen.

Was muss man wissen?

Die wenigen logischen Schritte, die man braucht, um die fatalen Fehler zu erkennen, die derzeit gemacht werden, müsste eigentlich jeder Ökonomikstudent im dritten Semester problemlos aufsagen können. Angebotsschocks schaffen in den Ländern, die vorwiegend Konsumenten von Rohstoffen sind, ein Verteilungsproblem und ein Nachfrageproblem. Insgesamt steht für die Volkswirtschaft weniger Einkommen zur Verfügung, das konsumiert oder investiert werden könnte. Das Verteilungsproblem können die Gewerkschaften nicht mit Gewalt zu ihren Gunsten lösen, weil die Arbeitgeber (wie hier z. B. erklärt) immer am längeren Preishebel sitzen. Die Finanzpolitik kann allerdings einiges tun, um den Verteilungskonflikt zu entschärfen.

Das Verteilungsproblem kann natürlich auch die Geldpolitik nicht lösen, sie kann es allerdings dramatisch verschärfen, wenn sie (wie die EZB derzeit) unterstellt, die Gewerkschaften würden auf jeden Fall unvernünftig sein und es würde ihnen gelingen, aus einem temporären Preisschock eine dauernde Inflation zu machen. Denn sie erhöht die Zinsen, ohne den Tarifpartnern (und der Finanzpolitik!) eine Chance zu geben, eine vernünftige Lösung des Verteilungsproblems zu finden. Das ist einfach dumm.

Es ist besonders dumm, wenn man ausblendet, dass derzeit in der EWU die Zeichen eindeutig auf Rezession stehen. Der Weg, auf dem eine Notenbank Preissteigerungen dämpfen kann, läuft ja immer über eine Schwächung der Investitionstätigkeit durch hohe Zinsen, die eine rezessive Wirkung hat und die Lohnpolitik bremst. Folglich glaubt die Notenbank implizit, dass eine Rezession eine bremsende Wirkung auf Lohnforderungen und Lohnabschlüsse hat, tut aber gleichzeitig so, als ob die schon im Gange befindliche Rezession keine Wirkung auf die Lohnverhandlungen hätte.

Die Position der Notenbank ist verantwortungslos, da es erste und klare Anzeichen dafür gibt, dass unter rezessivem Druck vernünftige Lösungen der Tarifpartner möglich sind. In der deutschen Chemieindustrie gibt es einen Abschluss, der ohne Zweifel eine inflationäre Entwicklung im Sinne einer Preis-Lohn-Preisspirale ausschließt (bei regulären Lohnerhöhungen von maximal 3,25 Prozent für jedes der nächsten beiden Jahre) und gleichzeitig für einen gewissen Einkommensausgleich durch deutliche Einmalzahlungen (von zwei Mal 1500 Euro für alle Lohngruppen) sorgt (Details findet man hier). Erweisen sich die derzeit gehandelten Inflationsprognosen für 2024 als viel zu hoch, haben die Arbeitnehmer einen wirklich guten deal gemacht.

Auf diese Weise haben die Tarifpartner das Verteilungsproblem gelöst, ohne inflationär zu sein. Schließt sich der Staat in intelligenter Weise an und fördert direkt die Einkommen derjenigen, die wenig verdienen, aber nicht in den Genuss von solchen Tarifverträgen kommen, ist das getan, was man sinnvollerweise tun kann, um den Verteilungskonflikt zu entspannen.

Es kommt hinzu, dass auch auf der Angebotsseite klare Zeichen für Entspannung zu erkennen sind. Die Preise fast aller Rohstoffe, die im Zentrum der ursprünglichen Angebotsschocks standen, sind inzwischen deutlich rückläufig. Man muss gar nicht auf die spektakuläre Wende beim Gaspreis verweisen, um zu erkennen, dass einige spekulative Blasen geplatzt sind und das Angebot bei vielen Rohstoffe sich wieder normalisiert. Kommt es nicht zu neuen Schocks, ist damit zu rechnen, dass im nächsten Jahr schon die Inflationsraten auch ohne Zutun der Notenbanken deutlich sinken werden.

Das Mandat der Notenbank

Das alles zu ignorieren, ist ein Versäumnis der Europäischen Zentralbank, das kaum hart genug verurteilt werden kann. Eine Institution, der man eine so große Unabhängigkeit eingeräumt hat, muss auch den Mut haben, sich auf der Basis einer klaren und klar kommunizierten Diagnose der Lage dem politischen und medialen Mainstream entgegenzustellen.

Christine Lagarde sagte nach der Zinserhöhung, sie kommentiere politische Debatten grundsätzlich nicht. Doch genau diese Einstellung ist falsch. Wer denn sonst als die EZB kann den allzu einfachen Vorurteilen der Politik sachlich etwas entgegensetzen? Nicht zu kommentieren und einfach umzufallen, wenn der politische Druck zu groß wird, ist ein Armutszeugnis ersten Ranges.

Auch der naive Glaube von Frau Lagarde, die EZB habe ein klares Mandat, nämlich die Preisstabilität wiederherzustellen, ganz gleich, was die Ursachen der Preissteigerungen waren, ist falsch. Preisstabilität auf mittlere Frist durchzuhalten, heißt nicht, jede Preiserhöhung zu bekämpfen. Es kann nur heißen, inflationäre Prozesse zu unterbinden, die das Potenzial haben, das Vertrauen der Bevölkerung in die grundsätzliche Stabilität der Währung zu untergraben.

Man muss es zugestehen: Die Europäische Notenbank kämpft an viel mehr Fronten um Glaubwürdigkeit und Vertrauen als eine normale nationale Notenbank. Aber weil das so ist, kommt es bei ihr auch viel mehr als bei einer nationalen Notenbank darauf an, überzeugende Argumente und fundierte sachliche Analysen mit der Öffentlichkeit und mit der Politik im gesamten Währungsgebiet zu diskutieren. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts und die politische Ignoranz in deren Gefolge sind die besten Beispiele für die Notwendigkeit, viel offensiver zu kommunizieren.

Das genau tut die EZB immer weniger. Sie verschanzt sich hinter ihrem Mandat und beharrt auf ihrer formalen Unabhängigkeit. Das aber ist eine Strategie, die scheitern muss, weil am Ende nur zählt, ob sie den Kampf um den Verstand derer gewinnt, die in der Lage sind, die Geldpolitik auf der höchsten Ebene der Politik mit guten sachlichen Argumenten zu verteidigen.