Soziologe Harmut Rosa über die zunehmende Aggression in einer zukunftslosen Gesellschaft

Quelle: https://taz.de/Hartmut-Rosa-im-Gespraech/!5902948/

Hartmut Rosa im Gespräch: Die Zukunft ist nicht zu sehen

Der Soziologe Hartmut Rosa über die zunehmenden Aggressionen einer zukunftslosen Gesellschaft.

taz FUTURZWEI: Was war die Zukunft in der Vergangenheit, was ist sie in der Gegenwart und was müsste sie in der Zukunft sein, Herr Rosa?

Hartmut Rosa: Als Soziologe interessiert mich nicht die Ideengeschichte, also das, was im philosophischen Diskurs relevant war, sondern die Mentalitätsgeschichte, also das, was kulturprägend war.

Meine These lautet: Wir leben in der Gesellschaft, die sich nur dynamisch stabilisiert, also des permanenten Wachstums und der Beschleunigung bedarf, um sich selbst zu erhalten. Das zwingt in ein mehrfaches Aggressionsverhältnis.

Nämlich?

Erstens, Aggression gegen die Natur, über die man immer besser herrschen muss. Zweitens, Aggressionen auch in sozialen Verhältnissen, weil die anderen Menschen als Konkurrenten wahrgenommen werden. Drittens führt das zu einem aggressiven Selbstverhältnis, etwa in der Selbstoptimierung. Bei allen Schattenseiten, die die Moderne mit sich brachte, herrschte lange eine generelle kulturelle Stimmung, die Wachstum als Vorwärtsbewegung betrachtet. Das sieht man daran, dass überall, wo Modernisierungsprozesse stattfinden, Eltern sagen, sie arbeiten hart, damit es die Kinder mal besser haben. Die Idee war, dass Wachstum zur Überwindung von Knappheit führt, auch zur Überwindung von Unwissenheit, Armut und Mangel. Und damit zu einem freieren und besseren Leben. Der Strom der Geschichte geht von unseren Vätern und Müttern durch uns hindurch in eine bessere Zukunft.

Das ist vorbei?

Ja, um das Jahr 2000 herum hat sich dieser Horizont eingetrübt, und jetzt geht es global eher darum, dass Eltern für ihre Kinder das erhalten wollen, was sie haben. Es gibt eine Umfrage unter Jugendlichen mit mehr als 70.000 Antworten aus Deutschland und Frankreich, nach der nur noch 22 Prozent glauben, dass sie ein besseres Leben haben werden als ihre Eltern. Das dreht die kulturelle Verfassung um 180 Grad.

Was passiert jetzt?

Man hat nicht mehr das Gefühl, wir laufen nach vorn und auf einen Horizont zu, und es macht Spaß, zu kämpfen, sich anzustrengen, um etwas zu schaffen. Jetzt müssen wir immer schneller laufen, bloß um nicht abzurutschen. Wir laufen gegen einen Abgrund an, der immer näher auf uns zu kommt. Jetzt heißt es in der Regierung, wir müssen es schaffen, aus der Krise »herauszuwachsen«. Aber wir wissen: Wenn wir genau das schaffen, werden wir die ökologische Krise verschlimmern. Und das verstärkt die Aggressionshaltung.

Dieses biografische Modell, wonach es immer besser für einen selbst wird und man seine Lebensverhältnisse durch Akkumulation von Qualifikationen erhöhen kann und es nach vorn geht, ist ein relativ neues Phänomen.

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