Humanitäre Krisen: Grüße aus dem Jemen, aus Äthiopien und aus Somalia

Quelle: https://www.zeit.de/politik/familie/2022-05/humanitaere-krisen-ukraine-krieg-berichterstattung-5vor8 –  Andrea Böhm 5. Mai 2022

Humanitäre Krisen: Grüße aus dem Jemen

Die Journalistin Andrea Böhm ist im April zwei Wochen durch die Ukraine gereist und war schockiert von den Gräbern der „notdürftig verscharrter Opfer“ und den zerstörten Wohnhäusern. Sie war beeindruckt von der ukrainischen Zivilgesellschaft, „die seit Kriegsbeginn umkämpfte Städte versorgt und Evakuierungen organisiert“. Sie spürte aber auch ein „Unbehagen“ angesichts der „Trauben von Fotografen und Reporterinnen“ in Butscha und Irpin, mit der „Welle von Titelgeschichten, Sondersendungen und Schlagzeilen über diesen Krieg“. Sie selbst beschäftig sich eher mit Ländern in Afrika und Nahost. Mit jedem weiteren Tag in „Kiew, Butscha, Irpin oder Tschernihiw“ wurde ihr klarer, „welche existenziellen Krisen in diesen vermeintlich fernen Regionen nun vollends von unserem medialen Radarschirm verdrängt werden“.

Sie weist zurecht darauf hin, dass der momentan brutalste Krieg nicht in der Ukraine stattfindet, sondern in Äthiopien. Nach Schätzungen von Experten sind dort seit Ausbruch der Kämpfe zwischen Rebellen und Regierung im November 2020 500.000 Menschen getötet worden – durch Waffengewalt, absichtlich herbeigeführten Hunger oder weil die medizinische Versorgung zusammengebrochen ist.

Sie schreibt weiter: „Die größten humanitären Krisen der Welt spielen sich in diesen Monaten nicht in Osteuropa ab, sondern in Ländern wie dem Jemen oder Somalia. Im Jemen brauchen 23 Millionen Menschen, fast drei Viertel der Bevölkerung, Nothilfe, um zu überleben. In Somalia hält die längste Dürre seit Jahrzehnten an und gefährdet das Überleben von Hunderttausenden“.

Selbstkritisch reflektiert sie die „Falle“, die sie oft „am Krisenjournalismus“ zweifeln lässt: die  „Aufmerksamkeitsökonomie“, „der sich nicht nur meine Zunft, sondern auch Hilfsorganisationen unterwerfen“. Schlagzeilen wie Spendengelder seien begrenzte Ressourcen, um die mit möglichst dramatischer Sprache und emotionalisierenden Bildern konkurriert werde. Sie könne die Schlagworte selbst nicht mehr hören, die sie selbst benutze: „schlimmster Krieg“, „größte humanitäre Katastrophe“. Diese Schlagworte würden sich immer schneller abnutzen, je „schneller sich die Katastrophen häufen“

Sie empfiehlt uns Leser*innen: „Lernen Sie, die Komplexität zu lieben.“ Wenn wir begreifen würden, dass (fast) alles mit (fast) allem zusammenhängt, würde uns zum Beispiel auffallen, „dass die westlichen Staaten zwar ihre Abhängigkeit von russischen fossilen Energien zu kappen versuchen, damit aber auch einen weltweiten Run auf Erdgas und Erdöl aus anderen Quellen auslösen. Und dass Moskau sein Erdöl und Erdgas jetzt zu niedrigeren Preisen an Länder verkauft, die sich nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligen. China zum Beispiel“.

Sie beendet die Kolumne mit zwei positiven Nachrichten:  Im Jemen ist seit Anfang April ein Waffenstillstand in Kraft, der erste landesweite seit sechs Jahren. Dazu haben die UN maßgeblich beigetragen. In Äthiopien hält zwar die tödliche Belagerung der aufständischen Region Tigray durch Regierungstruppen und mit ihnen verbündete Milizen weiter an. Doch beide Seiten sind derzeit wenigstens in Gesprächen. Dazu dürften – so Andrea Böhm – die verhängten und angedrohten neue US-Sanktionen beigetragen haben.