Emily Maitlis in Edinburgh – Eine Rede als Warnruf: Die BBC versagt als Aufklärer im Zeitalter des Populismus

Quelle: Übermedien –     Gastbeitrag  – 29.8.22

Emily Maitlis in EdinburghEine Rede als Warnruf: Die BBC versagt als Aufklärer im Zeitalter des Populismus

von Annette Dittert

Es war mehr als nur eine Rede, es war ein Befreiungsschlag, ein kathartischer Moment, nicht nur für Emily Maitlis selbst, sondern auch für all die Briten, die die akute Bedrohung der BBC durch die britische Tory-Regierung längst als Teil der Angriffe auf ihre Demokratie wahrnehmen. Denn seit Boris Johnson 2019 die Regierung übernommen und die alte konservative Partei in eine rechtspopulistische verwandelt hat, ist der politische Druck auf die BBC derart gestiegen, dass immer mehr ihrer besten Reporter und Presenter die Segel streichen.

Emily Maitlis, einst der Star des Nachrichtenmagazins „Newsnight“, ist eine davon. Sie hatte den Sender im Februar verlassen, und nun erfuhr die Öffentlichkeit warum. Auf dem Edinburgh TV-Festival, wo alljährlich die wichtigsten Macher der elektronischen Medien zusammenkommen, nahm sie kein Blatt mehr vor den Mund. Denn genau das, so warf sie ihrem ehemaligen Arbeitgeber vor, sei von ihr und vielen anderen allzu lang erwartet worden.

Ihre Vorwürfe sind vielfältig und treffen die BBC ins Herz. Die vielbeschworene „Unparteilichkeit“ sei zur Waffe gegen die Wahrheit verkommen. Schon während des Brexit-Referendums hätten ihre Producer in fünf Minuten 60 Ökonomen gefunden, die vor den möglichen Folgen eines EU-Ausstiegs warnten, dagegen viele Stunden gebraucht, um auch nur eine Stimme aufzutreiben, die den Brexit für ein sinnvolles Projekt hielt. „Dennoch präsentierten wir schließlich in der Sendung beide parallel, als zwei Seiten einer Medaille, als gleichwertige Ansätze. Das war aber nicht so.“

Nun ist der Begriff der False Balance an sich nicht neu: Dass die BBC während des Brexit-Referendums neben abstrusen Ökonomen auch ultrarechten Hetzern wie Nigel Farage regelmäßig überdimensionierte Sendezeiten eingeräumt hat, sie so erst legitimierte und damit das Brexit-Votum mindestens wahrscheinlicher gemacht hat, kann mittlerweile niemand ernsthaft bestreiten.

Mangelnde politische Unabhängigkeit

Bislang aber hatten alle, die den Sender verließen, dazu eisern geschwiegen. Maitlis war die Erste, die das jetzt öffentlich aussprach. Dementsprechend hoch schlagen die Wellen um ihre Rede nun bereits seit Tagen. Denn in ihrem Text ging sie noch einen Schritt weiter. Sie benannte ganz direkt den Grund für den längst eingetretenen Chilling Effect, eine Selbstbeschränkung bei der Berichterstattung der BBC: die mangelnde politische Unabhängigkeit des Senders, der – von der eigenen Regierung zunehmend bedroht – seinen journalistischen Kompass und damit die Verpflichtung auf die faktische Wahrheit im Zeitalter des Populismus verloren habe.

So erfährt man durch die Berichte der BBC seit Jahren nur noch ausgesprochen selten, welche Probleme der Brexit zum Beispiel der britischen Wirtschaft bereitet. Der Grund: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die Johnson-Regierung hatte Anfang 2020 erklärt, sie habe den Brexit erledigt und wünsche ab sofort nicht mehr darüber zu sprechen. Kurz darauf wurde dazu sogar eine entsprechende Anweisung an die Regierungsbeamten verfasst. Die Hilferufe der immer verzweifelteren kleinen und mittleren Betriebe verhallen seitdem ungehört.

Auch BBC-Journalisten folgen dieser Ansage bis heute immer wieder. So kann man in den Abendnachrichten zwar lange Berichte über fehlende Ärzte und Krankenschwestern sehen. Dass dieser Mangel aber auch wesentlich mit Brexit zusammenhängt und dem Verlust zehntausender EU-Bürger, die diese Jobs vorher gemacht haben, das wird nicht erklärt.

Komplizen einer Verschwörung gegen die Zuschauer

Maitlis, deren Wort umso schwerer wiegt, weil sie das, was mit der BBC derzeit geschieht, so lange von innen erlebt hat, erklärte das so:

„Viele in den Sendern fürchten sich davor, den völlig offensichtlichen wirtschaftlichen Schaden, der 2016 durch diese größte politische Neuausrichtung eines Landes entstanden ist, überhaupt anzusprechen, aus Angst, als Pessimisten, Anti-Populisten oder, noch schlimmer, ‚unpatriotisch‘ gebrandmarkt zu werden. Aber jeder Tag, an dem wir diesem Druck nachgeben, fühlt sich an wie einer, an dem wir Komplizen werden in einer Verschwörung gegen unsere Zuschauer, das britische Volk. Und warum sollten sie uns noch einschalten, wenn sie sehen, dass wir so zögerlich sind, wenn es darum geht, ihnen klar zu sagen, was wirklich passiert?“

Der so längst eingetretene Verlust der Glaubwürdigkeit hat bereits jetzt dazu geführt, dass sich gerade die Briten, die traditionell das öffentlich-rechtlichen System verteidigt haben, zunehmend enttäuscht von ihm abwenden. Das heißt, die BBC verliert jetzt gerade da an Unterstützung, wo sie sonst immer sicher darauf zählen konnte. Was aber geschehen kann, wenn ein BBC-Journalist sich gegen diesen Druck zu wehren versucht, hat Emily Maitlis immer wieder am eigenen Leib erfahren. Den spektakulärsten Fall thematisierte sie in ihrer Rede.

Abmahnung ohne Prozedere

Als Boris Johnsons mächtiger Chefberater Dominic Cummings mitten im ersten strengen Lockdown die Regeln brach und im Mai 2020 privat quer durch halb England fuhr, drang der allgemeine Aufschrei darüber bis auf die Titelseiten der rechten Boulevardpresse. Johnson ließ ihn dennoch ungeschoren davonkommen. Noch nicht einmal zu einer Abmahnung konnte er sich durchringen. Maitlis eröffnete daraufhin am Abend ihre „Newsnight“-Sendung folgendermaßen: „Dominic Cummings hat die Regeln gebrochen. Das Land kann das sehen und ist schockiert, dass die Regierung das offenbar nicht kann.“

Abgemahnt wurde am Ende sie. Für genau diese Sätze. Das Erstaunliche daran: Die Downing Street musste kaum etwas dafür tun. Es war die BBC selbst, die sich schon am nächsten Morgen öffentlich für diese Moderation entschuldigte. Diese Passage habe nicht dem Prinzip der Unparteilichkeit entsprochen, dem man sich verpflichtet habe. Nicht das „ganze Land“ sei empört gewesen.

Maitlis und die Redaktion selbst wurden vorher nicht darüber informiert, ein für BBC-Verhältnisse extrem ungewöhnlicher Vorgang, da es für solche Beschwerden ein Prozedere gibt, das vorschreibt, mit den Betroffenen zuerst selbst zu sprechen. Wenn man weiß, wie streng interne Regeln normalerweise befolgt werden, habe das keinen Sinn gemacht, erklärte Maitlis jetzt in Edinburgh, es sei denn, die Geschäftsleitung sei so unter Druck gewesen, dass sie die Regierung ohne jeden Zeitverzug beruhigen wollte.

Attacken und Kürzungen

Weiß man um die ständigen Angriffe und Drohungen der Johnson-Regierung auf die BBC, ist eine solch schnelle Defensive wenig überraschend. Denn es vergeht seit 2019 kaum eine Woche ohne Attacken eines Ministers auf den Sender. Bereits jetzt haben massive Kürzungen dazu geführt, dass ganze Sender eingestellt werden mussten. Ab 2027 dann wollen die Tories die BBC als öffentlich-rechtliches System ganz abschaffen. Auch in der Nach-Johnson Ära dürfte sich daran wenig ändern: Seine wahrscheinliche Nachfolgerin, Liz Truss, die zum Rechts-Außen-Flügel der Partei gehört, unterstellt der BBC bereits jetzt, sie verfälsche die Fakten und verbreite „fake news“.

Das alles ist besonders bedrohlich für die BBC, weil der Sender – anders als zum Beispiel das deutsche öffentlich-rechtliche System – in Großbritannien mehr oder weniger direkt der Regierung unterstellt ist. Eine Ironie der Geschichte, wenn man so will, hatten doch die Briten, gemeinsam mit den Amerikanern, uns Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg das öffentlich-rechtliche System als ein föderales verordnet, um sicherzustellen, dass der zentrale Zugriff auf ein nationales Rundfunksystem durch die Politik nicht mehr möglich sein sollte. Bei sich zu Hause aber hielt man solche Überlegungen damals nicht für nötig.

Anders als in Deutschland verhandelt die Regierung mit der BBC so noch immer ganz direkt über deren Gebühren und kann sie nach Belieben einkürzen, wenn sie denn will. Hinzu kommt, dass es nur ein zentrales Aufsichtsgremium gibt, das sogenannte „Board“, dessen Vorsitzender direkt von der Regierung, genauer gesagt: dem Kulturministerium besetzt wird.

Boris Johnson sorgte 2021 dafür, dass sein Parteifreund Richard Sharp diesen Posten bekam, der sich neben scharfer Kritik an der BBC vor allem dadurch ausgezeichnet hatte, dass er der Tory-Partei in den Jahren zuvor umgerechnet eine halbe Million Euro gespendet hatte. Von den restlichen Mitgliedern des Board wird noch einmal knapp die Hälfte direkt vom Kulturministerium besetzt. Dieses Board bestimmt dann auch den Intendanten der BBC. Mit Tim Davie ist so nicht ganz zufällig auch hier seit 2020 ein Mitglied der konservativen Partei am Ruder.

Politische Agenten im Board der BBC

Dass die BBC in der Vergangenheit trotz dieser Strukturen dennoch weitestgehend politisch unabhängig blieb, hatte vor allem damit zu tun, dass die britischen Regierungen vor Johnson die eigentlich gewollte Distanz zwischen Politik und Sender mehr oder weniger respektierten. Aber so wie Johnson ganz generell keine Rücksicht auf die ungeschriebene britische Verfassung nahm und die Grundpfeiler der britischen Demokratie auch an anderer Stelle unterminierte, so nutzen die Tories seit seinem Wahlsieg 2019 auch die direkten Einflussmöglichkeiten, die diese Struktur ihnen bietet.

Auch hier sprach Emily Maitlis Klartext und sprach unumwunden von den „politischen Agenten“ im Board der BBC, ganz besonders einem Mann: Robbie Gibb. Der ehemalige Berater von Theresa May, der parallel am Aufbau des ultrarechten Senders „GB News“ beteiligt war, hatte regierungskritischen Journalisten der BBC immer wieder auch öffentlich mit Sanktionen gedroht.

Wie kann ein solcher Mann im Aufsichtsgremium der BBC als oberster Wächter über die Unparteilichkeit ihrer Journalisten sitzen, fragte Maitlis. Noch dazu ein Mann, der, wie die „Financial Times“ kürzlich berichtete, ganz direkt Stellenbesetzungen zu verhindern suchte, die er für zu links hielt, mit dem Argument, das schade den guten Beziehungen der BBC zur Regierung. „Mutig“ sei das von Maitlis gewesen, ihn so offen zu nennen, sagten Zuhörer der Rede in Edinburgh hinterher, und allein das zeigt, wie viel schon verrutscht ist im sogenannten Mutterland der Demokratie.

Formularbeginn

Was Emily Maitlis Rede aber über all diese konkreten Punkte hinaus so hörens- oder lesenswert macht, ist die eigentliche Kernfrage ihres Vortrags: Wie muss öffentlich-rechtlicher Journalismus, dessen vornehmste Aufgabe ja immer auch die Kontrolle der Exekutive sein sollte, mit einer Regierung umgehen, die eine Gefahr nicht nur für ihn selbst, sondern ganz generell für die demokratischen Institutionen ihres Landes ist? In einer solchen Situation kann die Definition von „Unparteilichkeit“ ganz grundsätzlich nicht mehr der Regierung überlassen bleiben. Und wie berichtet öffentlich-rechtlicher Journalismus über den zunehmenden Verfall der demokratischen Strukturen, die er doch verteidigen soll? Indem er darüber berichtet wie über das Wetter, und die Entwicklung damit normalisiert?

Nein, sagt Emily Maitlis, und greift zum Ende ihres Vortrags die Metapher des Froschs im allmählich heißer werdenden Wasser auf. Es sei an der Zeit, dass der Frosch aus dem Wasser springe, alle seine Freunde anrufe und davor warne, dass sie sehr bald im kochenden Wasser umkommen würden.

Genau das hat Maitlis versucht mit ihrem Vortrag. Und im besten Fall löst sie damit genau das aus, dass die BBC-Journalisten, wenn sie erst einmal miteinander sprechen, den Ernst der Lage erkennen, und auf der Insel endlich eine Diskussion darüber beginnt, wie man der BBC, diesem großen alten Leuchtturm des öffentlich-rechtlichen Systems auch in Zeiten des Populismus echte Unabhängigkeit garantieren kann.

Annette Dittert, geboren 1962 in Köln, ist Journalistin. Nach kurzem Start bei einer Regionalzeitung berichtet sie seit mehr als 30 Jahren fürs Fernsehen, unter anderem als ARD-Korrespondentin aus Warschau, New York und London. Dort lebt sie immer noch, auf einem Hausboot. Sie und Maitlis kennen einander seit der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrich-Preises 2020. Dittert war in der Jury und hat ihr den Preis in London übergeben.

Emily Maitlis‘ Rede zum Nachlesen: „We have to stop normalising the absurd“

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Wirkung von Sanktionen bei Hartz 4 – Vorstellung der Studien „Hartz-Plus“ in der Bundespressekonferenz 12.9.22

#rtz4 #Sanktionen #Bürgergeld

Ergebnisse der Studie über Wirkung von Sanktionen bei Hartz 4 – BPK 12. September 202210.262 Aufrufe – Vor 10 Stunden live gestreamt –Jung & Naiv –

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BPK vom 12. September 2022 Thema: Veröffentlichung der Studie „Hartz-Plus“ zur Wirkung von Sanktionen – Handlungsempfehlungen für ein künftiges Bürgergeld mit – Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) – Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer, Der Paritätische Gesamtverband – Helena Steinhaus, Gründerin Sanktionsfrei e. V. – Dr. Verena Tobsch, Expertin für Arbeitsmarktpolitik, Gründerin des Institus für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES Berlin)

  • 00:00 Beginn
  • 01:01 Eingangsstatement Helena Steinhaus
  • 05:47 Eingangsstatement Ulrich Schneider
  • 10:50 Eingangsstatement Marcel Fratzscher
  • 17:07 Tilo zu wissenschaftlicher Grundlage
  • 19:05 Tilo zu Abbau vs Abschaffung von Sanktionen
  • 35:29 Tilo zu „systematische Evaluierung“
  • 36:55 Tilo zu überraschenden Ergebnissen
  • 43:38 Tilo zu „Bürgergeld“ vs Hartz4

Wagenknecht fordert Verhandlungen mit Russland über Gaslieferungen

https://www.welt.de/politik/deutschland/article240926495/Energiekrise-Wagenknecht-fordert-Verhandlungen-mit-Russland-ueber-Gaslieferungen.html

Stand: 08.09.2022

Wagenknecht fordert Verhandlungen mit Russland über Gaslieferungen

Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht will lieber Gas aus Russland statt Strom durch Atomkraftwerke. Der CDU-Abgeordnete Jens Spahn hält im WELT Talk dagegen – und kritisiert zudem das Entlastungspaket der Ampel-Koalition.

Die Linken-Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht hat für Verhandlungen mit Russland zur Wiederaufnahme der Gaslieferungen nach Deutschland plädiert. „Ich bin dafür, dass wir mit Russland – auch wenn uns das schwerfällt und auch wenn ich das nicht schön finde – darüber verhandeln, die Energielieferungen wieder aufzunehmen, egal über welche Pipeline“, sagte Wagenknecht am Mittwoch im WELT Talk. „Und wenn das erfolgreich ist, dann müssen wir über die Atomkraftwerke nicht mehr nachdenken.“ Sollte es nicht gelingen, würden die AKW gebraucht, weil nicht genügend Strom vorhanden sein dürfte.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn widersprach: „Niemand hat mit Herrn Putin die Gaslieferungen beendet. Es gibt geltende Verträge zu Gaslieferungen von Russland nach Deutschland. Niemand hat die mit Sanktionen belegt. Sie sind eigentlich zu erfüllen, sie werden nur von der russischen Seite nicht erfüllt.“ Man müsse nichts verhandeln. Putin habe sich entschieden, die Verträge nicht mehr erfüllen zu wollen. Russlands Staatskonzern Gazprom hatte zuletzt die ohnehin stark gedrosselten Gaslieferungen über Nord Stream 1 ganz eingestellt – mit Verweis auf technische Probleme, die angeblich aufgrund der Sanktionen nicht zu beheben seien. Die Bundesregierung hält diese Begründung für vorgeschoben.

Gas-Stopp wegen „hybrider Kriegsführung“? Darum wählt Russland die Opferrolle

Spahn kritisierte auch ausdrücklich Wagenknechts Positionierung zum Ukraine-Krieg: „Putin hat einen Krieg begonnen auf die Ukraine. Ihre Empfehlung ist ja anscheinend, dass wir das reaktionslos passieren lassen. Weil: Sie sagen, durch das, was wir getan haben, liefert er uns kein Gas mehr. Ich finde, für eine Partei, die auf die Straße geht und für Frieden demonstriert, kann es nicht einfach folgenlos bleiben, wenn ein Aggressor wie Putin einen anderen Staat überfällt.“

Wagenknecht bekräftigte dagegen ihre Position, sprach von einem „Wirtschaftskrieg“, den Deutschland gegen Russland begonnen habe und betonte, es brauche auch diplomatische Versuche, „diesen Krieg zu einem Verhandlungsfrieden zu führen“. Sie erklärte: „Ich bin nicht überzeugt, dass wir diesen Krieg einen Tag früher beenden, wenn wir unsere Wirtschaft ruinieren“. Das habe auch mit Solidarität gegenüber der Ukraine nichts zu tun. „Wir helfen doch nicht der Ukraine, wenn wir unsere Wirtschaft kaputtmachen, wenn wir die Leute arm machen.“

Dieses Kreml-Geheimpapier offenbart Putins Niedergang

Die Montagsdemos im Osten verteidigte Wagenknecht als legitimen Protest, der in ähnlicher Form in Frankreich schon zu großen Erfolgen geführt habe. Die Angst vor „Gelbwesten“ habe dort neue Entlastungen und eine Fortführung des Tankrabatts gebracht – das sei ein Vorbild für Deutschland. „Ich finde dringend notwendig, dass die Menschen auf die Straße gehen, dass sie protestieren.“ In Frankreich sei der Strompreis bereits seit Februar gedeckelt. „Ja, der Staat hat ziemlich viel dort gemacht“, so Wagenknecht. „Er macht das aber auch deshalb, weil er Angst vor einer wiederaufflammenden ‚Gelbwesten‘-Bewegung hat.“

Spahn: „Es gibt eine große Mehrheit, die es anders sieht“

Auch Spahn betonte, es sei legitim zu demonstrieren. Er gab aber mit Blick auf Forderungen nach einem Ende der Sanktionen zu bedenken: „Es gibt eine große Mehrheit, die es anders sieht. Man muss ein bisschen aufpassen, dass man Demonstrationen nicht am Ende für die Mehrheit hält.“ Über die Nöte der Bürger müsse gesprochen werden. Das dritte Entlastungspaket gebe den Menschen aber keine Sicherheit. Keiner wisse etwa, wann die Strompreisbremse komme, so Spahn.

Kein Verständnis habe er, sagte Spahn, für diejenigen, die die Proteste von links und rechts befeuern: „Wer hält da die Reden, zum Teil auch hetzerisch, kämpferisch? Und das, ja, sind nicht selten die Extremen von links und rechts. Das erleben Sie ja auch in den Bundestagsdebatten, wie sich gerade beim Thema Putin – übrigens auch beim Thema Corona, schon vorher, und jetzt auch bei diesem Thema – diese beiden Extreme sich treffen und gemeinsame Sache machen.“

Die Ampel-Koalition hatte am Sonntag ein drittes Entlastungspaket vorgestellt. Eine geplante Maßnahme ist, dass für einen gewissen Basisverbrauch von Strom ein vergünstigter Preis gelten soll. Für einen zusätzlichen Verbrauch darüber hinaus wäre der Preis nicht begrenzt. Finanziert werden soll die Preisbremse, indem übermäßige Gewinne auf dem Strommarkt abgeschöpft werden.

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter wehrte sich im WELT Talk gegen Kritik an den Plänen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), zwei Atomkraftwerke im Winter als Notfallreserve zu nutzen. Ein Hoch- und Runterfahren der Meiler sei zwar kompliziert, aber „technisch schon möglich“, sagte Hofreiter. „Sie können Atomkraftwerke hoch- und runterfahren. Sie können es nur nicht so schnell machen wie bei Gaskraftwerken. Das sieht man gerade in Frankreich. Wir haben im Moment gerade ein Problem mit Strom, weil in Frankreich die Atomkraftwerke zum erheblichen Teil stillstehen.“

Habeck hatte am Montag angekündigt, dass die Kernkraftwerke Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg noch bis Mitte April 2023 bei Engpässen als Notreserve zur Verfügung stehen sollten. Ein Betrieb nach dem bisher festgelegten Abschalttermin zum Jahresende soll dabei nur erfolgen, wenn tatsächlich eine Mangelsituation bei der Stromversorgung eintritt. Der Betreiber des Atomkraftwerks Isar 2, Preussen Elektra, nannte den Reservebetrieb „technisch nicht möglich“. Problematisch sei, dass der Meiler komplett heruntergefahren sein werde und die Brennstäbe schon an das Ende ihrer Leistungsfähigkeit kämen, hieß es in einem Brief von Preussen-Elektra-Chef Guido Knott an das Wirtschaftsministerium.

Hofreiter hielt dagegen, dieser Widerspruch des Preussen-Elektra-Chefs sei dessen wirtschaftlichen Interessen geschuldet. „Der hat natürlich ein total hohes Interesse, das so nicht zu machen, weil: Die Atomkraftwerke sind abgeschrieben – und der verdient unglaublich viel Geld damit, wenn er in den automatischen Streckbetrieb kommt.“

Wie kommen die Strompreise zustande?

Quelle: Tagesschau  https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/strompreise-rekord-101.html

Wie kommen die Strompreise zustande?

Detlev Landmesser 30.08.2022

Die jüngsten Rekordpreise am Strommarkt verunsichern die Verbraucher. Die Preisbildung folgt einem speziellen Mechanismus. Wie sieht er aus – und was tut die Politik dagegen?

Was macht ein Stromversorger, wenn er morgen voraussichtlich mehr Strom liefern muss, als er selbst zur Verfügung hat? Er kauft Strom zu, bei bewährten Partnern – oder an der Börse, deren Preise auch für außerbörsliche Geschäfte bestimmend sind. In Deutschland ist das die Strombörse „European Energy Exchange“, kurz EEX, mit Sitz in Leipzig.

Die Preisbildung dort funktioniert nach einem europaweit einheitlichen Prinzip. Dabei kommen immer die Kraftwerke zuerst zum Zug, die den günstigsten Preis anbieten können. Lange Jahre führten die Atomkraftwerke diese Einsatzreihenfolge (englisch „Merit Order“ genannt) an. Es folgten die Braun- und Steinkohlekraftwerke. Strom mit dem Verbrennen von Erdgas oder gar Öl zu produzieren, war schon immer das teuerste traditionelle Verfahren.

Die Erneuerbaren Energien, vor allem also Strom aus Wind- und Solarkraftwerken, spielen eine Sonderrolle. Unter dem Schutz des Erneuerbare Energien Gesetzes (EEG), das eine vorrangige Berücksichtigung dieser Strommengen in der Merit Order vorschreibt, sind die Verfahren immer kostengünstiger geworden. Wind und Sonne zählen heute, je nach Berechnungsmethode, zu den günstigsten Stromlieferanten.
17.08.2022

Megawattstunde teuer wie nie
Nächster Preisschock beim Strom
Strom wird an der Börse so teuer gehandelt wie noch nie.

Teuerstes Kraftwerk bestimmt den Preis

Die einheitliche Regelung namens Merit-Order-Prinzip nun besagt, dass das teuerste Kraftwerk, das noch benötigt wird, um den Bedarf zu decken, den Strompreis bestimmt. Diesen Preis können also auch alle anderen, günstigeren Anbieter vereinnahmen.

Das Ziel ist, die Anbieter mit den günstigsten, effizientesten Verfahren zu belohnen und deren Produktion zu fördern. Gleichzeitig sollen aber auch die teureren Kraftwerke, die letztlich eine sichere Stromversorgung gewährleisten, im Markt gehalten werden. Das hat in der Vergangenheit gut funktioniert – und tendenziell auch den Börsenpreis gesenkt. Insbesondere die Anbieter Erneuerbarer Energien tragen dazu bei – wenn denn der Wind weht und die Sonne scheint. Je mehr Ökostrom eingespeist wurde, desto weniger teure Kraftwerke wurden gebraucht.

Doch was als durchaus gute Idee gelten kann, ist im Zuge der Energiekrise des Jahres 2022 zum Problem geworden. Denn die teuersten Kraftwerke – die Gaskraftwerke – sind angesichts der Explosion der Gaspreise noch teurer geworden. Und Strom aus Gas wird immer noch gebraucht. Zuletzt stammten noch rund zehn Prozent des verbrauchten Stroms aus Gaskraftwerken. Und deren Kosten schlagen dank des Merit-Order-Prinzips voll auf den Börsenpreis durch.

Mehrere Preistreiber

Das ist der wesentliche Preistreiber am Strommarkt. Dazu kommt die aktuelle Häufung technischer Probleme bei den französischen Atomkraftwerken, die wegen Wartungsarbeiten derzeit nur rund die Hälfte der installierten Leistung liefern können. Auch die derzeitige Dürre wirkt preissteigernd, insbesondere weil der Kohletransport über die Flüsse angesichts der niedrigen Pegelstände behindert wird und daher weniger Kohlestrom angeboten werden kann.

Bei den Stromkunden schlagen die hohen Preise glücklicherweise nicht im vollen Ausmaß durch. Denn die Energieversorger kaufen große Mengen langfristig zu festen Preisen ein. Am Terminmarkt der Strombörse EEX ist dies für bis zu sechs Jahre möglich. Aber der Anteil teureren Stroms nimmt naturgemäß schon seit einiger Zeit zu. Die Stromrechnung wird also mittelfristig signifikant höher ausfallen.

29.08.2022  Hohe Energiepreise EU-Kommission will Strommarkt reformieren –
Angesichts immer weiter steigender Energiepreise will die EU den Strommarkt reformieren.

Strompreise sollen unabhängiger vom Gaspreis werden

Um die Verbraucher zu schützen, will die Politik daher den Strommarkt reformieren. Das grundsätzliche Merit-Order-Prinzip soll dabei nach jetzigem Stand nicht angetastet werden. Stattdessen werden verschiedene andere Lösungsmodelle diskutiert. Insbesondere wird ein Mechanismus gesucht, der die Endkundenpreise für Strom vom steigenden Gaspreis entkoppelt. Schon vor einer tiefgreifenderen Reform des Strommarktes, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für Anfang 2023 ankündigte, soll es ein „Notfallinstrument“ geben, das schon in den nächsten Wochen greift.

Denkbar wäre eine künstliche Verbilligung des Gases, das für die Stromerzeugung verwendet werden muss, was auf eine Subventionierung der teuren und CO2-kritischen Gaskraftwerke mit Steuergeldern hinausliefe. Ein anderer Ansatz zielt auf die viel diskutierten „Übergewinne“ der günstigeren Anbieter von Kohle- oder Ökostrom, die man auf die Verbraucher umverteilen könnte – was wiederum eine alte Diskussion aufrührt und teils den Absichten des EEG widersprechen würde.

In Deutschland ist auch das Thema einer Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke noch nicht endgültig vom Tisch. Derzeit soll ein Stresstest klären, ob das Stromnetz ohne deutschen Atomstrom auch in einer Krisensituation stabil bliebe oder möglicherweise gefährdet wäre.

Insolvenzexperte der Allianz „Die hohe Verschuldung der Unternehmen ist besorgniserregend“

https://www.manager-magazin.de/politik/allianz-mit-der-rezession-werden-die-insolvenzen-merklich-anziehen-a-e08aad47-d24a-441a-a5cf-3048cf1bbb07

Das Interview führte Lutz Reiche

09.09.2022, 17.00 Uhr

Insolvenzexperte der Allianz „Die hohe Verschuldung der Unternehmen ist besorgniserregend“

Droht Deutschland eine Insolvenzwelle? Noch nicht, sagt Insolvenz-Chefanalyst Maxime Lemerle vom weltgrößten Kreditversicherer Allianz Trade – auch weil der Staat hilft. Doch die Risiken steigen an vielen Fronten, warnt der Experte. Er gibt Firmen einen wichtigen Ratschlag. Maxime Lemerle ist der leitende Analyst für Insolvenzprognosen bei der Allianz Trade Gruppe. Er verfügt über rund 30 Jahre Erfahrung in der Analyse von Branchen- und makroökonomischen Risiken sowie der Insolvenzforschung

 manager magazin: Herr Lemerle, Mitte Mai   sagte Allianz Trade noch eine recht moderate Steigerung der Insolvenzen für Deutschland voraus. Interessenverbände der Industrie und des Handwerks warnen nun ob explodierender Energiekosten vor einer Pleitewelle. Jeder dritte Betrieb sehe seine Existenz gefährdet , so der BDI für seine Klientel. Teilen Sie diese pessimistische Einschätzung?

Maxime Lemerle: Teilweise. Im bisherigen Jahresverlauf waren die Fallzahlen in Deutschland weiterhin rückläufig und auf einem sehr niedrigen Niveau. Aktuell sehen wir, dass sich diese Entwicklung langsam dreht und wieder mehr Insolvenzen drohen. Trotzdem dürfte es für das Gesamtjahr 2022 bei einem moderaten Anstieg bleiben, der vor allem aus den Basiseffekten resultiert, weil die Fallzahlen im ersten Halbjahr so niedrig waren. 2023 dürfte das Insolvenzgeschehen angesichts der drohenden Rezession dann aber merklich anziehen – stärker als ursprünglich erwartet.

Bei der Entwicklung spielen aber viele Faktoren eine Rolle. Aktuell ist vieles abhängig von staatlichen Unterstützungsmaßnahmen: Die Insolvenzentwicklung hatte sich in den zwei vergangenen Pandemie-Jahren durch die starke staatliche Unterstützung für die Firmen von der wirtschaftlichen Entwicklung ja weitgehend entkoppelt. Die Zahl der Insolvenzen fiel damit auf ein künstlich niedriges Niveau. Angesichts der Energiepreisexplosion dürften weitere Maßnahmen folgen. Das könnte eine Normalisierung bei den Insolvenzen weiter verzögern.

Nochmal nachgehakt. Übertreiben die Lobbyverbände vielleicht mit ihren Warnungen, schließlich wollen sie für ihre Klientel möglichst viel und direkte finanzielle Hilfen erlangen.

Die Risiken steigen aktuell an vielen Fronten, sowohl für Privathaushalte als auch für Unternehmen. Unterstützungsmaßnahmen werden deshalb vielerorts auf den Weg gebracht. Fakt ist: Die Risiken steigen aktuell, die staatlichen Gegenmaßnahmen aber auch – und die Pandemie hat gezeigt, dass das eine signifikante Wirkung hat. Zudem sind nicht alle Branchen von allen Risiken gleichermaßen betroffen.

Sie sagen, Risiken steigen an vielen Fronten – wo genau?

Rasant gestiegene Energiepreise und die drohende Gasknappheit sind ja aktuell in aller Munde. Die Inflation hinterlässt in einigen Branchen ebenfalls deutliche Bremsspuren, ebenso wie steigende Zinsen und Finanzierungskosten sowie der daraus resultierende Refinanzierungsbedarf – und das in der unguten Kombination mit einer bevorstehenden Rezession, einer deutlich sinkenden globalen Nachfrage und zurückhaltenden Verbrauchern. Weiterhin bestehende Lieferengpässe oder unterbrochene Lieferketten sind zusätzliche Risiken. Im ersten Halbjahr 2022 ist als Konsequenz der Kapitalbedarf für den laufenden Betrieb der Unternehmen bereits deutlich gestiegen, vor allem durch einen Anstieg sowohl der Außenstände als auch der Vorräte.

Wie hoch schätzt Allianz Trade vor dem aktuellen Hintergrund den Anteil der gefährdeten Unternehmen? Wieviel Insolvenzen erwarten Sie dieses Jahr?

Allianz Trade (ehemals Euler Hermes) ist der weltweit führende Warenkreditversicherer mit Sitz in Paris. Die Tochter des Allianz-Konzerns ist zugleich Spezialist für Bürgschaften, Garantien, Inkasso sowie Schutz gegen Betrug oder politische Risiken. Allianz Trade bietet seinen Kunden umfassende Finanzdienstleistungen an, um sie im Liquiditäts- und Forderungsmanagement zu unterstützen.

Über das unternehmenseigene Monitoring-System verfolgt und analysiert Allianz Trade täglich die Insolvenzentwicklung von mehr als 80 Millionen kleiner, mittlerer und multinationaler Unternehmen. Insgesamt umfassen die Expertenanalysen Märkte, auf die 92 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts entfallen. Mindestens 66.000 Kunden sichern ihre Geschäfte und deren Bezahlung bei Allianz Trade ab. Das Unternehmen ist in mehr als 50 Ländern vertreten und beschäftigt rund 5500 Mitarbeiter weltweit. 2021 erwirtschaftete Allianz Trade 2,9 Milliarden Euro Umsatz und versicherte weltweit Geschäftstransaktionen im Wert von 931 Milliarden Euro.

Der Anteil der gefährdeten Unternehmen in Deutschland hat sich 2021 von 7 Prozent auf 6 Prozent reduziert. Die staatlichen Hilfen laufen derzeit weiter. Deshalb gehen wir davon aus, dass die Insolvenzen in Deutschland in diesem Jahr – auch mit den jüngsten Entwicklungen – nur moderat steigen werden. Im kommenden Jahr dürfte sich dieser Trend aber wie gesagt intensivieren. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass wir uns aktuell auf einem historisch niedrigen Niveau befinden und sich das Insolvenzgeschehen damit schlicht normalisieren würde.

Das heißt, die aktuelle Situation ist nur die Spitze des Eisbergs und das Schlimmste steht noch bevor?

Spätestens im vierten Quartal dürfte die deutsche Wirtschaft in eine Rezession rutschen, die sich auch im kommenden Jahr fortsetzen dürfte. Eine leichte Erholung ist aktuell erst ab dem zweiten Halbjahr 2023 in Sicht. Das sind trübe Aussichten, die auch steigende Risiken für Unternehmen mit sich bringen – in allen Branchen. Und in allen Branchen gibt es Unternehmen, die gut aufgestellt sind und andere, für die es eng werden könnte.

Was erwarten Sie konkret bis zum Jahresende?

Die deutsche Wirtschaft muss sich auf einen langen und harten Winter einstellen, in dem es sehr ungemütlich werden kann. Wir schätzen, dass mehr als 8 Prozent der deutschen Privathaushalte Gefahr laufen, dass ihnen ihre Energiekosten über den Kopf wachsen. Auch an Unternehmen geht die Energie-Kostenexplosion nicht spurlos vorbei. Andere Branchen wiederum kämpfen eher mit Inflation oder den steigenden Zinsen. Zuletzt ist etwa der Zinsaufwand insbesondere in Sektoren wie Textilien, Metalle, Hotels, Elektronik, Einzelhandel und Automobilbau drastisch angestiegen, das belegen die Finanzdaten von börsennotierten Unternehmen in diesen Branchen.

Sehen Sie Branchen, die derzeit stärker insolvenzgefährdet sind?

„Im Baugewerbe und Energiesektor sind die Insolvenzen bis Mai um 10 Prozent und mehr gestiegen“

Im bisherigen Jahresverlauf waren die Insolvenzen in Deutschland insgesamt rückläufig. Allerdings gilt dies nicht für alle Branchen. Im Energiesektor sind die Pleiten von Januar bis Mai 2022 beispielsweise um 11 Prozent gestiegen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Im Baugewerbe war es ein Plus von 10 Prozent und dort haben wir auch die meisten Fälle verzeichnet, sogar mehr als im Handel, der traditionell viele Insolvenzen hat. Im Bereich Transport, Gesundheit und Soziales sowie im Finanzsektor und in der Immobilienbranche zeichnet sich 2022 ebenfalls schon eine leichte Trendwende ab.

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Die Energiekrise trifft einzelne Branchen besonders hart. Welche haben Sie noch im Blick?

Ja, energieintensive Branchen wie die Papier-, Metall- und Chemieindustrie haben bekanntlich einen besonders schweren Stand. Aber auch bei Energieversorgern, Eisenbahngesellschaften oder auch Bäckereien ist die Lage teilweise kritisch. Jüngst haben wir allerdings auch einige prominente Insolvenzen gesehen, deren Branche auf den ersten Blick nicht so energieintensiv sind.

Sind jüngere Unternehmen, etwa Technologie-Start-ups, denen Investoren zusehends die Gefolgschaft aufkündigen, anfälliger für externe Schocks, wie wir sie derzeit sehen?

„Auch bei Eisenbahngesellschaften oder Bäckereien ist die Lage teilweise kritisch“

Jüngere Unternehmen sind in der Tat anfälliger für Insolvenzen als etablierte Unternehmen. Aber das lässt sich nicht pauschalisieren. Gerade unter den Start-ups gibt es auch Einhörner und unter den etablierten Unternehmen „Zombies“. Weder das Alter noch die bekannte Marke schützen vor Insolvenzen – oder umgekehrt.

Sie sprachen gerade einige Risiken an. Wenn Unternehmen jetzt in finanzielle Schieflage geraten, was vor allem führt dazu? Sind es die Energiekosten, eine zu dünne Kapitaldecke, steigende Zinsen, säumige Schuldner oder gar eigenes Missmanagement?

Gründe für Insolvenzen sind seit jeher vielfältig. Meistens ist es auch nicht nur eine Ursache, sondern eine Kombination aus mehreren Faktoren. Wenn sich schon vor den aktuellen Entwicklungen Probleme aufgetürmt haben, wird es jetzt umso schwieriger, wenn eine wahre Flut an neuen, gravierenden Herausforderungen hinzukommt.

Während der Pandemie wurde Kritik laut, die großzügigen staatlichen Hilfen, Garantien und Übergangsregelungen hielten schon vor der Krise kränkelnde Unternehmen am Leben. Robert Habeck versprach diese Woche für kleine und mittlere Unternehmen weitere Hilfen. Vergrößert die Bundesregierung damit womöglich das Heer der Zombie-Firmen, verhindert sie damit Anpassung und Marktbereinigung?

Es  sind keine Details zu diesen Plänen bekannt, insofern wäre das jetzt reine Spekulation. Wie so oft gibt es auch hier zwei Seiten der einen Medaille. Viele staatliche Maßnahmen in den vergangenen Jahren hatten das Ziel, Unternehmen, die vor der Pandemie gesund waren und unverschuldet in eine schwierige Lage kamen, zu unterstützen. Dieses Ziel haben sie auch häufig erreicht – auch wenn dies etwa die Insolvenzentwicklung von den wirtschaftlichen Mechanismen weitgehend entkoppelt hat und auch sogenannte „Zombies“ teilweise dadurch überlebt haben. Tatsächlich ist mit den steigenden Zinsen der aktuell sehr hohe Verschuldungsgrad der Unternehmen durchaus besorgniserregend. Einigen Unternehmen könnte das jetzt über den Kopf wachsen.

Was bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Ankündigung der Bundesregierung, sie wolle das Insolvenzrecht vorübergehend lockern?

Insolvenzexperte Frank Grell: „Wir dürfen nicht in eine Endzeitstimmung verfallen“ Das Interview führte Christoph Rottwilm

Auch das wäre mangels Details reine Spekulation. Eine Lockerung des Insolvenzrechts haben wir auch schon während der Pandemie gesehen – oft war das aber an recht spezifische Voraussetzungen geknüpft. Vorher gesunden Unternehmen kann dies unter bestimmten Umständen helfen. Bei angeschlagenen Unternehmen wäre es nur ein Tropfen auf den heißen Stein und würde Schwierigkeiten nur hinauszögern. Verschoben ist nicht aufgehoben, eine Wunderheilung gibt es dadurch nicht.

Wirtschaft ist zu einem Großteil von Psychologie bestimmt. Krisen können sich hochschaukeln, weil sich Verbraucher und Kunden von Gefühlen leiten lassen und nicht immer rational handeln. Was sollten Unternehmen jetzt auf keinen Fall tun? Was sollten sie jetzt auf jeden Fall anpacken?

„Risiken verringern, Lieferketten und Finanzen sorgfältig im Blick behalten, Investitionen genau planen“

Unternehmen sollten möglichst Ruhe bewahren und wachsam bleiben. Sie sollten keine unnötigen Risiken eingehen, diese, wo möglich, so gut es geht verringern, ihre Lieferketten und Finanzen sorgfältig im Blick behalten und Investitionen genau planen. Aber sie sollten auch nicht in Panik verfallen. Schockstarre hilft nicht und zu langes Warten birgt oft auch die Gefahr, den Zug zu verpassen.