Weiter Waffen liefern oder Frieden jetzt? Beide Seiten müssen fünf entscheidende Fragen beantworten

Quelle: Tagesspiegel Weiter Waffen liefern oder Frieden jetzt? : Beide Seiten müssen fünf entscheidende Fragen beantworten (tagesspiegel.de)

Kommentar von Malte Lehming – 16.02.2023,

Weiter Waffen liefern oder Frieden jetzt? Beide Seiten müssen fünf entscheidende Fragen beantworten

„Manifest für Frieden“, Habermas-Essay: Die Debatte über die richtige Ukraine-Politik droht in einer Sackgasse zu enden. Die Kontrahenten haben sich eingemauert. Das muss sich ändern.

Deutschland streitet. Das darf sein in einer Demokratie. Es muss auch sein, denn das Thema hat es verdient – Krieg und Frieden, Waffenlieferungen und Verhandlungen. Der Ton ist gereizt, wen wundert’s? Auch antiliberale Reflexe brechen sich Bahn. Zeitungen werden kritisiert, weil sie missliebige Positionen abdrucken. TV-Sender, weil in Talkshows missliebige Personen zu Wort kommen.

Gelegentlich scheint es: Nicht das bessere Argument soll sich durchsetzen, sondern die durchsetzungsstärkste Lobby. Aber es wäre absurd, im Namen der liberalen Demokratie die Ukraine zu unterstützen, Dissens zu Hause aber unterbinden zu wollen, weil er angeblich dem Gegner nützt. Das erinnert an den sogenannten Flüchtlingsherbst 2015, als sich die „Refugees-welcome“-Fraktion lustig machte über den „besorgten Bürger“. Es erinnert auch an divergierende Ansichten über den Sinn von Anti-Corona-Maßnahmen. Impfungen, Masken, Quarantäne. Plötzlich lebten die Montagsdemonstrationen wieder auf. Wo endet die Freiheit des Einzelnen? Um diese Frage kreiste die Kontroverse.

Jürgen Habermas plädiert für baldige Verhandlungen

Nun also der Krieg in der Ukraine und die deutsche Antwort darauf. Der Jahrestag des russischen Überfalls naht. Manifeste und Offene Briefe werden verfasst. Jürgen Habermas plädiert für baldige Verhandlungen. Prompt wird ihm Verrat an den Ukrainern vorgeworfen. Eine Verständigung der beiden Lager scheint kaum möglich. Felsenfest sind alle Beteiligten davon überzeugt, für das moralisch Richtige einzutreten. Russland ist der Aggressor und gleichzeitig eine atomare Supermacht. Daraus entsteht zum einen die Pflicht, das Opfer in seinen Verteidigungsbemühungen nach Kräften zu unterstützen. Zum anderen nährt es die Angst, dass der Aggressor Nuklearwaffen einsetzt.Das führt in ein Dilemma, das sich durch objektive Kriterien nicht auflösen lässt. Was wiegt schwerer – die Angst vor russischem Imperialismus und russischer Brutalität oder die Angst vor einer Eskalation des Krieges? In die Antwort fließen persönliche Erfahrungen ebenso mit ein wie Charaktereigenschaften.

Plakative Vorwürfe wie Appeasement und Bellizismus dienen vor allem der Abschottung der eigenen vor der gegnerischen Sichtweise. Doch soll die Debatte redlich geführt werden, müssen Antworten auf zentrale Einwände vorgebracht werden. Vielleicht hilft es, den Kontrahenten fünf Fragen zu stellen.

Fünf Fragen an die Adresse der Waffenlieferungsfraktion:

  1. Sie behaupten, der Westen habe Wladimir Putin zu lange zu wenig ernst genommen. Ob 2008 beim Einmarsch in Georgien oder 2014 bei der Annexion der Krim – Putin habe nie ein Hehl aus seinen neoimperialen Absichten gemacht. Er sollte daher unbedingt beim Wort genommen werden. Seine Drohung aber, im Krieg gegen die Ukraine „alle zur Verfügung stehenden Mittel“ einzusetzen, also auch Atomwaffen, sei nur ein Bluff. Ja, was denn nun? Wann muss Putin beim Wort genommen werden und wann nicht?
  2. Was sagen Sie, falls Putin tatsächlich eine taktische Atomwaffe einsetzt? „Damit konnte keiner rechnen“ oder „Ich habe mich leider geirrt“?
  3. Sie behaupten, dass die russische Armee durch den Krieg in der Ukraine sehr geschwächt wurde. Die Bodentruppen erhielten keine Unterstützung mehr durch die Luftwaffe. Die russischen Streitkräfte seien in einem desolaten Zustand. Die Hälfte der russischen Panzer sei zerstört. Sie warnen aber davor, dass Russland mit seinen Soldaten über die Ukraine hinaus gen Moldau, Baltikum, Georgien und Polen marschieren könnte. Ist das eine realistische Gefahr?
  4. Sie sagen, Russland müsse besiegt werden, damit Putins Neoimperialismus endgültig keine Chance hat, sich weiter Bahn zu brechen. Wer aber hindert Putin oder einen womöglich noch brutaleren Nachfolger daran, nach einer Niederlage Russlands wieder massiv aufzurüsten? Sanktionen wirken offenbar nur sehr eingeschränkt.
  5. Wann ist Ihre Forderung, Russland müsse besiegt werden, erfüllt? Schließt das die vollständige Rückeroberung aller besetzten Gebiete und der Krim mit ein? Viele Sicherheitsexperten halten es nicht für möglich, dieses Ziel in absehbarer Zeit zu erreichen. Soll denn ewig gekämpft und gestorben werden?

Fünf Fragen an die Adresse der Verhandlungsbereiten:

  1. Sie warnen vor einer Eskalation des Krieges, auch mit Blick auf das russische Atomwaffenarsenal. Aber wenn der Westen gar kein Risiko in Kauf nimmt und gar keinen Widerstand leistet, weil Russland nun mal Atomwaffen hat, dann hat Putin freie Hand, seine Soldaten, wo immer er will, morden, brandschatzen und vergewaltigen zu lassen. Möchten Sie ihn dazu ermuntern?
  2. Sie haben Angst vor einem Einsatz von Atomwaffen. Aber droht Putin nicht regelmäßig damit, ohne es zu tun? Schließlich wären die Konsequenzen für sein Land verheerend. Das Pentagon hat bereits eine Reihe von Optionen erarbeitet, wie die USA darauf reagieren würden. Wahrscheinlich käme es als erstes zu einem massiven konventionellen Schlag gegen die russische Schwarzmeerflotte. Die nukleare Abschreckung hat während des Kalten Krieges jahrzehntelang funktioniert. Warum nicht auch jetzt?
  3. Sie fordern Verhandlungen mit dem Ziel, den Status vom 23. Februar 2022 wieder herzustellen. Mit anderen Worten: Die Ukraine soll für einen Waffenstillstand auf ihr Recht auf territoriale Integrität verzichten. Dabei war ihr die Souveränität im Budapester Memorandum auch von Russland zugesichert worden. Wollen Sie, dass militärische Aggression belohnt wird?
  4. Sie appellieren an die Regierungen des Westens, die Ukraine zu Verhandlungen zu drängen. Das heißt, der Westen soll dem Opfer vorschreiben, sich nicht länger wehren zu dürfen. Andererseits verteidigt die Ukraine nicht nur ihr eigenes Land, sondern auch die europäische Friedensordnung. Wir lassen sie also erst für uns kämpfen und fordern sie dann auf, die Waffen niederzulegen und dem Aggressor Land und Leute zu überlassen. Ist das fair?
  5. Sie fordern einen für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss. Kann es zwischen Vernichtungswilligen und jenen, die der Vernichtung ausgeliefert sind, einen Kompromiss geben? Wie hätte ein solcher Kompromiss vor 80 Jahren zwischen Nazi-Deutschland und dem europäischen Judentum ausgesehen? Oder zwischen Nazi-Deutschland und den Sinti und Roma?

Deutschland streitet über den richtigen Weg zum Frieden. Es ist selber nicht Kriegspartei, liegt aber geografisch in einem möglichen Eskalationsraum. Ein Streit, in dem vornehmlich die eigenen Argumente repetiert werden, führt in die Sackgasse. Wer nicht bereit ist, sich mit den Argumenten der Gegenseite auseinanderzusetzen, bleibt in der Sackgasse.

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Wie man sich auf Friedensgespräche in der Ukraine vorbereiten kann

Wie man sich auf Friedensgespräche in der Ukraine vorbereiten kannEinen Krieg zu beenden erfordert vorausschauendes Denken  Von Thomas R. Pickering
14. März 2023
Automatische, von Ralf Becker am 15. März korrigierte Übersetzung

Russlands brutaler Krieg in der Ukraine geht unvermindert weiter. Verschiedene
Militäraktionen wechseln sich ab mit dem Interesse an Friedensverhandlungen. Doch ein
klares Ende ist nicht in Sicht. Keine Seite hat eine realistische Erwartung eines
militärischen Sieges oder einer bedingungslosen Kapitulation.

Alle Konfliktparteien haben deutlich gemacht, dass sie es für Diplomatie für zu früh halten.
Aber irgendwann wird die Zeit für Verhandlungen kommen, und es ist wichtig, dass die
Vereinigten Staaten sorgfältig für diesen Tag planen. Andernfalls wird Washington zu
einem übereilten und schlecht durchdachten Ansatz zur Beendigung des Krieges
gezwungen – ein Fehler, den die Vereinigten Staaten in jedem ernsthaften Konflikt
begangen haben, in den sie seit 1945 involviert waren. Kein Krieg endet ohne politische
Konsequenzen. Entweder engagieren sich die Vereinigten Staaten, diese Konsequenzen
so zu gestalten, dass sie ihren Interessen dienen, oder andere werden die Konsequenzen
an ihrer Stelle gestalten.

Die Beendigung eines Krieges erfolgt in drei Phasen: Frühe Vorbereitungen,
Vorverhandlungen und Verhandlungen selbst. Die erste Phase umfasst die Lösung
interner Meinungsverschiedenheiten und die Öffnung der Kommunikation zwischen den
Parteien: Jede Partei klärt ihre eigenen Meinungsverschiedenheiten und überprüft die
Positionen und Einstellungen der anderen Parteien zur Festlegung von Prioritäten und
Strategien. Die zweite Phase besteht darin, die Grundlagen für offizielle Verhandlungen zu
schaffen, unter anderem indem festgelegt wird, wo und wann sie stattfinden und wer
teilnehmen wird. Die dritte Phase betrifft die direkten Gespräche, diese Phase verbinden
die meisten Menschen mit Diplomatie.

Jede Phase der Friedensschaffung beinhaltet Wahloptionen. Kein Prozess ist eine
eindeutige Vorlage für den weiteren Verlauf. Entscheidungen führen zu Weggabelungen,
die einige Möglichkeiten eröffnen und andere verschließen. Politische Umstände,
Hebelwirkung und sich verändernde militärische Realitäten beeinflussen die
Vorbereitungen. Wie Schlachtpläne mögen Friedenspläne den ersten Kontakt mit dem
Feind nicht überleben, aber die im Vorfeld der Verhandlungen gelegten Grundlagen
werden stets die Entscheidungsfindung und die Chancen auf ein günstiges Ergebnis
beeinflussen.

THOMAS R. PICKERING ist Senior Counselor bei der Albright Stonebridge Group.
Er ist seit mehr als vier Jahrzehnten als USDiplomat tätig, unter anderem als
Unterstaatssekretär für politische Angelegenheiten und Botschafter bei den Vereinten
Nationen.

Originaltext in Foreign Affairs

Ganzer Text (in deutscher Übersetzung): Wie man sich auf Friedensgespräche in der Ukraine vorbereiten kann Th. P. Pickering –  14.3.23 – in Foreign Affairs

Die Unbeugsamen – die Geschichte der Frauen der Bonner Republik

Die Unbeugsamen

„Die Unbeugsamen“ erzählt die Geschichte der Frauen der Bonner Republik, die Politik nicht allein den Männern überlassen wollten und mutig und selbstbewusst gegen Vorurteile ankämpften. Produktionsland und -jahr:Deutschland 2020

Der Dokumentarfilmer Torsten Körner zeigt durch Interviews und eindrucksvolles Archivmaterial namhafter Politikerinnen die Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus konsequent aus ihrer Perspektive und macht so deutlich, wie viel sie verändert haben.

In zwölf Kapiteln, die ausschnitthaft Etappen der Nachkriegsgeschichte in Erinnerung rufen und teils um Persönlichkeiten, teils um markante Parlamentsdebatten kreisen, wird nachvollziehbar, dass Frauen sich ihre Beteiligung an den demokratischen Entscheidungsprozessen gegen erfolgsbesessene und amtstrunkene Männer erkämpfen mussten. Unerschrocken, ehrgeizig und mit unendlicher Geduld verfolgten sie ihren Weg und trotzten Vorurteilen und sexueller Diskriminierung.

Politikerinnen von damals wie Roswitha Verhülsdonk (CDU), Rita Süssmuth (CDU), Helga Schuchardt (FDP), Renate Schmidt (SPD), Ursula Männle (CSU), Ingrid Matthäus-Maier (FDP/SPD), Christa Nickels (Die Grünen) und andere mehr kommen heute zu Wort. Ihre Erinnerungen sind zugleich komisch und bitter, absurd und bisweilen erschreckend aktuell. Historische Aufnahmen zeigen außerdem politische Vorreiterinnen wie Aenne Brauksiepe (CDU), Hildegard Hamm-Brücher (FDP), Waltraud Schoppe und Petra Kelly (Die Grünen).

Verflochten mit zum Teil ungesehenen Funden aus dem Archiv ist dem Dokumentarfilmer und Journalisten Torsten Körner („Angela Merkel – Die Unerwartete“) eine emotional bewegende Chronik westdeutscher Politik von den 1950er-Jahren bis in die Zeit nach der Wiedervereinigung geglückt. Er beendet seinen Film mit dem Aufstieg Angela Merkels. Entstanden ist ein erkenntnisreiches Zeitdokument, das einen unüberhörbaren Beitrag zur nach wie vor aktuellen Gleichstellungsdiskussion leistet.

Herfried Münkler: „Waffenstillstandsverhandlungen sind immer denkbar, die Frage ist nur, mit welcher Aussicht auf Erfolg und unter welchen Bedingungen“