Wie sich der anhaltende Erfolg der AfD erklären lässt

Mit dem Grundgesetz in den Sozialismus?

Quelle: Jacobin   21.5.2021

Mit dem Grundgesetz in den Sozialismus?

Artikel 15 im Grundgesetz erlaubt die Sozialisierung ganzer Wirtschaftszweige. Die Möglichkeit eines demokratischen Übergangs zum Sozialismus scheint hier angelegt zu sein. Aber Vergesellschaftung alleine macht noch kein neues Wirtschaftssystem.

Ob das Grundgesetz der Wahrung oder Überwindung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse dient, ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse.

Von Samuel Decker

In Berlin wird ein Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne und der Vergesellschaftung ihrer Immobilienbestände immer wahrscheinlicher. Für den Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« wurden bislang etwa 100.000 gültige Unterschriften gesammelt – insgesamt werden bis Ende Juni 175.000 gültige Unterschriften benötigt. Die Endphase der Kampagne fällt mitten in die Wahlkampfzeit. Damit steht eine polarisierende Debatte über den bisher nie erfolgreich eingesetzten Vergesellschaftungsartikel im Grundgesetz bevor.

Während die Immobilienlobby, Wirtschaftsverbände und wirtschaftsfreundliche Parteien alles daran setzen werden, um die Enteignungsforderung zu diskreditieren, ist zu erwarten, dass die gesellschaftliche Linke über die transformativen Potenziale des Grundgesetzes debattieren wird – denn die sind alles andere als eindeutig.

Das Grundgesetz als Klassenkompromiss

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs stellte Kapitalismuskritik noch eine mehrheitsfähige gesellschaftliche Strömung dar. Das zeigt sich unter anderem in Artikel 15 des Grundgesetzes, auf den sich die Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen bezieht. Dieser besagt: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.« Es gibt also keine »Gewährleistungsgarantie« für das Eigentum – Eingriffe ins Eigentum sind explizit vorgesehen; sie müssen jedoch begründet und mit dem Eigentumsrecht abgewogen werden. Praktisch angewendet wurde Artikel 15 bislang noch nie.

Der Verfassungsrechtler und selbst erklärte »marxistische Sozialist« Wolfgang Abendroth interpretierte das Grundgesetz in den 1950er Jahren als einen Klassenkompromiss, der die Wirtschaftsordnung »zur Disposition der Gesellschaft [stellt], die sich im demokratischen Staat selbst bestimmt«. In anderen Worten: Die Verfassung ist nicht auf die kapitalistische Wirtschaftsordnung festgelegt. Auch der national-konservative Staatsrechtslehrer Hans Ipsen argumentierte in einem Vortrag von 1951, dass eine »Ablösung der kapitalistischen Ordnung … ohne einen Bruch der legalen Kontinuität« durch Artikel 15 möglich sei.

Abendroth interpretierte die Verfassung als widersprüchliches Kräfteverhältnis, das sowohl als Garant der kapitalistischen Ordnung als auch als Vehikel für deren Transformation fungieren kann. Ob das Grundgesetz zur Wahrung oder Überwindung der kapitalistischen Eigentumsordnung angewendet wird, wäre nach Abendroth damit eine Frage der gesellschaftlichen Hegemonie: »Wenn nämlich der Widerstand stets erfolgreich ist, entwickelt sich das Klassenbewusstsein der ungeheuren Majorität der Bevölkerung … dahin, dass sie dann die Möglichkeit des Art. 15 des Grundgesetzes nutzt«. Abendroth, der in den 1920er und 30er Jahren noch dafür eingetreten war, die Verfassung der Weimarer Republik durch eine Räteverfassung und den Staatsapparat durch einen Rätestaat zu ersetzen, sieht hier die Möglichkeit eines demokratischen Übergangs zum Sozialismus unter Verwendung von Artikel 15.

Über Artikel 15 entscheiden am Ende die Gerichte 

Heute stellt sich die Frage, ob diese Interpretation und strategische Stoßrichtung noch eine Perspektive bietet. Die Kritik am Kapitalismus und deren wirtschaftswissenschaftliche Ermöglichungsbedingungen sind seit den Frühzeiten des Grundgesetzes, in denen auch die CDU noch für die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien eintrat, ins Abseits gedrängt worden. Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner Mietendeckel zeugt davon. Zwar wurde keine inhaltliche Prüfung des Gesetzes vorgenommen; doch gerade die Beanstandungen auf Ebene von Formalitäts- und Zuständigkeitsaspekten sind ein gängiges Mittel, um linke Gesetzgebungsinitiativen auflaufen zu lassen.

Seit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 haben sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und damit auch der rechtswissenschaftliche Diskurs zu Ungunsten der Linken verschoben. Auch wenn Artikel 15 des Grundgesetzes ursprünglich als Instrument der umfassenden Vergesellschaftung verschiedener Wirtschaftsbereiche vorgesehen war, können Verfassungsgerichte und andere Staatsapparate Mittel und Wege finden, um den Vergesellschaftungsartikel nachträglich zu neutralisieren – oder ihn perspektivisch ganz abzuschaffen, wie es die FDP fordert.

Von rechtskonservativer Seite wird zunächst in Frage gestellt, ob Vergesellschaftungen auf Basis von Artikel 15 mit der Landesverfassung Berlins vereinbar sind. Die Landesverfassung gewähre »den Berlinern mehr Eigentumsschutz als die Bundesverfassung«, behauptete etwa der Anwalt Benedikt Wolfers, dessen Kanzlei die Deutsche Wohnen vertritt, im Tagespiegel. Die Landesverfassung erwähne in Artikel 23 Absatz 2 nur die Enteignung, nicht jedoch die Vergesellschaftung, so Wolfers. Wie der Richter John Philipp Thurn ausführte, wird diese Auslegung jedoch nur von einer Minderheit vertreten.

Doch auch wenn Artikel 15 grundsätzlich in Berlin gilt, stehen seiner erfolgreichen Anwendung diverse rechtliche Hürden entgegen. Wie die Juristin und ehemalige rechtspolitische Sprecherin der LINKEN Halina Wawzyniak feststellte, wird die Zukunft von Artikel 15 maßgeblich davon abhängen, wie der Begriff des »Produktionsmittels« interpretiert wird. Durch eine bewusst extrem enge Auslegung könnte das Bundesverfassungsgericht Artikel 15 nach seinem langen Dornröschenschlaf direkt wieder beerdigen.

Artikel 15 unterliegt zudem – wie auch das Mietrecht – der konkurrierenden Gesetzgebung. So könnte der Staat auf Bundesebene Gesetze zu Artikel 15 erlassen, um die »Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse« zu wahren, wie es der wissenschaftliche Dienst des Bundestags ausdrückt. Damit wäre Artikel 15 den Bundesländern und damit jeglichen direktdemokratischen Instrumenten entzogen. Ob die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Bundesgesetzgebung erfüllt sind, würde wiederum das Bundesverfassungsgericht entscheiden.

Kampf um Interessen

Das größte rechtliche Problem für eine demokratisch-sozialistische Transformation auf Basis des Grundgesetzes stellt jedoch der generelle Grundsatz zur Abwägung unterschiedlicher Rechtsgüter dar. Das Grundgesetz schreibt vor, zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den Interessen der Eigentümerinnen und Eigentümer abzuwägen. Wie diese Bewertung ausfällt, hängt von den Kräfteverhältnissen und dem juristischen und öffentlichen Diskurs ab. Am Ende entscheiden eine Handvoll Verfassungsrichterinnen und-richter auf Bundes- und Landesebene – die bislang nicht durch sozialistisch eingefärbte verfassungsrechtliche Interpretationsansätze auf sich aufmerksam gemacht haben –, ob sie Enteignungen im großen Stil als angemessenes Instrument zur Wahrung des Interesses der »Allgemeinheit« an bezahlbaren Wohnungen einordnen.

Doch selbst wenn Enteignungen zulässig sind, könnte eine Entschädigung, die sich an der Höhe des Marktwerts orientiert, angeordnet werden – ein aus linker Perspektive höchst unbefriedigender Kompromiss. Artikel 15 mag aus heutiger Sicht ausgesprochen progressiv erscheinen, doch wird die Verfassung immer zumindest anteilig die Interessen der Eigentums- und Kapitalbesitzenden schützen.

Zwar steht das Eigentumsrecht nicht unter dem Schutz der Ewigkeitsklausel und könnte daher auf demokratischem Weg durch eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat reformiert werden. Eine solche Teil- oder Totalrevision des Grundgesetzes würde aber eben einen »Bruch der legalen Kontinuität« bedeuten, den Hans Ipsen noch für nicht erforderlich erachtete.

Alternativen zur Marktwirtschaft

Hinzu kommt, dass sich eine demokratisch-sozialistische Wirtschaftsordnung nicht allein durch die umfassende Vergesellschaftung von Produktionsmitteln aufbauen lässt. Denn jenseits der »Produktionssphäre« müssten auch die Märkte und kapitalistisches Geld in seiner Investitionsfunktion überwunden werden.

Ein demokratischer Sozialismus, wie ihn beispielsweise die »Democratic Socialists of America« fordern, setzt vor allem auf einen umfassenden Sozialstaat und die Kontrolle der Unternehmen durch die Arbeitenden. Damit wäre die für den Kapitalismus konstitutive Trennung zwischen Kapital und Arbeit zwar innerhalb eines Unternehmens transformiert, die demokratisch kontrollierten Unternehmen würden aber dennoch weiterhin auf Märkten zueinander in Konkurrenz treten. Das Kapitalverhältnis drückt sich nicht nur durch die unmittelbare Trennung der Produzierenden von den Produktionsmitteln aus, sondern auch durch die Konkurrenz der Unternehmen untereinander.

Daher reicht es nicht aus, Unternehmen in den Besitz der Arbeitenden – oder Wohnungen in Besitz der Mieterinnen und Mieter – zu überführen. Neben der Demokratisierung der Wirtschaft auf betriebswirtschaftlicher Ebene ist auch eine Demokratisierung auf makroökonomischer Ebene notwendig, und zwar in Form gesamtgesellschaftlicher Koordination und Planung. Deren konkrete ökonomische Funktionsweise ist jedoch ebenso unklar wie die rechtlichen Grundlagen, die für sie zu schaffen wären.

Demokratische Planung und das Verfassungsrecht

Einen ersten Anhaltspunkt dafür, wie ein Übergang zu ökonomischer Planung aussehen könnte, lieferte ironischerweise Wirtschaftsminister Peter Altmeier mit seiner »Nationalen Industriestrategie 2030«. In der im Februar 2019 veröffentlichten Version des Strategiepapiers aus dem Wirtschaftsministerium wird die »Schaffung einer nationalen Beteiligungsfazilität« vorgeschlagen, »über deren Umfang regelmäßig dem Parlament zu berichten ist«. Ein an den Bundestag rückgekoppelter Staatsfonds soll Unternehmen aufkaufen oder in bestehende Unternehmen investieren, um auf diesem Weg Einfluss auf die Wirtschaft zu nehmen.

Neben solchen (Teil-)Verstaatlichungen, von denen auch in der Rezession von 2008/2009 und während der Corona-Pandemie Gebrauch gemacht wurde, bietet die Geldpolitik der Zentralbanken Ansatzpunkte für ökonomische Planung. Im Rahmen der Quantitativen Lockerung haben Zentralbanken zunächst nur in Japan (seit 2001), später auch in den USA (seit 2008) und schließlich auch im Euroraum (seit 2015) begonnen, »faule« Kredite und Wertpapiere von Privatbanken abzukaufen. Dabei wird Geld »aus dem Nichts« erzeugt und den Banken gutgeschrieben, um Staats-, Unternehmens- oder Bankenpleiten abzuwenden. Die Geldschöpfungsfunktion der Zentralbanken könnte grundsätzlich also auch für die Erreichung sozial-ökologischer Ziele umfunktioniert werden.

Doch in der Praxis lassen sich die geld- und fiskalpolitischen Werkzeuge, die der Staat für die Absicherung der Kapitalakkumulation in Krisenzeiten einsetzt, nicht so einfach gegen den Kapitalismus richten. Der Staatsfonds aus Peter Altmeiers Industriestrategie sollte etwa nur in stark limitierter Höhe aufgesetzt werden und ausschließlich der Förderung kapitalistischer Innovationen und der Unterstützung nationaler »Champions« auf dem Weltmarkt dienen.

Andere wirtschaftspolitische Ziele wären von der Gesetzeslage nicht abgedeckt. Der 1967 ins Grundgesetz eingefügte Artikel 109 legt das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als ökonomisches Staatsziel fest. Zu den Zielen dieser Wirtschaftsdoktrin, die auch als »magisches Viereck« bekannt ist, gehört unter anderem auch stetiges Wirtschaftswachstum. Die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft, die notwendig wäre, um das 1,5-Grad-Klimaziel zu erreichen, ist mit stetigem Wachstum des BIP jedoch nicht vereinbar. Allerdings diente Artikel 109 – und mit ihm das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, das den Grundgesetzartikel konkretisiert – auch dazu, antizyklische, keynesianische Investitionen zu tätigen. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz ist daher ambivalent zu bewerten und ließe sich auch im Sinne einer stärkeren Wirtschaftsplanung und Investitionslenkung weiterentwickeln. Dies schlugen etwa die Grünen im Jahr 1990 mit ihrem Antrag auf ein »Gesetz für eine ökologisch-soziale Wirtschaft« vor.

Durch die EU-Verträge und nicht zuletzt die Schuldenbremse wurde das aus linker Perspektive ohnehine begrenzte Wachstums- und Stabilitätsgesetz neoliberal eingehegt. Artikel 119 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union schreibt »stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz« vor. Während das »magische Viereck« noch das außenwirtschaftliche Gleichgewicht und einen hohen Beschäftigungsgrad als wirtschaftspolitische Ziele vorgab, wird im EU-Vertrag der Fokus auf »gesunde öffentliche Finanzen« gelegt. Und auch die deutsche Schuldenbremse, die im Jahr 2009 mit Artikel 115 im Grundgesetz verankert wurde, verlegt den Fokus weg von staatlicher Nachfragesteuerung hin zur Haushaltskonsolidierung.

Den Übergang ebnen

Insgesamt zeigt sich, dass gravierende rechtliche Hürden sowohl für die flächendeckende Vergesellschaftung der Unternehmen »von unten«, als auch für gelenkte Investitionen und Wirtschaftsplanung »von oben« bestehen. Kampagnen wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen sind gerade deswegen besonders wichtig. Denn sie tragen dazu bei, die juristischen Spielräume für eine andere Wirtschaftsform auszuloten und gegebenenfalls zu erweitern, wenn dies gesellschaftlich mehrheitsfähig ist.

Auf Basis einer großzügigen Vergesellschaftung, eines stark reformierten Wachstums- und Stabilitätsgesetzes, einer Abschaffung der Schuldenbremse sowie durch direkte oder indirekte Finanzierung öffentlicher Investitionen durch Zentralbanken, könnte die erste Stufe eines sozialistischen Übergangssystems denkbar sein. Dieses Übergangssystem würde auf frei zugänglichen Grundgütern »an der Basis« der Ökonomie, auf vergesellschafteten Unternehmen »in der Mitte« der Ökonomie und demokratischer Wirtschaftsplanung »an der Spitze« der Ökonomie basieren. Diese Form eines sozialistischen Übergangssystems fasste Nancy Fraser einmal mit der Formel »keine Märkte am oberen und unteren Ende, aber möglicherweise Märkte dazwischen« zusammen.

Längerfristig könnte ein digitales Koordinationsnetzwerk zwischen Unternehmen, politischen Entscheidungsgremien und Endverbraucherinnen und -verbrauchen auch »die Märkte dazwischen« ablösen und Märkte als ökonomischen Gesamtzusammenhang ersetzen. Der Politikwissenschaftler Daniel E. Saros schlägt dafür in seinem Buch Information Technology and Socialist Construction ein demokratisch gesteuertes Informationssystem vor: Genossenschaftlich strukturierte Unternehmen bieten in einem online zugänglichen »General Catalogue« Güter und Dienstleistungen an – eine Art »sozialistisches Amazon«, wie es der Publizist Evgeny Morozov einmal beschrieb.

In Saros’ Entwurf würden sich Einzelpersonen im »General Catalogue« für Güter und Dienstleistungen registrieren und die Unternehmen würden daraufhin Produktionsmittel gemäß der registrierten Nachfrage zugeteilt bekommen, um die angebotenen Güter auch tatsächlich zu produzieren. Die Konsumenten erhielten über ihre Arbeitstätigkeit »Credits«, um die registrierten Güter zu »kaufen«. Doch anders als im Kapitalismus verwandelt sich die Nachfrage nicht in neues Kapital. Nach Einlösen der Credits verschwinden diese einfach. Im Modell von Daniel E. Saros gibt also noch Arbeit und Einkommen, aber weder Märkte und noch Kapital.

Auch wenn sowohl beim Sozialismus-Modell von Daniel E. Saros, als auch dem eher marktsozialistisch ausgerichteten Modell von Nancy Fraser viele wichtige Fragen unbeantwortet bleiben, geben sie dennoch eine Richtung vor, die ein konkretes Transformationsprojekt einschlagen könnte. Die erste Bezugnahme auf Artikel 15 des Grundgesetzes seit den 1950er Jahren und die anstehende Auseinandersetzung um dessen juristische Auslegung, könnte einen ersten Grundstein für eine solche Transformation legen. Gleichzeitig wird eine sozialistische Transformation früher oder später an juristische Grenzen stoßen. Die Formulierung alternativer rechtlicher Bausteine, die auf Basis demokratischer Mehrheiten den bisherigen Rechtsrahmen erweitern, sollte daher fester Bestandteil von linken Kampagnen werden.

Samuel Decker ist heterodoxer Ökonom und in sozialen Bewegungen aktiv.

Vergesellschaft – verfassungsrechtlich kein Problem

Quelle: Website Rosa-Luxemburg-Stiftung

Ja zur Vergesellschaftung Was kann Artikel 15 Grundgesetz?

Warum Vergesellschaftung verfassungsrechtlich zumindest kein Problem ist

AUTOR/INNEN: Franziska DrohselCara RöhnerBarbara FriedArmin Kuhn

Franziska Drohsel und Cara Röhner im Interview. Das Gespräch führten Barbara Fried und Armin Kuhn.

Dem Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE) haben im September 2021 fast 60 Prozent der Berliner Wähler*innen zugestimmt. Er sieht vor, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik den Artikel 15 Grundgesetz (GG) zur Anwendung zu bringen und große Wohnungsbestände von privaten Unternehmen zu vergesellschaften. Was genau besagt dieser Artikel?

Franziska: Artikel 15 Grundgesetz besagt, dass «Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel […] in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden» können. Das heißt, das Grundgesetz sieht ausdrücklich vor, dass bestimmte Bereiche unserer Wirtschaft dem Markt entzogen, also vergesellschaftet, gemeinwirtschaftlich organisiert und demokratisch verwaltet werden können, sofern der Gesetzgeber das beschließt.

Wie kam es dazu?

Franziska: Bei der Entstehung des Grundgesetzes in den Jahren 1948/49 war der Artikel durchaus umstritten. Für die Sozialdemokratie war er allerdings entscheidend. Sie hat ihre Zustimmung zur Verfassung daran geknüpft. Später hat das Bundesverfassungsgericht von einer «wirtschaftspolitischen Neutralität» des Grundgesetzes gesprochen. Das bedeutet, dass unsere Verfassung hinsichtlich der Wirtschaftsordnung insofern keine Vorgaben macht, als eine kapitalistische Marktwirtschaft darin nicht festgeschrieben ist. In der Geschichte der BRD gab es ja auch lange Zeit Bereiche wie die Bundespost oder die Bahn, die dem Markt entzogen waren. Das wäre heute auch für andere Bereiche denkbar.

Dieses Interview erscheint in der LuXemburg-Ausgabe 1-2022 «Besitz Ergreifen».

 ür welche zum Beispiel?

Cara: Die im Artikel genannten Güter – «Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel» – sind solche, die für die wirtschaftliche Organisierung einer Gesellschaft zentral sind. Gerade weil sie so elementar sind, sollen sie sozialisierungsfähig sein und per Gesetz der Verfügungsmacht privater Eigentümer*innen entzogen werden können. Im Kern geht es um die Demokratisierung der Wirtschaft dadurch, dass eine gesellschaftliche Verfügungsmacht über zentrale Güter und Ressourcen hergestellt wird.

Die IG Metall hat in den 1980er Jahren mal einen gescheiterten Vorstoß zur Vergesellschaftung der Stahlindustrie gestartet. Warum ist der Artikel 15 noch nie zur Anwendung gekommen?

Cara: Bei der Entstehung des Grundgesetzes war es das Fernziel der Sozialdemokratie, den demokratischen Sozialismus per Gesetz einführen zu können – das war etwas legalistisch gedacht, aber genau diese Möglichkeit sollte mit Artikel 15 GG offengehalten werden. Doch dann drehte sich der Wind: Der Ost-West-Konflikt, das sogenannte Wirtschaftswunder, der Ausbau des Sozialstaats und die tarifpolitischen Erfolge der Gewerkschaften führten zu einer Situation, in der Forderungen nach Vergesellschaftung keine politische Zugkraft mehr hatten. Später, im Neoliberalismus, kam das Dogma der Privatisierung hinzu. In diesem Kontext war Vergesellschaftung, etwa als Krisenlösung für die Stahlindustrie, nicht mehr denkbar.

 Warum hat sich das jetzt geändert?

Cara: Es ist interessant, dass die Debatte zu einem Zeitpunkt wieder relevant wird, an dem sich gesellschaftliche Krisen zuspitzen. Vergesellschaftung wurde erstmals wieder während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 politisch diskutiert. Dabei sollte es aber um die Rettung der Banken gehen – Vergesellschaftung also als verfassungsrechtliches Mittel zur Rettung des Kapitalismus. Genau das ist aber nicht Sinn und Zweck von Artikel 15 GG. Die aktuelle Wohnungskrise hat nun dazu geführt, sich zivilgesellschaftlich auf Artikel 15 GG zurückzubesinnen. Der Leidensdruck in den Städten ist derart hoch, dass die Menschen Wohnen anders organisieren wollen und auch erkennen, dass dies über die Vergesellschaftung gemeinsam erreicht werden kann. Hier sehe ich eine echte Chance.

Wie steht es denn mit Artikel 14 GG? Danach wird ja ständig enteignet – aktuell laufen allein 140 Verfahren im Zusammenhang mit dem Autobahnbau. Was ist verfassungsrechtlich der Unterschied?

Franziska: Die beiden Artikel sind eigentlich gar nicht vergleichbar. Während es bei Artikel 15 darum geht, wie zentrale Wirtschaftsbereiche gesellschaftlich zu organisieren sind, geht es bei Artikel 14 darum, Grundrechtspositionen von Einzelnen zu schützen. Menschen sollen beispielsweise davor geschützt werden, ihr Zuhause zu verlieren, weil Kohle abgebaggert oder eine Autobahn gebaut werden soll. Ein solcher Eingriff in privates Eigentum muss gerechtfertigt sein, ist nur zum Wohle der Allgemeinheit möglich und muss entschädigt werden. Bei Artikel 14 geht es also um ein Abwehrrecht gegen staatliches Handeln.

Cara: Bei einer Vergesellschaftung, wie sie DWE fordert, steht etwas anderes zur Diskussion: Die Wohnungsbestände großer – börsennotierter – Immobilienkonzerne sollen entprivatisiert werden. Hier geht es um die demokratische Transformation des Wohnungsmarktes zugunsten der Mieter*innen. Insofern lässt sich Artikel 15 als kollektives Grundrecht der Vielen auf Entprivatisierung beschreiben. Von seiner Zielrichtung her unterscheidet sich das von einem individuellen Abwehrrecht. Durch Vergesellschaftung müssen die Immobilienkonzerne ihre Gewinnchancen für die Zukunft schmälern und es kann durchaus sein, dass auch Kleinaktionär*innen davon betroffen sind, das ist so. Aber dafür bedeutet eine gemeinwirtschaftliche Organisierung des Wohnens, dass die große Mehrheit der Menschen Freiheiten gewinnt. Dieser Punkt wird bisher in der Debatte viel zu wenig betont.

 Wie sieht es konkret mit Blick auf den Volksentscheid aus? Die neue Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hält das Anliegen für verfassungswidrig. Eine strittige Frage dabei ist, ob der Artikel 15 in Berlin überhaupt anwendbar ist, da Vergesellschaftung in der Landesverfassung nicht vorgesehen ist. Wie seht ihr das?

Franziska: Für die Überführung von Grund und Boden in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft besteht eine konkurrierende Gesetzgebung. Da der Bund von Artikel 15 bisher keinen Gebrauch gemacht hat, kann der Landesgesetzgeber tätig werden. Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum der Eigentumsschutz in der Berliner Landesverfassung weitergehen soll, als im Grundgesetz. Außerdem bricht Bundesrecht Landesrecht.

Cara: Ich halte das auch für eine Nebelkerze. Das Schweigen einer Landesverfassung kann die wirtschaftliche Öffnungsklausel im Grundgesetz nicht aushebeln. Der Einwand zeigt eher, dass die Gegner*innen wenige gute Argumente haben.

Ein anderes Argument ist, dass eine Vergesellschaftung nur dann zulässig sei, wenn alle anderen Mittel versagt haben – nur als Ultima Ratio. Kann also nur vergesellschaftet werden, wenn alle anderen Mittel, um bezahlbaren Wohnraum zu erhalten, ausgeschöpft sind?

Cara: Ob ein Gesetz verhältnismäßig ist, ist fester Bestandteil jeder verfassungsrechtlichen Prüfung. Der Staat darf nur so weit in individuelle Freiheit eingreifen, wie es unbedingt nötig ist. Aber bei der Vergesellschaftung geht es darum eben nicht, sondern um die Einführung einer anderen Form des Wirtschaftens – um eine Demokratisierung und entsprechend um einen Freiheitsgewinn für die Vielen. Vergesellschaftung ist also keine Ultima Ratio, sondern eine durch die Verfassung legitimierte, demokratische Entscheidung für gemeinwirtschaftliche Eigentums- und Wirtschaftsformen. Es ist ganz wichtig, das zu verstehen: Wenn der Gesetzgeber es will, dann kann er vergesellschaften. Punkt. Er muss lediglich angemessen entschädigen.

Franziska: Ja, der Gesetzgeber muss entscheiden, ob eine Vergesellschaftung zweckmäßig ist. Es lässt sich gut argumentieren, dass der Zweck in der Überführung eines Teils der Wohnungswirtschaft in eine gemeinwohlorientierte Wirtschaftsordnung liegt. Und dafür gibt es kein besseres Mittel als die Vergesellschaftung.

Lässt man sich hilfsweise darauf ein, die die Verhältnismäßigkeit zu diskutieren, gibt es meines Erachtens auch hierfür überzeugende Argumente. Verhältnismäßigkeit ist gegeben, wenn die Maßnahme einem legitimen Ziel dient und zur Erreichung dieses Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist. Das Ziel, auch für Menschen mit geringem Einkommen angemessenen Wohnraum zu schaffen, findet sich in Artikel 28 der Berliner Verfassung. Trotz verschiedener Versuche, den Mietmarkt zu entspannen, steigen die Mieten aber weiter und ärmere Menschen werden aus den Innenstadtbereichen verdrängt. Vor diesem Hintergrund lässt sich gut argumentieren, warum eine Vergesellschaftung von Wohnraum nicht nur sehr geeignet, sondern auch erforderlich und angemessen ist.

 Ihr habt beide betont, dass das Ziel der Vergesellschaftung die demokratische Transformation des Kapitalismus ist. Wie lässt sich dann die Grenze von 3 000 Wohnungen im Bestand eines Wohnungsunternehmens begründen? Oft ist dann von «Sozialisierungsreife» die Rede.

Cara: Die Diskussion um eine Sozialisierungsreife hat ihren historischen Ursprung darin, dass bei einer Vergesellschaftung von Industrie oder Landwirtschaft nicht etwa Kleinstbetriebe mit einigen wenigen Mitarbeiter*innen das Ziel waren, sondern große Wirtschaftseinheiten. Auf Wohnungen übertragen wäre also die Frage, ob auch das Haus der Oma vergesellschaftet werden dürfte. Die Frage stellt sich aber gar nicht, weil die Initiative bewusst gesagt hat, dass es nur um die Bestände großer Wohnungskonzerne gehen soll.

Franziska: Die Frage der Sozialisierungsreife, also ob ein Gut eine gewisse wirtschaftliche Relevanz haben muss, um vergesellschaftet werden zu können, ist durchaus umstritten. Allerdings wäre diese Voraussetzung bei der hier vorgeschlagenen Grenze von 3 000 Wohnungen in meinen Augen erfüllt. Nach aktuellen Schätzungen dürften etwa 10 bis 15 Prozent des Wohnungsbestandes in Berlin betroffen sein – da kann man schon von einer gewissen wirtschaftlichen Bedeutung sprechen.

Und wie steht es mit den Genossenschaften? Manche behaupten, dass auch sie unter ein Vergesellschaftungsgesetz fallen würden.

Cara: Das Grundgesetz sagt, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muss. Verfassungsrechtlich braucht eine Ungleichbehandlung also einen guten Grund, der im Falle der Genossenschaften gegeben ist: Sie sind bereits demokratisch verfasst und haben das Ziel, ihre Mitglieder mit Wohnraum zu versorgen, und zwar nicht gewinnorientiert, sondern zu einer kostendeckenden Miete. Hier liegt der relevante Unterschied zu den privaten Wohnungskonzernen, die Gewinne für ihre Aktionär*innen erwirtschaften wollen.

Franziska: Der Gesetzentwurf der Initiative hat die Genossenschaften explizit ausgenommen, da diese ja bereits gemeinwirtschaftlich organisiert sind. Sie unterscheiden sich von profitorientierten Unternehmen, da sie ihren Mitgliedern gehören und ihr Hauptzweck eben nicht der Profit ist.

Wie ist diese Überführung in Gemeinwirtschaft verfassungsrechtlich zu bestimmen?

Franziska: Artikel 15 GG setzt die Überführung in Gemeineigentum oder Gemeinwirtschaft, also eine neue rechtliche Ordnung voraus. Was DWE vorschlägt, ist etwas grundlegend Neues, und wie das genau aussehen kann, muss natürlich entwickelt und diskutiert werden. Die Idee der Initiative, dafür eine Anstalt öffentlichen Rechts zu schaffen, in der Belegschaft, Mieter*innen und Stadtgesellschaft an den Entscheidungen beteiligt sind, finde ich sehr überzeugend (vgl. Hamann/Demirovic in der LuXemburg-Ausgabe 1-2022 «Besitz Ergreifen»).

Eine strittige Frage ist logischerweise die Höhe der Entschädigung. An welchen rechtlichen Anhaltspunkten könnte sich der Gesetzgeber orientieren?

Franziska: Klar ist, dass «Art und Ausmaß der Entschädigung» geregelt werden müssen – so steht es im Grundgesetz. Aber selbst bei Artikel 14 GG hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass weder eine einmalige Zahlung noch eine Orientierung am Marktwert zwangsläufig ist. Eine Vergesellschaftung dann nur unter Marktgesichtspunkten, also nur nach Verkehrswert zuzulassen, würde ja den Zweck konterkariert. Mit ihrem Faire-Mieten-Modell hat die Initiative einen guten Vorschlag gemacht, der politisch und rechtlich ausführlich diskutiert werden sollte.

Cara: Im Grundgesetz heißt es ja außerdem «unter gerechter Abwägung der Interessen». Diese Abwägung liegt beim Gesetzgeber, der eine politische Entscheidung treffen muss, die nicht offensichtlich ungerecht sein darf. Es ist aber vollkommen klar, dass eine Familie, deren Eigenheim zugunsten des Kohleabbaus enteignet wird, anders entschädigt werden muss als ein DAX-Unternehmen. Für die Aktionär*innen bedeuten geminderte Gewinnchancen eine weniger existenzielle Beeinträchtigung. Der Berliner Senat wird über die Höhe der Entschädigung also politisch befinden müssen und entscheiden, was er unter Abwägung verschiedener Motive und Belange als gerecht betrachtet. Er darf sich dafür entscheiden, den Maximalpreis zu zahlen, er darf aber auch ein anderes, nachvollziehbares Modell wählen, indem er etwa auf die Vorschläge der Initiative oder des Frankfurter Professors Fabian Thiel zurückgreift (vgl. Kuhn in der LuXemburg-Ausgabe 1-2022 «Besitz Ergreifen»).

 Ein Vergesellschaftungsgesetz wird wohl in jedem Fall vor Gericht verhandelt werden. Wenn es verfassungsrechtlich kaum Anhaltspunkte gibt, was haben wir dann zu erwarten?

Cara: Jurist*innen sagen immer, vor Gericht oder auf See sei man in Gottes Hand. Zur Frage der Entschädigung muss der Gesetzgeber seine Entscheidung plausibel begründen und seine Motive schlüssig darlegen. Dass die Entscheidung eine politische ist, werden aber auch die Gerichte anerkennen.

Franziska: Das ist der entscheidende Punkt. In der Diskussion wird oft so getan, als gäbe es keinen Spielraum, etwa wenn behauptet wird, es gehe zwingend um eine Einmalzahlung in astronomischer Höhe. Das halte ich für äußerst problematisch.

Cara: Ja, es führt auch die Bürger*innen in die Irre. Nach dem ablehnenden Urteil zum Mietendeckel verstehe ich die Vorsicht, aber die Spielräume sind im Falle der Vergesellschaftung deutlich größer und die Risiken geringer. Die Chance, hier aktiv zu gestalten und auch rechtlich Neuland zu betreten, sollte das Land Berlin nutzen.

Genau wegen des gescheiterten Mietendeckels machen sich viele Mieter*innen Sorgen, dass die Vergesellschaftung zwar ein originelles, aber ähnlich ›gewagtes‹ Projekt ist und womöglich keinen Bestand haben wird. Wie kann es gelingen, das Vorhaben wasserdicht zu machen?

Cara: Wasserdicht wird das nicht möglich sein – schon weil es keine Präzedenzfälle gibt. Wichtig wird eine gute und detaillierte Gesetzesbegründung sein, die die Abwägungen bei der Entschädigung akribisch darlegt und sich auch mit Gegenargumenten auseinandersetzt.

Franziska: Die Idee, eine Expert*innenkommission einzusetzen mit viel Sachverstand aus mehreren Disziplinen, in der vielleicht auch ehemalige Verfassungsrichter*innen sitzen – das kann schon der richtige Ansatz sein. Sie darf nur nicht dazu genutzt werden, eine mit großer Mehrheit getroffene Entscheidung zu verschleppen.

Cara: Genau, die Umsetzung durch eine lange Prüfung der Verfassungsmäßigkeit hinauszuzögern, wäre fatal. Der Volksentscheid hat den politischen Willen auf beeindruckende Weise demonstriert. Diese demokratische Entscheidung zu ignorieren, stünde einer rot-grün-roten Regierung sehr schlecht zu Gesicht. Das könnte auch ein neues Einfallstor für Rechtspopulismus bieten.

Franziska Drohsel ist Rechtsanwältin und arbeitet als juristische Referentin in der Beratung von Betroffenen sexualisierter Gewalt. Zwischen 2007 und 2010 war sie Bundesvorsitzende der Jusos in der SPD.

Cara Röhner lehrt Jura an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verfassungs-, Sozial- und Antidiskriminierungsrecht, soziale Ungleichheitsverhältnisse und Vergesellschaftung. Zuvor war sie als Juristin und Referentin für Sozialrecht bei der IG Metall tätig.


Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages (2019)

Zur Vergesellschaftung eines privatwirtschaftlichen
Wohnungsunternehmens nach Art. 15 GG

 

Unbequeme Wahrheit: Der oberste US-Militär glaubt nicht an einen schnellen Sieg der Ukraine – und löst Ärger aus 

Quelle: Tagesspiegel

Von Christopher Stolz 17.11.2022

Der US-Generalstabschef Mark Milley sagt wiederholt öffentlich, was nur wenige in der US-Regierung und Kiew so explizit hören wollen. Er sieht die Zeit für Friedensverhandlungen gekommen.

Der Ärger über seine Worte aus der vergangenen Woche hatte sich in Kiew und auch in Teilen der US-Regierung noch nicht gelegt, da legte Mark Milley schon nach. Ein schneller militärischer Sieg der Ukraine sei nicht zu erwarten, erklärte der amerikanische Generalstabschef am Mittwoch auf einer Pressekonferenz. Deshalb sei nun ein guter Zeitpunkt auf politischem Wege eine Entscheidung zu suchen, durch Friedensverhandlungen. So ähnlich hatte Milley das schon vor einigen Tagen gesagt und damit eine kleine diplomatische Krise zwischen Washington und Kiew ausgelöst. Nun gab der Generalstabschef seine Einschätzung, wenn auch mit mehr Kontext, sogar auf einer Pressekonferenz an der Seite des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin zum Besten.

Anders als vor einer Woche auf einer Veranstaltung des Economic Club in New York versuchte der oberste Militär allerdings den Eindruck zu vermeiden, dass die USA die Regierung in Kiew zu Friedensverhandlungen mit Russland im Winter drängen würden. „Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Sieges der Ukraine, definiert als Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim (. . .), ist in absehbarer Zeit nicht hoch“, erklärte Milley etwas umständlich. Er begründete dies damit, dass die jüngst befreiten Gebiete – wie Cherson und Charkiw – im Vergleich zu der Herausforderung, die russischen Streitkräfte aus der gesamten Ukraine vertreiben zu wollen, klein seien.

„Das wird nicht in den nächsten paar Wochen passieren, außer die russische Armee bricht komplett zusammen, was unwahrscheinlich ist“, sagte Milley, fügte aber noch hinzu, dass die Wahrscheinlichkeit eines russischen Siegs über die Ukraine „gegen null geht“. Milley war am Mittwoch auch merklich darauf aus, die Wogen zu glätten, die er knapp eine Woche zuvor ausgelöst hatte. Die USA würden „die Ukraine so lange unterstützen, wie es nötig ist, um sie zu befreien“, sagte er und stellte klar, dass es „an der Ukraine liegt, wie und wann sie mit Russland verhandeln will“. Ähnlich äußerte sich daraufhin auch Verteidigungsminister Austin.

Russland sei am Boden, das Militär leide gewaltig, sagte Milley weiter. Deshalb sei es der ideale Zeitpunkt für Verhandlungen. Denn: „Du willst zu einem Zeitpunkt verhandeln, in dem du stark und dein Gegner schwach ist.“ So pessimistisch und hart die Aussagen Milleys insgesamt klingen: Sind sie die unbequeme Wahrheit über den Krieg oder ein unnötiger Affront gegenüber der ukrainischen Regierung, die die Rückeroberung des gesamten Staatsgebiets als Ziel ausgegeben hat?

Vor einer Woche hatte der US-Generalstabschef zudem noch auf eine historische Lektion aus dem ersten Weltkrieg verwiesen, als verweigerte Verhandlungen der Kriegsparteien zu Millionen von zusätzlichen Toten führten. „Man muss den Augenblick nutzen“, sagte Milley. Er sprach von bisher rund 100.000 toten und verletzten Soldaten auch auf Seiten der Ukrainer. Eine Zahl, die Kiew umgehend dementierte.

Die Wiederholung seiner Worte – auch wenn sie in etwas mehr Kontext verpackt waren – kommt aus mehreren Gründen überraschend. Zum einen hatte der ukrainische Oberkommandeur Walerij Saluschnyj Milley in einem Telefonat am Montag gesagt, dass Kiew bei der Befreiung des Landes von der russischen Besatzung keine Kompromisse akzeptieren werde. „Es gibt nur eine Bedingung für Verhandlungen: Russland muss alle besetzten Gebiete verlassen“, schrieb Saluschnyj nach dem Telefonat auf Telegram. Zum anderen hatten mehrere Offizielle aus dem Umfeld der US-Regierung nach Milleys ersten Aussagen befürchtet, dass diese die Einigkeit des Westens in einem Schlüsselmoment des Kriegs infrage stellen könnten, schreibt die US-Nachrichtenseite „Politico“. Der Zeitpunkt ist tatsächlich auch deshalb ungünstig, weil die Ukrainer unlängst mit der Rückeroberung der strategisch wichtigen Stadt Cherson einen großen Zwischenerfolg erzielt hatten.

Anfang der Woche hatte auch ein Treffen von CIA-Chef Bill Burns mit dem Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergej Naryschkin, für Verwunderung gesorgt. Allerdings stellte die US-Regierung schnell klar, dass es explizit nicht um Friedensverhandlungen gegangen sein soll, sondern ausschließlich um eine Deeskalation aufgrund der russischen Atomdrohungen. Milleys Worte hingegen sind ein neues Kapitel in einer Situation, die ein US-Regierungsoffizieller „eine Live-Diskussion im Weißen Haus“ nennt, wie „Politico“ schreibt. Demnach gibt es innerhalb der Regierung verschiedene Lager. Im Verteidigungsministerium scheinen Milleys Ansichten noch auf den meisten Zuspruch zu treffen. Andererseits hätte sich Minister Austin wohl auch nicht auf einer Pressekonferenz neben Milley gestellt.

Das Lager, das mögliche Verhandlungen am kritischsten sieht, ist dem „Politico“-Bericht zufolge der Nationale Sicherheitsrat – dem neben US-Präsident Joe Biden verschiedenste Minister und außenpolitische Berater angehören. Der Top-Berater des Rates, Jake Sullivan, argumentiert, dass Russlands Präsident Wladimir Putin etwaige Verhandlungen weiterhin nicht ernst nehmen würde – und die ukrainische Bevölkerung wiederum jegliche Art von ukrainischem Zugeständnis zurückweisen würde.

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Keine konkreten US-Vorbereitungen auf Verhandlungen

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Schwarzbuch Krankenhaus

Quelle: Website „Schwarzbuch Krankenhaus“

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Wir, Arbeitende im Gesundheitssystem, berichten von Überlastung und Patient:innengefährdung im Arbeitsalltag. Die folgenden Erfahrungsberichte zeigen, wie die Gesundheitsversorgung in Deutschland wirklich ist.


Die Ursache hierfür sehen wir vor allem in der Kommerzialisierung unserer Krankenhäuser und deren Finanzierung über Fallpauschalen (DRGs). Der Anreiz möglichst viele Patient:innen mit möglichst wenig Personal zu versorgen, hat Arbeitsbedingungen geschaffen, die unser aller Gesundheit gefährdet. Wir fordern daher eine gesetzliche Personalbemessung, die sich am Bedarf der Patient:innen bemisst, und ein Gewinnverbot mit unseren Krankenhäusern!