Prof. Angus Deaton: “ Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung“

ZEIT online Interview: Johanna Roth7. April 2020

Angus Deaton:„Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung“

Kaum ein Ökonom kennt die US-Arbeiterschicht besser als Angus Deaton. Er sagt: Ihnen ging es schon seit Jahrzehnten schlecht. Nicht erst seit der Corona-Krise.

Während die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland steigt, sinkt sie in einem der reichsten Länder der Erde: Das Phänomen der sogenannten „Deaths of Despair“ – Verzweiflungstode – erschüttert die US-amerikanische Öffentlichkeit. Seit den Neunzigerjahren steigt die Sterblichkeit unter weißen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern zwischen 45 und 54 Jahren immer weiter an. Die Menschen sterben an Alkoholmissbrauch, an einer Überdosis Drogen oder durch Suizid.

Die Ursache ihrer Verzweiflung ist die zunehmende wirtschaftliche Ungerechtigkeit, argumentieren die Ökonomen Angus Deaton und Anne Case in ihrem neuen Buch „Deaths of Despair and the Future of Capitalism“. Der 1945 geborene Sir Angus Deaton ist Professor für Ökonomie an der Princeton University und Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften. Gemeinsam mit seiner Frau Anne Case, emeritierte Professorin für Ökonomie in Princeton, forscht er seit mehreren Jahren zum Thema der Verzweiflungstode.

ZEIT ONLINE: Herr Professor Deaton, in Ihrem aktuellen Buch, das Sie mit Ihrer Frau Anne Case verfasst haben, beschreiben Sie, wie viele weiße Amerikaner mittleren Alters ohne Hochschulabschluss vorzeitig sterben – durch Suizid, Alkohol oder Drogen, bedingt durch Verzweiflung über den sozialen Abstieg. Im Zuge der Corona-Krise haben sich schon zehn Millionen US-Amerikaner arbeitslos gemeldet. Befürchten Sie, dass solche Verzweiflungstode in der Arbeiterschicht jetzt zunehmen werden?

Angus Deaton: Natürlich wird die Corona-Krise die Lebenssituation vieler Arbeiter noch schwieriger machen. Wie Sie wissen, haben wir eine sehr hohe Corona-Infektionsrate in den Vereinigten Staaten, und das Social Distancing wird eine ganze Weile anhalten müssen. Insofern werden noch viel mehr Menschen ihre Jobs verlieren. Allerdings glaube ich nicht, dass deshalb zwangsläufig mehr Leute sterben werden.

ZEIT ONLINE: Das müssen Sie erklären.

Deaton: Selbst während der Weltwirtschaftskrise Anfang des 20. Jahrhunderts war die Sterblichkeit insgesamt niedrig. Es gab zwar mehr Suizide, aber es gab weniger Verkehrsunfälle, weil weniger Menschen auf den Straßen unterwegs waren. Ich habe erst heute wieder gelesen, dass die Krankenhäuser in New York vergleichsweise wenig Patienten ohne Coronavirus haben, weil zum Beispiel weniger Unfälle auf dem Bau passieren. Und auch die Pflege ist paradoxerweise in Zeiten der Rezession besser: Wenn die Wirtschaft boomt, haben es Altenheime oft schwer, Personal zu finden, weil sich dann alle besser bezahlte Jobs suchen. Geht es der Wirtschaft schlecht, nehmen mehr Leute Jobs in der Altenpflege an. Auch das mag einige Leben retten.

ZEIT ONLINE: Aber trotzdem befinden sich die USA am Rand einer schweren Wirtschafts- und Gesundheitskrise, die viele Ihrer Kollegen als noch fataler einschätzen als die Grippewelle nach dem Ersten Weltkrieg und den Börsencrash wenige Jahre später.

Deaton: Die Zustände, die wir beschreiben, haben sich über einen sehr langen Zeitraum angebahnt. Nicht kurzfristige wirtschaftliche Verwerfungen lassen die Menschen früher sterben, sondern langfristige. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass der Tod aus Verzweiflung ein systematisches und sehr viel langwierigeres Phänomen ist als eine Rezession.

ZEIT ONLINE: Welche Verwerfungen meinen Sie? In der Einleitung von Deaths of Despair schreiben Sie: „In Amerika geht etwas um, das die Arbeiterschicht vergiftet.“ Was genau ist dieses „etwas“?

Deaton: Die Löhne steigen zu langsam, vor allem aber werden sehr viele einfache Jobs mit zunehmendem technologischem Wandel aussortiert. Was die Dinge in den USA so viel schlimmer macht als anderswo, ist, dass es dort keinen Wohlfahrtsstaat nach europäischem Vorbild gibt. Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung. Das ist seit Langem bekannt, aber die USA sind das einzige Land vergleichbaren Wohlstands, das die Augen vor dieser Tatsache verschließt.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt die defizitäre Krankenversicherungsstruktur?

Deaton: Die Gesundheitsversorgung beruht auf einem System, das total aufgebläht ist. Die USA geben inzwischen 18 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus, mehr als für das Militär. Die Sache ist nur: Die Menschen bekommen dafür nichts als Nachteile. Häufig läuft die Krankenversicherung über den Arbeitgeber, und das wiederum drückt die Löhne. Oft ist es schlicht nicht möglich, Arbeitnehmern einen anständigen Lohn zu zahlen und für ihre Krankenversicherung aufzukommen. Die Folge: Viele gute Jobs fallen weg, zugunsten von schlecht bezahlten.

ZEIT ONLINE: Warum ein Buch über Sterblichkeit? Was erzählt sie uns über eine Gesellschaft?

Deaton: Sie verdeutlicht, was schiefläuft. In den USA gibt es schon lange eine Debatte darüber, ob es der Arbeiterschicht wirklich so schlecht geht. Aber den Tod kann man nicht vortäuschen. Wenn Leute anfangen, an Armut zu sterben, dann kann man nicht behaupten, dass sie nur so tun.

ZEIT ONLINE: Sterben die Menschen wirklich an Armut? Sie verhungern ja nicht, sondern verzweifeln, wie es auch im Titel Ihres Buchs heißt.

Deaton: Die wirtschaftliche Schieflage ist das eine. Schlimmer ist der Zerfall sozialer Gemeinschaften, der daraus folgt. Gute Jobs und angemessene Löhne sind die Grundlage für ein langes und gesundes Leben. Sie können noch so gut pflanzen, wenn der Nährboden nicht stimmt, wird nichts gedeihen. Mit der Zeit ist dieser Boden in den Vereinigten Staaten immer weniger nährstoffhaltig geworden, und das zeigt sich auch im Zusammenleben. Viele Eltern leben von ihren Kindern entfernt, weil sie für einen Job weit wegziehen mussten. Kirchen werden weniger, Gewerkschaften werden weniger. Die Gewerkschaften fallen hier doppelt ins Gewicht, denn sie sorgten einst nicht nur für höhere Löhne, sondern waren auch ein wichtiger Faktor des sozialen Lebens.

ZEIT ONLINE: Und jetzt kommt noch die Corona-Krise dazu.

Deaton: Es ist sehr schwer, vorauszusagen, was mit dem Arbeitsmarkt passiert. Aber es ist ganz offenkundig eine sehr schlechte Zeit, eine arbeitgeberbasierte Gesundheitsversorgung zu haben. Ein großer Teil der Menschen, die in den vergangenen Wochen ihren Job verloren haben, wird mit Ablauf des Monats auch ihre Krankenversicherung verlieren. Zwar gibt es das sogenannte Cobra-Gesetz, nach dem man seinen Versicherungsschutz über die Kündigung hinaus verlängern kann. Aber das bedeutet, dass man den Arbeitgeberanteil selbst zahlen muss. Und Obamacare ist abhängig von dem Bundesstaat, in dem man lebt.

Dazu kommen noch die Menschen, die trotz Job nicht versichert waren. Aber auch vor der Corona-Krise war es nie nur eine Ursache, sondern ein Zusammenspiel verschiedenster Faktoren, das zu diesen Toden führt. Die Menschen, über die wir schreiben – also weiße Arbeiter in der Mitte ihres Lebens –, sterben an Drogen, an Leberzirrhosen oder durch Suizid. Das sind ja alles Dinge, die sie sich selbst zufügen. Was allerdings dazu führt, dass sie das tun, ist wesentlich komplexer als „nur“ ein schlechtes Gesundheitssystem. Es ist nicht einfach so, dass weniger sterben würden, wenn sie nur eine bessere Krankenversicherung hätten. Für das, was die Menschen ursächlich quält, gibt es keine Krankenhausbehandlung.

„Ohne Arbeit fällt die Bedeutung der gesamten Existenz weg“

ZEIT ONLINE: Aber ist es nicht auch ein Fehler des Gesundheitssystems, dass man in den USA so leicht an Opiate kommt und viele deshalb abhängig werden?

Deaton: Das stimmt schon. Im deutschen Gesundheitssystem würde ein Hausarzt seine Patienten nicht einfach mit einer Monatsration Opiate nach Hause schicken. In den USA schon. Das liegt aber nicht am Versichertenstatus, sondern daran, dass ein Pharmaunternehmen wie das der Sackler-Familie, die Milliarden Dollar mit dem Tod von Menschen verdient hat, vom profitorientierten System geradezu ermutigt wird, den Markt mit seinen Präparaten zu überschwemmen.

ZEIT ONLINE: Kurz gesagt: Der Kapitalismus bringt die Leute um?

Deaton: Die Verzweiflung darüber, dass ein gutes, einfaches Leben nicht mehr existiert. Weil eben dieser Nährboden, von dem ich sprach – gute, sichere Jobs für Menschen ohne Hochschulbildung –, immer mehr austrocknet. Ohne Arbeit fällt nicht nur das Einkommen weg, sondern in vielen Fällen die Bedeutung der gesamten Existenz. Und so sind die Menschen leichte Ziele für jede Selbstmedikation, die Ablenkung verspricht. Das wiederum ist fruchtbarer Nährboden für Pharmaunternehmen, die Oxycodon vertreiben. Oder für das Glas Whiskey beim Nachhausekommen, wobei das im Vergleich zu Opiaten relativ teuer sein dürfte.

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch zeigen Sie auf, dass ein Collegeabschluss eine Art Wasserscheide darstellt zwischen jenen, die ein gutes Leben haben, und jenen, die abrutschen. Warum hat das so eine Bedeutung?

Deaton: Vier Jahre Bachelorstudium entscheiden maßgeblich darüber, ob Sie später einen guten Job bekommen oder nicht. Aber das Problem beginnt im Grunde viel früher. Das US-amerikanische Bildungssystem ist vom Kindergarten an darauf ausgelegt, dass man später auf ein College geht. Aber das kann natürlich nicht jeder. Auch, aber nicht nur aus finanziellen Gründen.

ZEIT ONLINE: Wäre es da nicht eine gute Strategie, den Zugang zu den Hochschulen zu erleichtern?

Deaton: Für die, die gern auf ein College möchten, sicher. Aber es will ja gar nicht jeder studieren! In anderen Ländern haben Sie viel differenziertere Wege ins Berufsleben, und es gibt längst nicht so ein soziales Stigma gegenüber einfachen Jobs wie hier in einer Hightech-Arbeitsgesellschaft.

ZEIT ONLINE: Das mit dem Stigma wundert mich. Ist nicht der „amerikanische Traum“ gerade frei von solchen Hierarchien?

Deaton: Das stimmt. Aber die Umstände haben sich geändert. In unserer heutigen Industriegesellschaft hängt sehr viel mehr von kognitiven Fähigkeiten ab als früher. Mein Schwager erzählte mir von seiner Entscheidung in den Sechzigerjahren, aufs College zu gehen. Seine Freunde sagten: Spinnst du? Wofür brauchst du denn einen Hochschulabschluss? Damit kannst du doch deine Miete nicht bezahlen! Inzwischen ist es umgekehrt.

ZEIT ONLINE: Warum sind gerade die weißen Männer und Frauen mehr von den Deaths of Despair betroffen?

Deaton: Das sind sie gar nicht. Der afroamerikanische Teil der Bevölkerung hat diese Verzweiflung schlicht zwei Jahrzehnte früher erlitten. Ab den Sechzigerjahren, als viele Unternehmen aus den großen Städten herausverlagerten, wurden schwarze Communitys von genau derselben Desintegration heimgesucht, wie es ab Mitte der Neunzigerjahre den Weißen passierte und bis heute anhält.

ZEIT ONLINE: Donald Trump wurde 2016 maßgeblich von genau den Leuten ins Amt gewählt, die Sie beschreiben: Angehörige der weißen Mittel- und Arbeiterschicht ohne Hochschulabschluss. Wieso glauben gerade sie an ihn? Ist er als milliardenschwerer Unternehmer nicht die Personifikation des Systems, unter dem sie leiden?

Deaton: Ich bin kein Politologe und kann nicht sagen, warum sie an Donald Trump glauben, aber ich weiß, warum sie nicht an Hillary Clinton geglaubt haben. Seit den Siebzigerjahren haben sich die Demokraten kontinuierlich zu einer Akademiker- und Elitenpartei entwickelt. Die weiße Arbeiterschicht in den USA hat schon lange keinen Anlass mehr, sich politisch repräsentiert zu fühlen.

ZEIT ONLINE: Dabei ging es der US-Wirtschaft in den vergangenen Jahren ja wieder besser. Trump nimmt sogar für sich in Anspruch, für ein Jobwunder gesorgt zu haben. Wie passt das zu Ihren Beobachtungen?

Deaton: Es stimmt zwar, dass sich die USA von der Finanzkrise 2008 erholt haben, und es stimmt auch, dass es einen Aufwärtstrend bei den Löhnen für Nichtakademiker gab. Aber ihre Löhne waren kurz vor der Corona-Krise immer noch niedriger als zu einem beliebigen Datum in den Achtzigern. Das war also eher ein Ausschlag nach oben in der großen Abwärtskurve der vergangenen 40 Jahre. Dasselbe gilt für Jobs: Auch wenn man sich auf den ersten Blick über einen Peak in der Beschäftigungsstatistik freuen darf, verfliegt das schnell, wenn sich herausstellt, dass er niedriger ist als der vorherige.