Sondervermögen Bundeswehr: Panikpolitik

Quelle: IPG-Journal

Außen- und Sicherheitspolitik 15.03.2022 | Herbert Wulf

Panikpolitik

Die Modernisierung der Bundeswehr ist überfällig. Wir dürfen das Pferd jedoch nicht von hinten aufzäumen. Es braucht eine nüchterne Bedarfsanalyse.

Zuerst Finanzen bereit zu stellen und dann zu fragen, was damit geschehen soll, ist die falsche Reihenfolge. Als Reaktion auf Russlands Aggression kündigte Bundeskanzler Scholz ein „Sondervermögen Bundeswehr“ von 100 Milliarden Euro an. So verständlich der Wunsch zur raschen Modernisierung der Bundeswehr sein mag, so wenig ist er Ergebnis einer nüchternen Analyse. Es ist Panikpolitik, die der Bundeswehr kaum nützt.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist durch den Krieg Russlands eine dringende Notwendigkeit. Auch die Bundeswehr, als Rückgrat unserer Verteidigung, bedarf der Reform und neuer strategischer Ausrichtung. Doch dies vor allem durch mehr Geld in Angriff zu nehmen, führt zur Verschwendung knapper Ressourcen. Vorrangig ist eine strategische Debatte über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr nötig, nicht aber eine riesige Geldspritze.

Natürlich kann die Bundeswehr mehr finanzielle Mittel gebrauchen, um Panzer, Hubschrauber, Schiffe, Kampfflugzeuge oder Drohnen zu beschaffen. Aber für welchen Zweck? Um weiterhin Auslandseinsätze zu ermöglichen oder sie effizienter zu gestalten? Um bei Staatsversagen irgendwo auf der Welt eingreifen zu können? Um den in unserer Verfassung niedergelegten Auftrag zur Landesverteidigung durchführen zu können? Um den baltischen Ländern bei einer Aggression Russlands beizustehen? Um die Ostflanke der NATO zu stärken? Und soll dies im Rahmen einer auch militärisch unterfütterten Rolle der EU passieren, wie dies schon länger vom französischen Präsidenten Macron gefordert wird? Oder geht es sogar – gemeinsam mit den USA – um den Stopp der chinesischen Marineaktivitäten im Südchinesischen Meer? Oder gegen die Iraner in der Straße von Hormus, wenn unsere Ölversorgung bedroht werden sollte? Angesichts der völlig neuen sicherheitspolitischen Lage sind dies ernsthafte Fragen, die zunächst einmal geklärt sein müssen, bevor mit vollen Händen Geld ausgegeben wird.

Es gibt keinen Grund, überstürzt ein so riesiges Sondervermögen für die Bundeswehr anzukündigen. Der Krieg in der Ukraine wird dadurch keinen Tag früher enden und die Neuausrichtung der Bundeswehr geschieht ebenso wenig kurzfristig.

Aber, so heißt es, die Bundeswehr ist unterfinanziert. Sie wurde kaputtgespart. Kampfflugzeuge sind nur bedingt einsatzfähig, U-Boote tauchen nicht, die schon lange avisierten Fregatten werden nicht ausgeliefert, Hubschrauber und Lufttransportkapazitäten sind Mangelware. Ersatzteile fehlen an allen Ecken und Enden. Die Maschinengewehre taugen nicht bei den hohen Temperaturen in Mali. Es fehlt an warmer Kleidung und Zelten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es sei daran erinnert, dass die Ausgaben für Verteidigung (nach NATO-Kriterien) in Deutschland seit 2014 von knapp 34 Milliarden Euro auf über 53 Milliarden im Jahr 2021 erhöht wurden. Es ist ein Mythos, dass die Bundeswehr schlecht ausgerüstet ist, weil sie zu wenig Geld bekommt. Mangelnde Finanzen sind nicht das eigentliche Problem, sondern verkrustete Strukturen bei der Beschaffung, strukturelle Defizite bei Entwicklung, Produktion und Beschaffung und erhebliche zeitliche Verzögerungen bei der Auslieferung der bestellten Waffen.

Belege dieser miserablen Lage gibt es allenthalben. Die Probleme des Lufttransportflugzeugs A 400 sind ein Paradebeispiel für eine verzögerte und überteuerte Lieferung – zudem unterhalb der zugesagten Leistungen. Schon 2018 bemängelte der Wehrbeauftragte, dass nur 50 Prozent der Flotte einsatzbereit seien. Seit der ersten parlamentarischen Befassung mit dem Transportflugzeug hat sich das Vorhaben um mehr als zwölf Jahre verzögert. Noch immer sind die Flugzeuge nicht ausgereift, ein Armutszeugnis für den Hersteller. Dies ist nicht das einzige Gerät, mit dem sich die Luftfahrtindustrie verhoben hat und damit die Bundeswehr in Schwierigkeiten bringt. Deutliche Parallelen zeigen sich auch beim deutsch-französischen Transporthubschrauber NH90. Das Verteidigungsministerium bezifferte 2018 die durchschnittlichen zeitlichen Verzögerungen bei Großprojekten auf fünf Jahre und drei Monate.

Zweifellos bedarf also die Bundeswehrbeschaffung dringend einer gründlichen Reform. Sie ist auch schon mehrfach angekündigt worden. Doch die bisherigen Reformvorhaben wurden nur kümmerlich umgesetzt. Neben den viel zu bürokratischen Beschaffungsabläufen gibt es vor allem zwei Gründe für diese Misere.

Zwar hat es erstens immer Bekenntnisse zur Auswahl der besten Systeme für die Bundeswehr gegeben. Die Soldatinnen und Soldaten sollen schließlich vorbildlich ausgerüstet und geschützt sein. De facto wurde in der Praxis jedoch immer darauf geachtet, dass bei der Auftragsvergabe möglichst deutsche Firmen berücksichtigt werden. Auch wenn das hieß, dass bei der Leistungsfähigkeit der Systeme, bei den Terminen der Auslieferung und beim Preis Abstriche gemacht werden mussten. Bei der Beschaffung von Waffensystemen fehlt weitgehend der Wettbewerb.

Zweitens gibt es bei der Rüstung einen Hang zur Verwendung von Hochtechnologie – ein Trend, der in den USA und der dortigen Rüstungswirtschaft als „over engineering“ oder als „Rüstungsbarock“ beschrieben wird. Immer mehr Technologie wird in ein Waffensystem gepackt. Die Streitkräfte möchten auf dem neuesten Stand der Technik sein. Und die Rüstungsindustrie neigt nicht nur zur Selbstüberschätzung hinsichtlich der eigenen technologischen Leistungsfähigkeit, sondern „muss“ auch durch immer neue technologische Anforderungen den ursprünglich anvisierten Preis des Waffensystems anheben.

Fehlende Finanzen sind also nur ein Teil des Problems. Deshalb ist es auch falsch, jetzt den Schwur zu leisten, in Zukunft das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nicht nur einzuhalten, sondern zu übertreffen. Das ist Symbolpolitik. Diesem Zwei-Prozent-Ziel unterliegt die absurde Logik, dass es in einer florierenden Wirtschaft – also bei einem hohen BIP – schwer zu erreichen ist, bei wirtschaftlichem Niedergang aber fast automatisch erzielt wird. Es ist grundsätzlich falsch, eine volkswirtschaftliche Größe wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zum zentralen Kriterium verteidigungs- und sicherheitspolitischer Entscheidungen zu machen.

Der richtige Weg wäre, akute wie potenzielle Herausforderungen und Gefährdungen zu benennen und die zur Abwehr erforderlichen Kapazitäten der Bundeswehr, einschließlich der erforderlichen Ausrüstung, zu definieren. Zuerst muss jedoch die Debatte über die strategische Ausrichtung geführt werden. Hieraus ergibt sich der finanzielle Rahmen, der gegebenenfalls unter oder auch über zwei Prozent des BIP liegen kann.

Stattdessen wird das Pferd nun von hinten aufgezäumt. Jetzt werden zuerst Finanzmittel versprochen, um dann zu entscheiden, wozu die Mittel eingesetzt werden. Mit der Steigerung der Ausgaben geht nicht zwingend eine der militärischen Leistungsfähigkeit oder Effizienz einher. Die Höhe des Haushaltes oder der Anteil der Ausgaben am BIP sagen überhaupt nichts über die militärischen Fähigkeiten der Streitkräfte aus. Plakativ ausgedrückt: Mehr Geld ist nicht gleich mehr Sicherheit. Bei aller Dramatik der Ereignisse der letzten Wochen gilt es, nicht in Panik oder Schockstarre Entscheidungen zu treffen, sondern einen kühlen Kopf zu bewahren, eine sorgfältige Analyse durchzuführen, um dann sach- und situationsgerecht zu entscheiden. Man kann nur hoffen, dass die Bundestagsabgeordneten von ihrem Recht Gebrauch machen, über den Haushalt zu entscheiden, und zuerst die strategische Debatte einfordern, um danach über die Finanzen abzustimmen.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist ehemaliger Leiter des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC). Er ist heute Fellow am BICC und am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Essen/Duisburg.