Studie zu Aerosol-Viruswolken: dicke Luft im Restaurant

SPIEGEL online – 15.05.2020

Von Susanne Götze

Covid 19-belastete Tröpfchen machen geschlossene Räume zu Infektionsherden

Studie zu Aerosol-Viruswolken: dicke Luft im Restaurant

Durch winzige Schwebeteilchen stecken sich in geschlossenen Räumen mehr Menschen mit Covid-19 an als bislang angenommen, vermuten US-Forscher. Das könnte auch Folgen für Restaurants und Cafés haben.

Nach mehr als zwei Monaten Alltag in der Coronavirus-Pandemie haben sich die Regeln langsam eingeschliffen: Mit Abstand halten, Händewaschen und Desinfizieren kann verhindert werden, dass schnell viele Menschen an Covid-19 erkranken. Doch das ist möglicherweise nur die halbe Wahrheit.

Erste Anzeichen dafür, dass die Virusverbreitung komplexer ist, gab es schon seit Anfang März. Damals trafen sich in der Kleinstadt Mount Vernon nördlich von Seattle 61 Chormitglieder in einer Kirche. Aus der harmlosen Chorprobe wurde dann ein „Superspreader-Ereignis“. So nennen Virologen den Vorgang, wenn eine mit dem Virus infizierte Person überproportional viele Mitmenschen ansteckt. Obwohl Desinfektionsmittel bereitstanden und alle auf die Abstandsregeln achteten, steckte ein einziger Chorsänger mit Covid-19-Symptomen ganze 52 seiner Mitsänger an. Drei mussten ins Krankenhaus, zwei starben.

Einen ähnlichen Fall gab es in der Berliner Domkantorei, als sich ebenfalls rund 80 Menschen zum Chorsingen trafen und danach über 30 Mitglieder positiv auf das Virus getestet wurden. Von der Domverwaltung hieß es später: Die lange Verweildauer in einem Raum habe „es offensichtlich unerheblich gemacht, wie weit man voneinander weg sitzt“. Das legen nun auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse nahe.

Weil alle Hygieneregeln bei den Chorproben befolgt wurden, könnte die Ursache für diese „Superspreader“-Ereignisse in der Luft liegen. Dabei geht es um winzige Schwebeteilchen, die für das bloße Auge unsichtbar sind. Die sogenannten Aerosole sind ständig in unserer Luft. Durch Niesen, Husten oder Sprechen fliegen sie als Mikrotröpfen in die Umwelt. Haften sich Bakterien oder Viren an die Partikel, heißen sie Bioaerosole.

Wie groß die Ansteckungsgefahr durch virenbelastete Teilchen ist, wollten US-Forscher vom National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases (NIDDK) mit einer Studie herausfinden. Dafür maßen sie, wie viele Aerosole durch normales Sprechen ausgestoßen werden und wie lange die Tröpfchen in der Luft bleiben, bevor sie zu Boden fallen. Die Schwebedauer ist dabei entscheidend für das Risiko, andere Menschen im selben Raum anzustecken. Dafür mussten die Testpersonen in einem geschlossenen Raum 25 Sekunden lang laut den Satz „Stay healthy!“ („Bleib gesund!“) wiederholen. Ausgesucht wurde der Satz wegen des spuckafinen „th“ im Englischen. Um die Tröpfchen messbar zu machen, projizierte das Forscherteam einen Laser in den Raum.

Das Ergebnis kann man nun im Fachmagazin der US-amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften („PNAS“) nachlesen: Unter diesen Laborbedingungen produziert ein Sprecher in jeder Minute mehr als tausend virusbelastete Tröpfchen. Diese verweilen dann in einem geschlossenen Raum durchschnittlich zwölf Minuten lang in der Luft. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Viren an die Mikroteilchen binden, variiert je nach Größe des Aerosols. Je kleiner die Schwebeteilchen, desto geringer auch die Viruslast.

Demnach ist laut den US-Forschern ein Beleg erbracht, dass nicht nur Husten und Niesen, sondern auch Sprechen eine ansteckende Aerosolwolke produzieren kann. Eine Ansteckung wird umso wahrscheinlicher, je kleiner ein Raum und je länger die Sprechaktivität ist. Dabei ist zweitrangig, ob es genügend Abstand gibt oder nicht. Sogar einfaches Atmen könnte potenziell infektiöse Aerosole freisetzen, erklärte Donald Milton, US-Aerobiologe für Infektionskrankheiten in einem Statement der Nationalen Akademie der Wissenschaften.

Den Kaffee lieber auf dem Terrassenplatz

Dieser Infektionsweg ist an sich nicht neu: Er ist bereits für andere Erreger belegt, darunter Masern, Tuberkulose, Influenza – und auch für Sars-CoV-1, das von 2002 bis 2003 grassierende Coronavirus.

Stimmt die Aerosol-Theorie, dürften sich Infizierte und Risikogruppen auch in geschlossenen Räumen wie Supermärkten, Bussen und Bahnen nicht gemeinsam aufhalten, kommentierte US-Epidemologe Michael Osterholm vom US-Instituts Center for Infectious Disease Research and Policy entsprechende Berichte bereits im April.

Das sieht auch der deutsche Virologe Christian Drosten so. Er schätzt, dass fast die Hälfte der Virusübertragungen auf Aerosole zurückzuführen sind, die andere Hälfte durch großere Tröpfchen und nur rund zehn Prozent durch Schmier- oder Kontaktinfektionen. Diese virenbelasteten Schwebeteilchen könnten sogar einige Stunden infektiös bleiben, erklärte der Leiter der Virologie der Berliner Charité in seinem NDR-Podcast vom 12. Mai.

Drosten hält deshalb das Händewaschen oder Desinfizieren für übertrieben. Wichtiger sei, dass sich die Menschen unter freiem Himmel treffen und nicht in geschlossenen Räumen, wo die Aerosole nicht abziehen oder weggeweht werden könnten.

„Die bisherigen Untersuchungen weisen darauf hin, dass Sars-CoV-2-Viren über Aerosole auch im gesellschaftlichen Umgang übertragen werden können“, bestätigt mittlerweile auch das Robert Koch-Institut in seinem Steckbrief. Das stütze sich auf Untersuchungen, die darstellen, wie sich von Menschen abgegebene Partikel in Räumen verteilen und zu „aerogenen Übertragungen“ führen. Über die Risiken im Alltag und die Folgen für die aktuellen Lockerungsregeln will sich das RKI aber auf Nachfrage nicht äußern.

Wie stark Innenräume mit Coronaviren belastet sind, testet derzeit auch ein Labor in Kalifornien. Die Forscher des Lawrence Berkeley National Laboratory, eine Einrichtung des US-Energieministeriums, simulieren den Tröpfchen- und Aerosolaustausch zwischen den Räumen.

Dafür nutzen sie einen Gebäudesimulator, den Architekten oder Behörden normalerweise für das Testen von technologischen Neuheiten nutzen. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, wie hoch das Risiko einer Ansteckung in Büros oder auch in Restaurants ist. Getestet wird auch, wie sich die belastete Atemluft durch Belüftungsanlagen, Heizungs- oder Klimaanlagen verteilt.

Masken: Besser als nichts

Ob Masken wirklich einen sicheren Schutz gegen das Verbreiten virenbelasteter Mikropartikel bieten, ist weiter umstritten. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erkärte, dass selbst gemachte „Community-Masken“ eher eine physische Barriere seien und eine Schutzfunktion vor größeren Tröpfchen sowie den Kontakt zwischen Gesicht und kontaminierten Händen verhinderten.

Auch das Robert Koch-Institut (RKI) empfiehlt mittlerweile das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum. Die selbst gemachten Masken filtern laut RKI aber vermutlich weniger Tröpfchen als der mehrlagige medizinische Mund-Nasen-Schutz. Das Tragen einer Maske könne „den Infektionsdruck und Ausbreitungsgeschwindigkeit in der Bevölkerung reduzieren“.

Untersuchungen von Feinstaubmasken zeigen, dass gerade einfache Baumwollmasken relativ grobmaschig sind. Zwar werden größere Tropfen abgehalten, aber Aerosole, die eine Größe von einem Tausendstel Millimeter haben, gelangen sehr wahrscheinlich beim Sprechen durch die Maske ins Freie. Beim Restaurantbesuch oder beim Kaffeetrinken muss die Maske ohnehin irgendwann ab. Werden dann noch die neuesten Corona-Witze erzählt und kräftig gelacht, haben die Viren freie Bahn.