Ukraine: Krieg und Frieden – Ein Debattenbeitrag von Winne Hermann

Ukraine: Krieg und Frieden – Ein Debattenbeitrag von Winne Hermann

Ukraine – Krieg und Frieden (30.7.2022)

Thesen und Fragen – Ein Debattenbeitrag von Winne Hermann

Worüber wir nicht diskutieren müssen:

  1. Das Völkerrecht gilt, das humanitäre wie das Kriegsvölkerrecht.
  2. Putins/Russlands militärische Interventionen (Donbas), Annexionen (Krim) und der Angriffskrieg auf die Ukraine insgesamt sind völkerrechtswidrig. Die russische Armee verletzt auch das Kriegsvölkerrecht mit den Angriffen auf die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen.
  3. Nach dem Völkerrecht hat jedes Land das Recht sich selbst zu verteidigen, wenn es angegriffen wird.
  4. Die Kriegsbilder über Zerstörung, Tötung und Gräueltaten des russischen Militärs sind schrecklich, kaum zu ertragen und machen uns mitfühlend und solidarisch mit der bedrohten ukrainischen Bevölkerung.
  5. Politik, zumal Außen- und Sicherheitspolitik, darf sich aber nicht primär von Emotionen leiten lassen. Sie muss rational gedacht und gemacht werden. Sie muss Interessen und Risiken klären und vor Entscheidungen gründlich abwägen. Sie muss auch in langen Linien denken.

 Woran zu erinnern ist:

  1. Im Grundgesetz unseres Landes ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gesichert. Eine pazifistische Grundhaltung ist aufgrund der Weltkriegserfahrungen und der NS Diktatur geschützt. Man muss sein Land nicht mit der Waffe verteidigen. Im Unterschied dazu, gibt es in der Ukraine eine Pflicht zum Kriegsdienst für alle Männer von 18 bis 60 Jahren.

Zur Vorgeschichte: die verpassten Friedenschancen seit dem Ende der Sowjetunion und des Warschauer Paktes:

  1. Die Chance auf eine neue Sicherheitsarchitektur mit Rüstungskontrolle und Abrüstung, die auch die Interessen der ehemals sowjetischen Staaten und Russlands berücksichtigt, wurde zugunsten einer Osterweiterung der NATO vertan. Nur kurzeitig und halbherzig gab es den Russland-NATO Pakt.
  2. Auf der politischen und ökonomischen Ebene wurde die ehemaligen Warschauer Pakt Staaten in Osteuropa in die EU und die NATO integriert. Zugleich wurden mit Russland vor allem die ökonomischen Beziehungen verstärkt und ausgebaut. Russland wurde oder blieb zentraler Energie- und Rohstofflieferant für viele europäische Staaten. Politische Beziehungen von Schulen, Hochschulen und Kommunen konnten den Ausbau der fehlenden Friedensbeziehungen auf staatlicher Ebene nicht ersetzen.
  3. Russland führte seit dem Ende der Sowjetunion brutale, völkerrechtswidrige Kriege mit nachweislichen Kriegsverbrechen in den vermeintlichen russischen Interessenszonen in Tschetschenien, Georgien, Syrien usw.
  4. Die USA (unterstützt von einzelnen NATO-Staaten wie F, GB und D) intervenierte mit geballter militärischer Gewalt und teilweise ebenfalls völkerrechtswidrig im selben Zeitraum zweimal im Irak, in Jugoslawien, Kosovo, in Afghanistan usw.
  5. Die militärischen Konflikte und Kriegsbeteiligungen der vergangene 30 Jahre rechtfertigen nicht das Bild, dass nur Russland „kriegerisch“ und „böse“ seine Interessen immer wieder mit militärischer Gewalt durchsetzte. Vor allem die US-amerikanischen Interventionen brachten statt Frieden und Demokratie viel Zerstörung.

Fragen und Antworten über die wir streiten und diskutieren sollten:

  1. Wie können wir der Ukraine und der angegriffenen Bevölkerung helfen? Ist unsere zivile, humanitäre und politische Unterstützung ausreichend?
  2. Sind unsere wirtschaftlichen Sanktionen wirklich wirksam oder nicht ziemlich widersprüchlich? Während wir verschiedene Sanktionen einsetzen, importieren und zahlen wir Energielieferungen und finanzieren das Regime und den Krieg.
  3. Helfen unsere Waffenlieferungen wirklich den Krieg zu beenden oder verlängern sie die gewaltsame Auseinandersetzung? Wie viele Waffen welcher Art (leichte und schwere) sind die richtigen? Sind schwere Waffen wie Panzer nicht Waffen zum Geländegewinn? Gibt es Waffen nur zur Verteidigung? Mit welchen Waffen kann man sich verteidigen, mit welchen auch angreifen? Wollen wir die Rückeroberung der von Russland völkerrechtswidrig und gewaltsam besetzten Gebieten fördern? Wieviel Gewalt und Zerstörung wollen wir dabei in Kauf nehmen?
  4. Sind wir gerade dabei, den Konflikt durch Waffenlieferungen zu eskalieren? Glauben wir wirklich, dass wir mit einigen Panzern Russland in die Knie zwingen können? Wird auf die Aufrüstung der Ukraine die russische Armee auch aufgerüstet werden? Was tun wir, wenn Russland taktische A-/B- oder C-Waffen einsetzt? Geben wir dann auch solche an die Ukraine?
  5. Bewerten wir das Eskalationsrisiko nicht einseitig und naiv. („Wir müssen dagegenhalten, sonst machen die Russen weiter“). Jeder Schachspieler weiß, wenn er einen Zug macht, muss er den möglichen Gegenzug des Gegenspielers und seinen nächsten wieder bedenken. Man hat den Eindruck, die nächsten Züge einer Waffenlieferung werden nicht bedacht.
  6. Die ständigen Forderungen der ukrainischen Regierung nach mehr und schweren Waffen sind verständlich. Dass deutsche Politiker*innen und Journalist*innen diese eins zu eins übernehmen, teilweise in marktschreierischer Manier, ist zu kurz gedacht. Deutschland und die NATO-Staaten müssen auch Gefahren und Risiken aus der eigenen Perspektive bedenken und wahrnehmen. Nicht zuletzt müssen sie eine Ausweitung des Krieges vermeiden und eine Waffenstillstands- und Friedenslösung nicht aus den Augen verlieren.
  7. Es muss von der internationalen Gemeinschaft ein Konzept der Deeskalation entwickelt werden, auch wenn das derzeit (noch) nicht realisierbar erscheint: von der Waffenruhe über den Waffenstillstand bis hin zu einem Friedensvertrag. Hier sind die UN, aber auch China und Indien sowie die neutralen kleineren Staaten besonders gefordert. Deutschland wie die NATO können einen solchen Prozess anstoßen, als Partei an der Seite der Ukraine können sie nicht Moderator des Prozesses sein.
  8. Es müssen auch Konzepte und Strategien ziviler Art entwickelt werden, um mit der russischen Gesellschaft wieder in Kontakt zu kommen und friedensfördernde Begegnungen zu ermöglichen. Der Abbruch aller Beziehungen war auf den ersten Blick eine scharfe Bestrafungsaktion, auf den zweiten Blick vielleicht unklug.
  9. Einen Sieg-Frieden von Russland oder der Ukraine wird es vermutlich nicht geben oder er wird nicht von Dauer sein. Einen dauerhaften Frieden kann es dann geben, wenn die Interessen beider Kriegsparteien berücksichtig werden. Die derzeit mit Recht von der Ukraine und der NATO verfolgten Kriegsziele stehen einer Waffenruhe und einem Frieden im Wege. Sie berücksichtigen nicht die (nicht berechtigten) aber vorhandenen Interessen Russlands. Am Ende muss der Friedensvertrag auch mit dem Kriegsgegner Russland geschlossen werden, egal welche Kriegsverbrechen er begangen hat. Das ist die bittere, unausweichliche Wahrheit.