Ukrainekrieg und Militarismus – „Diesen Krieg hätte man verhindern können“ – Interview mit Wolfram Wette

Quelle: Kontext  Ausgabe 572 Gesellschaft

Von Oliver Stenzel (Interview)

Datum: 16.03.2022

Ukrainekrieg und Militarismus – „Diesen Krieg hätte man verhindern können“

Pazifismus und Engagement gegen Aufrüstung haben gerade wenig Konjunktur, bleiben aber wichtig und richtig, meint der Historiker Wolfram Wette. Ein Gespräch über die Friedensbewegung, Kriegsprävention und die Gefahren einer Militarisierung der Welt als Folge des Ukrainekriegs.

Wolfram Wette, Jahrgang 1940, gilt als einer der renommiertesten Militärhistoriker Deutschlands – mit einem für sein Fach ungewöhnlichen Schwerpunkt: Er forschte intensiv zu Kriegsprävention und Pazifismus. Von 1975 an arbeitete er am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg, ab 1998 war er Professor für Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Wette ist Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung und unter anderem Mitglied des pazifistischen Arbeitskreises Darmstädter Signal sowie des Vereins „Gegen Vergessen – für Demokratie“. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen „Weiße Raben. Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933“ und „Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“, beide erschienen im Donat-Verlag.  (os)

Herr Wette, in der Friedensbewegung herrscht wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine Ratlosigkeit. Ist momentan eine schlechte Zeit für Pazifisten?

Auf den ersten Blick haben wir es mit einem Scheitern des Projekts „Ernstfall Frieden“ zu tun, das an Gustav Heinemanns Satz anknüpft: „Der Frieden ist der Ernstfall!“ In der Friedensbewegung ist man schockiert und stellt sich die Frage: Haben alle, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für ein dauerhaftes Friedensprojekt gearbeitet haben, etwas falsch gemacht?

Haben sie? Oder anders: Was war richtig, was falsch?

Zunächst: Eine moderne Friedensbewegung muss man wohl mit dem Buchenwald-Schwur „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ beginnen lassen. Diese Forderung richtete sich an jene, die in der Vergangenheit Krieg zu verantworten hatten, und das waren die Deutschen selbst. Es war ein Appell an die Bevölkerung zu begreifen, dass wir ein neues Kapitel in unserer Geschichte aufschlagen müssen.

Die Friedensforderung war also nach innen gerichtet.

Nach innen, es ging um eine Mentalitätsveränderung, weg von einer militaristischen, hin zu einer demokratisch-friedlichen. Daran haben nach 1945 Generationen gearbeitet. Es gab Bewegungen von unten, die sich der Remilitarisierung Deutschlands entgegengestellt haben, es gab aber auch ein großes Lernen in den politischen Eliten, die sich von kriegerischen Überlegungen verabschiedeten und sagten: Zukunft ist nur noch mit Sicherheitspolitik zu gestalten, das heißt mit Kriegsverzicht.

Darauf aufbauend, haben wir Jahrzehnte erlebt, in denen das militärische, machtpolitische Denken in die Defensive geraten und sich neue Mehrheiten für friedlichere Lösungen gefunden haben. Machtpolitisch geprägte Menschen haben das als „postheroisch“ zu verunglimpfen versucht, nach dem Motto: Wer von militärischer Macht nichts versteht, soll gefälligst von der Politik die Finger lassen. Doch eine große Mehrheit hat im Sinne Heinemanns begriffen: Nicht der Krieg, sondern der Frieden ist der Ernstfall. Jetzt wird diese fundamentale Einsicht massiv in Frage gestellt.

Das Friedensprojekt, das stark nach innen gerichtet war, ist nun herausgefordert durch einen Angriffskrieg, der nicht von Deutschland ausgeht. Wie reagiert man darauf?

Im aktuellen Krieg in der Ukraine ist die Kriegsschuldfrage zunächst einmal klar: Russland hat, aus welchen Gründen auch immer, das Land überfallen. Aber alle anderen Probleme, die damit zusammenhängen, scheinen aktuell wenig interessant zu sein. Es drängt sich der Eindruck auf, als falle die lange Vorgeschichte von Putins Aggression der offensichtlichen Kriegsschuld Putins zum Opfer. Eine wirkliche Analyse der Kriegsursachen gibt es zurzeit nicht.

Ein Versäumnis in ihren Augen?

Stets ist zu fragen, ob mit jedem Krieg, der beginnt, die Diplomatie versagt hat, oder ob in der Vorgeschichte die Fehler zu suchen sind. Zurzeit ist es unpopulär, solch eine Frage überhaupt zu stellen.

Aber ich bin überzeugt: Auch dieser Krieg hätte verhindert werden können. Kriege sind keine übernatürlichen Erscheinungen, keine Schicksale. Kriege sind Menschenwerk, deshalb gilt grundsätzlich: Auch die Kriegsverhinderung ist Menschenwerk und damit der Erhalt des Friedens möglich – eine mehr als wichtige Aufgabe.

Nun hört man sagen, Putin hat den Krieg gewollt, ergo ließ er sich nicht verhindern. Aber so ist es eben nicht, Putin hat eine Entwicklung durchgemacht. Die zurückliegenden Jahrzehnte sind dabei von allergrößter Bedeutung, wenn man verstehen will, was jetzt los ist. Zum Beispiel habe ich die Beobachtung gemacht, dass die Rolle der USA nach dem Kalten Krieg, nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Bildung der neuen Länder, die zuvor zur Sowjetunion gehört hatten, die NATO-Osterweiterung mit ihren verschiedenen Etappen, dass all das fast völlig außerhalb jeder Diskussion ist. Darauf ist aufmerksam zu machen, ohne gleich ein abschließendes Urteil darüber abzugeben.

Auch ohne abschließendes Urteil: Wo hätte der Westen aufmerksamer sein müssen?

Es hätte größere Aufmerksamkeit auf die Bedrohtheitsgefühle der Russen gerichtet werden müssen. Wenn man sich selbst sagt, ich bedrohe doch niemanden, ist das nur die eine Seite des Problems. Wenn der andere sich bedroht fühlt, ist das die andere Seite. Deshalb ist in der Friedens- und Konfliktforschung viel von Bedrohtheitsvorstellungen und -gefühlen die Rede – weil das eben subjektive, aber auch kollektive Empfindungen sind, die man ernst zu nehmen hat – und das ist nicht genügend getan worden.

Hätte nach dem Ende des Kalten Kriegs mehr Augenmerk auf eine globale Friedens- oder Sicherheitspolitik gelegt werden sollen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die „Nie wieder Krieg“-Parole im Wesentlichen auf das bis dahin aggressive Deutschland ausgerichtet. Die Siegermächte – USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – haben zwar auch die UNO-Charta unterschrieben, die auf Krieg verzichtet, in der Praxis gleichwohl immer wieder Krieg geführt und das militärische Instrument als relativ normales Mittel der Politik eingesetzt. Es gab den Korea-Krieg, den Vietnam-Krieg, den Afghanistan-Krieg der Russen, den des Westens, die Suez-Krise, den Falklandkrieg und viele andere – da war keine gebrochene Tradition wie in Deutschland, sondern eine Kontinuität von militärisch gestützten Interessen.

Dennoch gehörte, Sie haben es erwähnt, die Forderung „Nie wieder Krieg“ auch zu den Grundlagen der Charta der Vereinten Nationen bei ihrer Gründung 1944. Nun war die UNO in den letzten Jahrzehnten mit Kriegsprävention nicht sehr erfolgreich. Müsste versucht werden, sie wieder zu stärken?

Die Versuche, den Krieg rechtlich einzudämmen, gehen noch weiter zurück. Der Versailler Vertrag 1919 hat eine wichtige Rolle gespielt, der Briand-Kellogg-Pakt von 1929, der das Verbot des Angriffskrieges beinhaltete, galt weltweit als ein Fanal für die Zukunft. Es hat sich nur später herausgestellt: So schön es ist, dass man den Angriffskrieg ächtet und mit internationalen Gerichten darüber wacht, es ist sehr schwer, ihn überhaupt zu definieren und später juristisch zu fassen. Denn spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden alle militärischen Handlungen auf der Welt, ganz egal, wie sie aussehen, immer als Verteidigung ausgegeben. Ob am Hindukusch, am Suezkanal, auf den Falklandinseln oder sonst irgendwo, alle haben immer nur verteidigt.

Auch jetzt wieder.

Der russische Außenminister Lawrow sagte vor kurzem in Antalya – eigentlich ganz im Sinne der deutschen Führung von 1941, die behauptet hatte, Deutschland sei mit seinem Überfall auf die Sowjetunion nur einem Angriff der Roten Armee zuvorgekommen, habe also einen Präventivkrieg begonnen –, Russland sei das eigentliche Opfer. Der Westen habe mit scharfen Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine „wie ein Tollwütiger“ reagiert, es gehe dem Westen um eine Aggression gegen alles, was russisch ist. Die Schuldumkehr ist ein beliebtes Mittel von Aggressoren. Das macht die Schwierigkeit der rechtlichen Einhegung von Kriegen aus. Ich glaube, das Problem liegt tiefer.

Und zwar wo?

Man muss zum Frieden bereit sein, es kommt ganz maßgeblich auf den Willen zum Frieden an. Für mich war erhellend, was der kenianische Uno-Botschafter Martin Kimani am 23. Februar gesagt hat: Alle unsere Grenzen in Afrika sind durch Kolonialregime gezogen worden. Wir empfinden das als ungerecht und unmöglich, trotzdem haben wir uns entschlossen, die Grenzen zu akzeptieren. Alles andere hätte keine Zukunft. Es läge ein Jahrhundert von afrikanischen Kriegen vor uns, wenn wir es anders machen würden.

Also der Grundsatz, dass man endlich mal die Grenzen als unverrückbar betrachtet und keine Politik mehr mit Krieg betreibt, wenn das alle akzeptieren würden, dann wären wir schon weiter. Aber das ist jetzt von Russland nicht akzeptiert worden. Welch abenteuerliche Vorstellung, die Ukraine sei eigentlich kein Staat; das ist eine Revitalisierung geopolitischer Ansichten – ein Rückfall in Eroberungspolitik früherer Zeiten.

Die internationalen rechtlichen Institutionen, zu denen auch Grenzen gehören, scheinen es also im Moment nicht richten zu können. Sobald ein Akteur den Friedenswillen nicht teilt, sind Krisen und Konflikte möglich.

Es besteht die große Gefahr, dass es international zu einer gravierenden Neuorientierung kommt. Solche Stimmung wie in der Bundestagssondersitzung am 27. Februar, wo man sich in einem bislang nicht für möglich gehaltenen Ausmaß darüber einig war, dass die Rüstungsanstrengungen in Deutschland zu verdoppeln sind, verbunden mit ähnlichen Stimmungen in anderen Ländern, die sich bedroht fühlen, das wirkt wie ein Signal, dass die Devise jetzt weltweit nicht mehr Frieden heißt, sondern Vorbereitung auf kriegerische Auseinandersetzungen. Und immer wo aufgerüstet wird, entstehen Feindbilder – und frohlocken die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes. Da werden die Diplomaten weniger wichtig – und Friedensbemühungen eher belächelt als bestärkt. Man geht einen hochgefährlichen Weg in militärische Eskalationsspiralen hinein mit der Folge, dass genau das geschieht, was wir eigentlich nach 1945 als großes Lernziel vermeiden wollten.

Blicken wir genauer auf Deutschland: Sie haben einmal den Kosovokrieg als Präzedenz- und Sündenfall zugleich bezeichnet, weil es erstmals der Einsatz der Bundeswehr in einem Angriffskrieg war. Sind jetzt die Waffenlieferungen für einen kriegführenden Staat, verbunden mit dem Bekenntnis zu Aufrüstung, für Sie auch ein Präzedenz- und Sündenfall?

Also, es ist zunächst einmal ein Bruch mit allem, was man bisher verkündet hat. Man hat in der Bundesrepublik ja schon seit den 1950er Jahren Waffenexport betrieben, aber gleichzeitig gesagt, spätestens ab den Siebzigern, wir wollen es nur sehr restriktiv handhaben, wollen nicht an kriegführende Länder liefern, nicht in Spannungsgebiete, nicht an Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Trotz dieser Beschränkungs-Rhetorik sind weiter massiv Waffen verkauft worden, selbst an kriegführende Länder, zuletzt an Saudi-Arabien, das mit dem Jemen im Krieg steht. Man hat also die Grundsätze stets unterlaufen, und alle Anstrengungen, das zu unterbinden, haben bis jetzt nicht zum Erfolg geführt. In dieser Kontinuität gesehen sind die Waffenlieferungen an die Ukraine nur teilweise eine Neuigkeit. Damit ist die Tradition der angeblich restriktiven Rüstungsexportpolitik nun endgültig kassiert.

Und kommt auch nicht wieder?

Dass man jetzt Waffen in die Ukraine exportiert, heißt ja keinesfalls, dass es falsch war, gegen die Exporte von Rüstung zu sein und zu argumentieren. Es bleibt dabei, dass mit Waffen zugleich die Option für Kriegführung exportiert wird; dass eine Welt, die vollgepumpt ist mit Waffen aus den Industrieländern, immer gefährlicher wird. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass man ein neues Rüstungsexportgesetz nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa etablieren will, womit endlich die Restriktionen auch durchsetzbar seien. Für all das gibt es natürlich zurzeit wenig Grundlage.

Welche Folgen könnte das haben?

Ich habe die Befürchtung, dass der enorme Aufrüstungssprung in der Bundesrepublik Wellen auslöst mit Militarisierungstendenzen in der ganzen Welt und dass eine reale Steigerung von Sicherheit dabei nicht herauskommt. Langfristige Sicherheit ist nur möglich, wenn sich alle Kräfte darauf richten, die internationale Vernetzung – eine strukturelle Basis von Frieden – und den politischen Willen zu Gewaltverzicht miteinander zu verbinden. Es kann ja sein, dass das nicht gelingt, aber dann sähe es übel aus. Das ist die Alternative, die wir haben und die ich sehe: Einerseits eine Militarisierung der Welt, ein neuer kalter Krieg, mit der Gefahr eines realen Krieges, oder wieder Anknüpfung an die vielen positiven Erfahrungen, die wir auch mit der Pazifizierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte gemacht haben.

In Ihrem Buch „Militarismus in Deutschland“ von 2008 haben Sie konstatiert, dass Sie keine breitflächige Militarisierung sehen in der Gesellschaft, dass der „Humus für die Entwicklung eines neuen Militarismus“ noch fehle. Sehen Sie das immer noch so?

Im Moment ist das noch schwer durchschaubar. Ich habe nur in den vergangenen Jahrzehnten beobachtet, dass die Abneigung gegen alles Kriegerische und damit auch die Distanz zum Militär immer mehr gestiegen ist, und das korrespondierte ja mit einer sich verfestigenden pazifistischen Grundeinstellung in der Bevölkerung. Ob sich die Haltung eines großen Teils der Bevölkerung – wir sprechen von 80 Prozent – jetzt durch den Ukrainekrieg geändert hat, ist durch Meinungsumfragen meines Wissens noch nicht ermittelt.

Der Soziologe Harald Welzer scheint zumindest pessimistisch zu sein: Er sieht in einem taz-Interview „einen totalen Rollback“, beklagt Militarisierung von Sprache und womöglich auch von Mentalitäten. Und tatsächlich hat sich die Sprache – in den Medien – ja schon teilweise geändert, hin zu einer gewissen Pathetisierung und Emotionalisierung des Krieg-Führens. Ich kann mich nicht erinnern, dass in der medialen Berichterstattung über frühere Kriege so viele „Helden“ unterwegs waren, dass der Widerstand einer Kriegspartei nicht etwa „hartnäckig“, sondern „heldenhaft“ oder „tapfer“ war. Künden diese sprachlichen Veränderungen schon von einer neuen Militarisierung?

Wir haben ja viel Erfahrung mit den Helden in Deutschland. Hier war der Held über das kriegerische 20. Jahrhundert hinweg keineswegs der, der einen Strauchelnden aus dem Wasser gezogen und ihn damit gerettet hat. Sondern Held war zumeist, wer sich unterwürfig in das militärische Ordnungssystem eingepasst und Krieg geführt hat. Das heißt, für mich ist der Begriff des Helden in Deutschland mit sehr negativen Begleiterscheinungen verknüpft, keinen positiven. Wenn heute der ukrainische Präsident Selenskyj zum „heldenhaften Widerstand“, zur Verteidigung des ukrainischen Vaterlandes aufruft, dann hat das doch eine etwas andere Konnotation. Das sollte man beachten. Aber die Sprache ist immer der Vorbote und Ausdruck dessen, was unter der Zunge liegt.

Bemerkenswert ist auch, dass im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg ein teils sehr sorgloser Umgang mit einigen Begriffen stattfindet: Dass etwa der CDU-Politiker Norbert Röttgen häufig davon spricht, Putin führe einen „Vernichtungskrieg“, auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang hat sich schon so geäußert. Der Begriff wurde ja bislang eher auf Kriege wie den deutschen Überfall auf die Sowjetunion gebraucht.

Das Verwenden dieses Begriffes und anderer Begriffe belegt für mich, dass eine Ent-Historisierung sich Raum greift, dass viele Menschen heute gar nicht mehr wissen, was für einen Charakter der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion hatte. Man weiß wohl, dass es sich um einen deutschen Angriffskrieg handelte. Aber dass es zugleich ein systematischer Vernichtungskrieg war – wobei „Vernichtung“ eben nicht nur die Schäden meint, die durch einen einzelnen militärischen Angriff auf ein Objekt geschehen, sondern eine flächendeckende, planmäßige Vernichtung von Bevölkerung und von Infrastruktur, um auf dem eroberten Gebiet ein neues Herrschaftssystem mit neuen Menschen aufzubauen. Und das nun leichtfertig mit Zerstörungen zum Beispiel von Hochhäusern in der Ukraine in Verbindung zu bringen, ist historisch unzulässig. Jenes Ausmaß an Vernichtungswillen, das vom damaligen nazistisch infizierten Deutschland ausgegangen ist, das haben die russischen Streitkräfte in der Ukraine sicherlich nicht.

Ist das schlicht historische Unkenntnis oder ein bewusst fahrlässiger Gebrauch des Begriffs?

Ich fürchte, das ist Ausfluss eines reaktivierten Feindbilddenkens. Es passt alles in die Schablone: Der aggressive russische Bär im Osten, der uns bedroht, dem alles Böse zuzutrauen ist, diese jahrhundertealte Vorstellung. Außerdem: Wenn man einen Begriff wie „Vernichtungskrieg“ verwendet für das, was aktuell im Ukrainekrieg passiert, dann ist das eine Relativierung und Verharmlosung des deutschen Vernichtungskrieges von 1941 bis 1944. Das ist genauso zu kritisieren, wie wenn etwa ein Gegner der Corona-Maßnahmen sich einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ auf die Jacke klebt und damit verharmlost, was mit dem Judenstern verbunden war. Das ist schon Teil politischer Propaganda, indem man die eigenen Verbrechen verkleinert dadurch, dass man sie mit anderen Verbrechen vergleicht, die aber bei weitem nicht die Dimension oder Intensität aufweisen.

Wie kommt man aus einer Situation wie der jetzigen raus? Wie müsste sich, im Hinblick auf kommende Krisen oder mögliche Eskalationsherde, die Politik verhalten?

Wie es schon immer war im Krieg: Rein kommt man schnell, raus aber ganz schwer.

Ein paar Sachen kann man, glaube ich, als sicher feststellen, über andere kann man nur Vermutungen äußern:

Sicher ist, dass durch die Anwendung von Waffengewalt, wie wir es zurzeit erleben, eine Revitalisierung der ukrainischen Nation stattgefunden hat. Man kann auch sehen, dass der Hass der Bedrohten auf die Angreifer massiv angestiegen, und dass eine dauerhafte Entfremdung von Russland und der Ukraine eingetreten ist, genau das Gegenteil von dem, was sich die russische Führungsspitze – nach allem, was ich weiß – erhofft hat.

Und das sind alles jenseits des Waffenhandwerks langfristig wirksame, negative Erscheinungen, die alle Anstrengungen, Frieden wieder herzustellen, schwieriger machen.

Wenn es zu einer Block-Konfrontation kommen sollte, die militärisch abgestützt ist, wird es darauf hinauslaufen, dass die mit dem Krieg produzierte Verfeindung von Russland und der Ukraine mittelfristigen Bestand hat. Und es ist zurzeit schwer vorstellbar, wie die beiden Kontrahenten eine Brücke zueinander finden sollen.

Das Konzept „Ernstfall Frieden“ bleibt jedoch in Kraft, auch wenn das erforderliche Vertrauen erst ganz allmählich wieder aufzubauen ist. Alles andere verfestigt den Kriegszustand, der weit über die Ukraine hinausgehen kann.