Vom Mythos der wirtschaftlich schädlichen Erbschaftssteuer

Quelle: Netzwerk Steuergerechtigkeit

Vom Mythos der wirtschaftlich schädlichen Erbschaftsteuer

Volker Grossmann | Veröffentlicht am 12. Dezember 2022

Gastbeitrag: Prof. Dr. Volker Grossmann* (Universität Freiburg / Schweiz; CESifo, München; IZA, Bonn)

Die derzeitige Erbschaft- und Schenkungsbesteuerung in Deutschland nutzt das Potenzial einer Reduktion der Vermögenskonzentration nicht, obschon dadurch der Großteil der Gesellschaft bessergestellt werden könnte. Das derzeitige System privilegiert vor allem Empfänger hoher Erbschaften, ohne dass dies ökonomisch zu rechtfertigen ist. Insbesondere könnte die weitestgehende Gleichstellung von Betriebsvermögen und anderem Vermögen mit flankierenden Maßnahmen implementiert werden, die produktive Familienbetriebe in ihrer Substanz schützen.

  1. Hohe Erbschaften, Vermögenskonzentration und mangelnde Chancengleichheit

Vermögen ist sehr ungleich zwischen den Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland verteilt. So fällt auf das reichste Hundertstel der Bevölkerung etwa 30% des Nettovermögens, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung nur etwa 3% besitzt (WID, 2022).

Dabei spielen Erbschaften eine große Rolle. So ist etwa der Anteil des geerbten Vermögens am Gesamtvermögen in Deutschland seit den 1970er Jahren von etwa 20% auf gut 50% angestiegen. Die jährlichen Erbschaften betrugen in jüngerer Zeit gut 10% des Nettonationaleinkommens (Brülhart et al., 2018), etwa 300 bis 400 Milliarden Euro jährlich. Die Erbschaften sind dabei ähnlich konzentriert wie das Vermögen. So erhält ein Zehntel der Empfänger knapp 50% der übertragenen Vermögen, während bei der unteren Hälfte der Empfänger nur insgesamt 7% der Erbschaften ankommt (Baresel et al., 2021, Abb. 1). Zudem gilt: Je höher das Haushaltsnettoeinkommen, desto häufiger ist der Bezug von Erbschaft oder Schenkung (Baresel et al., 2021, Abb. 3). Dies ist ein Ausdruck dessen, dass die soziale Herkunft die ökonomischen Chancen auf individueller Ebene in hohem Maße prägt, nicht zuletzt in Bezug auf Bildung.

John Stuart Mill – der wohl bekannteste Vertreter der liberalen Ökonomie – sah Erbschaften bereits Mitte des 19. Jahrhunderts im Konflikt mit dem gesamtgesellschaftlichen Interesse und hat eine substantielle Erbschaftsbesteuerung befürwortet (Mill, 1848; Ekelund & Walker, 1996).

Dass hohe Erbschaften sowohl die Chancengleichheit als auch Leistungsanreize von Erben untergraben und somit dem Kerngedanken des Liberalismus entgegenstehen, spielt heute in selbsternannten, (wirtschafts-) liberalen Kreisen jedoch bedauerlicherweise keine Rolle mehr.

Dabei wäre die Erkenntnis angesichts der steigenden Erbschaften und dem hohen Anteil des leistungslos erworbenen Vermögens in Deutschland wichtig wie lange nicht. So gibt es in ökonomisch ungleichen Gesellschaften, in denen das individuelle Wohlgehen weitgehend vom Elternhaus abhängig ist, unerwünschte politische Folgen in Form von (Rechts-) Populismus (Guriev & Papaioannou, 2022) und geringem sozialen Zusammenhalt (Vergolini, 2011).

Beispiele sind Fremdenfeindlichkeit, Wissenschaftsskepsis, geringes Vertrauen in staatliche Institutionen und Verschwörungstheorien verschiedener Art. Gezielte Kampagnen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure zur Verstärkung dieser Tendenzen fallen gerade in einer von hoher Vermögenskonzentration und Abstiegsängsten geprägten Gesellschaft auf fruchtbaren Boden. Eine chancengleichere Gesellschaft hingegen würde die Akzeptanz demokratischer Werte und staatlicher Institutionen stärken.

Obschon gerade die hohen Erbschaften verteilungspolitisch problematisch sind, beinhaltet die aktuelle Erbschaftsteuergesetzgebung in Deutschland viele Ausnahmeregelungen, welche Erben sehr hoher Vermögen tendenziell bevorteilen.

Grund dafür und gleichzeitig der Dreh- und Angelpunkt in der langanhaltenden Debatte über die Erbschaftsteuer ist die Behandlung von Unternehmensübergängen. Zwar ist diese Debatte aus mehreren Gründen verständlich. Aus individueller Sicht möchte ein Unternehmer seinen Betrieb an eine Nachfolgegeneration weitergeben und zudem sind erfolgreiche Betriebe gesellschaftlich wünschenswert. Allerdings ist festzuhalten, dass die hohe Vermögensungleichheit auch mit dem Aufbau und Vererbung erfolgreicher Unternehmen einhergeht. Zudem hat die Erbschaft- und Schenkungssteuer in Deutschland als Folge der Steuerprivilegien für Unternehmenserben im letzten Jahrzehnt (von 2011 bis 2020) im jährlichen Durchschnitt gerade mal 0,87% des Steueraufkommens (5,9 Mrd. Euro) generiert (eigene Berechnung auf Basis der Daten des BMF, 2022).

Somit ist die zentrale Herausforderung, das Erbschaftsteuersystem so zu reformieren, dass die Vermögensungleichheit abgebaut und gleichzeitig die Arbeitsplätze sowie der unternehmerische Erfolg in Familienunternehmen nicht gefährdet werden. Zum Erreichen des ersten Teilziels wäre es nötig, die Übertragungen von Unternehmen weitestgehend genauso zu behandeln wie sonstiges Vermögen.

Der vorliegende Beitrag erläutert, warum es ein Mythos ist, dass dies im Konflikt stünde mit dem Erreichen des zweiten Teilziels, produktive Familienunternehmen in ihrer Substanz nicht zu gefährden.

Abschnitt 2 legt dar, welche Privilegien im derzeitigen Erbschaft- und Schenkungssteuerrecht für die Übertragung von Unternehmenseigentum bestehen und welche Gründe dafür angeführt werden. Abschnitt 3 diskutiert das derzeitige Erbschaftsteuersystem in Deutschland im Lichte der Literatur über wohlfahrtsoptimale Besteuerung. Dabei geht es insbesondere um die Fragen, wie hoch die Erbschaft- und Schenkungssteuersätze sein sollten und warum die privilegierte Behandlung von Betriebsvermögen aus ökonomischer Sicht problematisch ist. Abschnitt 4 stellt einen Maßnahmenkatalog vor, der eine weitestgehende Gleichbehandlung der Vermögensarten im Erbschaft- und Schenkungssteuerrecht und somit dem Abbau der Vermögensungleichheit ermöglicht, ohne Investitionen und Arbeitsplätze zu gefährden. In Abschnitt 5 finden sich Schlussbemerkungen.

Die Abschnitte 2 bis 5 hier weiterlesen