Was die USA von Deutschland lernen können – Interview mit der US-Philosophin Susan Neiman

Quelle: RND Interview USA George Floyd

Kristian Teetz – 10.06.2020

Was die USA von Deutschland lernen können: Interview mit US-Philosophin Susan Neiman –  Zwischen Hoffnung und einem möglichen Bürgerkrieg: Wohin treiben die USA?

Die Proteste in den USA sind die größten seit der Bürgerrechtsbewegung von 1968. Die Leiterin des Potsdamer Einstein-Forums, die US-Amerikanerin Susan Neiman, hat Hoffnung, dass sich dieses Mal wirklich etwas ändert. Im Interview erzählt sie, warum – und was die USA von den Deutschen lernen können.

Frau Neiman, in den USA mussten Schwarze in der Vergangenheit immer wieder unter Polizeigewalt leiden. Und es gab nach Todesfällen oft Demonstrationen, die aber immer relativ schnell wieder abebbten. Warum sind die Proteste dieses Mal so heftig?

Zum einen hat sich in der Vergangenheit immer sehr schnell herausgestellt, dass sich nichts ändern wird. Zum anderen spielt auch das Coronavirus eine Rolle.

Wie das?

Schwarze erkranken dreimal häufiger an dem Virus als Weiße. Das hat mit mehreren Faktoren zu tun: Erstens ist die Krankenversorgung der Schwarzen zumeist schlechter. Zweitens arbeiten sie häufig in Berufen, die man hierzulande systemrelevant nennt. Doch in den USA gibt es keine Krankschreibungen, keine Lohnfortzahlung. Man darf eigentlich nicht krank werden. Doch viele arme Menschen, die mehrheitlich dunkelhäutig sind, müssen ihre Arbeit in Supermärkten, in Krankenhäusern ohne ausreichende Schutzmittel machen und erkranken.

Aber was hat das mit den Protesten zu tun?

Es hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Dazu kommt, dass Trumps Rassismus immer deutlicher wird. Millionen Menschen sind an dem Punkt angelangt, an dem sie sagen: Jetzt reicht es!

Nach der Meinung vieler Kommentatoren in den USA beobachten wir momentan die heftigsten Proteste seit 1968. Sehen wir eine neue Bürgerrechtsbewegung?

Auf jeden Fall! In den Meinungsumfragen steht die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung hinter den Protesten. Millionen haben dieses schreckliche Video von George Floyds Tod, aber auch andere Videos gesehen, so dass selbst weiße Konservative zu der Meinung gekommen sind, das ist brutal und ungerecht. Was mich freut und mir Hoffnung macht ist, dass mittlerweile viele Menschen, die sich lange Zeit pessimistisch geäußert haben wie der schwarze Autor Ta-Nehisi Coates, jetzt von einer neuen Hoffnung sprechen.

Was macht diese Leute denn so optimistisch?

Die Tatsache, dass die Proteste heute umfangreicher sind als 1968. Es waren damals nicht so viele Leute auf der Straße, und es gab auch keine so breiten Bündnisse wie heute. Heute sind ja mehr Weiße auf der Straße als Schwarze. Aber auch die internationale Unterstützung ist sehr wichtig für die Demonstranten.

Was der Bewegung heute im Gegensatz zu 1968 fehlt, sind charismatische Figuren. Heute gibt es keinen Martin Luther King, keinen Malcom X. Ist das ein Problem?

Ich glaube nicht. Denn wenn man sich die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigerjahren anschaut, haben es die charismatischen Figuren wie vor allem Martin Luther King zwar geschafft, in die Nachrichten zu kommen. Aber man weiß heute, dass diese Leute nicht unbedingt entscheidend für die Bewegung waren.

Historische Figur: Der US-amerikanische Menschenrechtler Martin Luther King Jr. beschwört auf einer Pressekonfernz am 8. Juni 1964 in New York ein „Klima der Gewaltlosigkeit“.

Wer denn?

Es gibt im Englischen ein Wort, für das es im Deutschen keine Entsprechung gibt: Community Organizer. Das sind Leute, die in die Gemeinden gehen und wirklich von unten aus organisieren. Als Barack Obama sein erstes Studium fertig hatte, wollte er Community Organizer werden – und hat auch drei Jahre lang in Chicago als ein solcher gearbeitet. Community Organizer sind Menschen, die keine großen Reden halten, sondern wirklich in den Gemeinden Veränderungen bewirken. Und die gibt es heute auch.

Stehen die USA vor einem Bürgerkrieg?

Ich bin keine Prophetin und kann Ihnen die Frage so nicht beantworten. Aber wir reden in den USA seit Trumps Amtsantritt von einem kalten Bürgerkrieg. Jetzt sind die Ängste sehr gestiegen, dass dieser Bürgerkrieg heiß werden könnte. In den führenden Medien „New York Times“, „Washington Post“, CNN – die allesamt keine linksradikale Medien sind – wird sehr viel darüber geschrieben und gesprochen, was passiert, wenn Trump die Wahl verliert. Wird er sich weigern zu gehen? Das wäre ein Staatsstreich. Das ist eine sehr ernste Situation.

Ist Donald Trump ein Rassist?

Das steht doch vollkommen außer Frage. Er wirft mit rassistischen Parolen um sich, er wiederholt sie, er nennt afrikanische Länder „Shithole Countries“, also Dreckslöcher. Die Dokumentation seines Rassismus ist breit und umfangreich. Trump ist nur in die Politik gegangen, um mit der sogenannten Birther-Bewegung Barack Obama die Legitimation für das Präsidentschaftsamt abzusprechen, weil dieser angeblich in Afrika und nicht in den USA geboren ist. Seine politische Karriere ist auf Rassismus gegründet.

Warum ist der Rassismus immer noch so tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt?

Vor 150 Jahren ist der Amerikanische Bürgerkrieg zu Ende gegangen – immer noch das wichtigste Ereignis der US-Geschichte. Aber der Bürgerkrieg wurde bis heute überhaupt nicht aufgearbeitet. Bis heute gibt es weite Teile der Gesellschaft, die behaupten, die Sklaverei war nicht der Grund des Krieges. Das stimmt natürlich hinten und vorne nicht, wie man aus damaligen Briefen, Dokumenten und Erklärungen erfahren kann. Aber ein gravierendes Problem bis heute ist, dass man nach dem Bürgerkrieg eine Versöhnung zwischen Nord und Süd, aber nicht zwischen Weißen und Schwarzen wollte, das war zweitrangig.

Der Rassismus von heute erklärt sich also aus der Geschichte?

Die USA haben noch nie eine richtige Vergangenheitsaufarbeitung unternommen, wir haben nicht einmal ein eigenes Wort dafür. Deshalb ist eine Legende gestrickt worden: Erstens war nach dieser Legende die Sklaverei völlig in Ordnung, die Sklaven liebten demnach ihre Herrschaften. Und zweitens ging es in dem Krieg aus Sicht der Südstaaten um die mutige Verteidigung der eigenen Heimat, die von den Nordstaaten angegriffen wurde. Die Südstaaten haben sich als Opfer stilisiert, und die bösen Yankees wollten ihnen auch noch die Kriegsschuld in die Schuhe schieben.

Wer ist verantwortlich für diese Legende?

Diese Geschichtsfälschung wurde bewusst durch zwei Vereine betrieben: Die Daughters of Confederacy, also die Töchter der Konföderation, und entsprechend die Sons of Confederacy. Die beiden Vereine haben einen sehr verklärenden Blick auf die Südstaaten und sogar auf den Ku-Klux-Klan verbreitet. Diese Legende konnte sich zudem durch die amerikanische Filmindustrie verbreiten. Die ersten großen US-Filme waren Verherrlichungen der Konföderation. Der erste hieß „Birth of a Nation“, der zweite ist in Deutschland besser bekannt: „Vom Winde verweht“. Und das sind nur die zwei bekanntesten, es gab Hunderte solcher Filme, die diese Zeit glorifizierten.

Welche Rolle spielt diese Legende bei den jetzigen Protesten?

In der ersten Woche der jetzigen Demonstrationen nach dem Tod von George Floyd ist der Hauptsitz der Töchter der Konföderation in Brand gesteckt worden. Zudem werden momentan einige der Denkmäler der Konföderierten zerstört. Das heißt, die Demonstranten sehen sehr deutlich die Verbindung zwischen den jetzigen Problemen und der Geschichtsfälschung.

In Ihrem aktuellen Buch „Von den Deutschen lernen“ geht es auch um die Frage der Vergangenheitsbewältigung in den USA. Was können denn die USA in dieser Beziehung von den Deutschen lernen?

Erstens, dass es überhaupt eine Vergangenheitsaufarbeitung geben muss. Die US-Amerikaner müssen den Begriff erst einmal in ihre Sprache aufnehmen. Sie müssen verstehen, dass Fehler und Verbrechen der Vergangenheit auf untergründige Weise fortleben, wenn man nicht ein halbwegs deutliches Verständnis von ihnen entwickelt.

Und weiter?

Zweitens müssen die Amerikaner ein Verständnis dafür entwickeln, dass Vergangenheitsaufarbeitung unheimlich schwierig ist. Ich sehe regelmäßig in schockierte Gesichter, wenn ich erzähle, dass auch die Deutschen anfangs keine Reue zeigen wollten und sich als Opfer, nicht als Täter begriffen haben.

So wie sich die Südstaaten als Opfer begreifen.

Ja. Wenn ich Amerikanern oder Engländern sage, die Deutschen haben sich als Opfer verstehen, kommt zunächst ein Schock. Dann aber sage ich: Das kann auch Hoffnung bringen, weil es selbst bei einem Verbrechen dieser Größe Jahrzehnte gedauert hat, bis die Deutschen in der Lage waren, die Perspektive zu wechseln von „Wir sind die größten Opfer“ hin zu „Wir waren Täter, bevor wir Opfer wurden“. Wenn das Deutschland gelungen ist, kann es auch anderen Ländern gelingen.

Jeder Vergleich zwischen dem Holocaust und anderen Verbrechen klingt zumindest in den Ohren von Deutschen immer problematisch. Sehen Sie den Holocaust nicht als singuläres Ereignis?

Ich antworte mit dem bulgarischen Denker Tzvetan Todorov: Die Deutschen sollen immer über die Singularität des Holocaust sprechen und die Juden über dessen Universalität. Das klingt paradox, aber: Wenn ein Deutscher auf die Universalität des Verbrechens hinweist, sucht er Entlastung. Wenn ich als Jüdin sagen würde, der Holocaust war singulär, wäre es auch eine Art und Weise zu sagen: Was meinem Stamm angetan wurde, war schlimmer als alle Schmerzen, die anderen Nationen und Menschen in der Welt angetan wurden. Das möchte ich aber nicht sagen, sondern Verantwortung übernehmen auch für andere Beispiele der Ungerechtigkeit.

Wenn Sie sagen, die Vergangenheitsaufarbeitung in Deutschland ist gelungen, sprechen dann nicht zum Beispiel die Morde von Hanau und Halle gegen diese These?

Ich habe nicht gesagt, die Vergangenheitsaufarbeitung ist rundum gelungen. Ich habe nur gesagt, dass sie teilweise gelungen und Deutschland weiter als alle anderen Länder ist. Aber schreckliche Ereignisse wie Hanau und Halle zeigen, dass die Vergangenheitsaufarbeitung in Deutschland nicht mehr als absoluter Impfstoff funktioniert. Deutschland ist genauso wie andere Länder auch anfällig für xenophobische Anschläge. Ich will das nur ein wenig relativieren: Zu meinem großen Bedauern sind mehr Juden in Trumps USA ermordet wurden als irgendwo sonst auf der Erde. In den vergangenen anderthalb Jahren gab es schreckliche Angriffe auf mehrere Synagogen. Auch in England und Polen ist ein großer Antisemitismus zu beobachten. Deutschland ist natürlich nicht vollkommen unrassistisch, aber ist es doch besser als seine Nachbarn.

Sie sind im Süden der USA, in Georgia, aufgewachsen. Als 1968 Martin Luther King ermordet wurde, spielten Sie gemeinsam mit seinen Kindern in einer Theatergruppe. Welche Rolle spielte damals dieses Ereignis für Sie?

Ich war sehr jung, aber es war schon ein einschneidendes Erlebnis. Wir spielten Theater, und es war die erste integrierte Jugendgruppe von schwarzen und weißen Jugendlichen in Atlanta. Die Gruppe wurde übrigens von den Eltern von Julia Roberts geleitet. Wir waren natürlich alle für die Gesetze zur Überwindung der Rassentrennung – und zwar auf friedliche Weise. Die Ermordung von Martin Luther King war ein Schock und ein Schrecken. Ich war auf seiner Beerdigung, das war die erste Demo meines Lebens. Ich war damals 13.

Sie selbst sind schon früh mit dem Thema Ausgrenzung konfrontiert worden, als Ihre beste Freundin Ihnen im Alter von acht Jahren von heute auf morgen die Freundschaft aufkündigte – weil Sie Jüdin sind. Wie sehr hat diese Erfahrung Sie geprägt?

Das war hart. Weil wir wirklich beste Freundinnen waren. Wir haben alles zusammen gemacht. Eines Tages hat sie gehört, dass die Juden Jesus ermordet haben sollen. Sie kam auf mich zu und sagte: Es täte ihr sehr leid, aber das gehe ja nicht. Ich fühlte mich sehr isoliert, sehr allein, aber ich habe mich nicht als Opfer gefühlt. Mir war schon als Kind klar, dass das viel schlimmere Opfer zu dieser Zeit die Schwarzen bringen mussten. Die Juden waren nicht wirklich integriert in die Gesellschaft, aber wir mussten nicht die Art der Diskriminierung erleiden wie die Schwarzen.

Wenn Sie heute nicht in Deutschland, sondern in den USA leben würden, was würden Sie in diesen Tagen machen?

Ich würde auf die Straße gehen.

Aber reicht es denn aus, auf die Straße zu gehen?

Natürlich nicht. Es gibt jetzt viele Forderungen, man versucht sie zu formulieren. Es ist erstaunlich, wie schnell das geht – etwa die Struktur der Polizei zu ändern. Das ist jetzt etwas, das schon umgesetzt wird – etwa in Minneapolis. Aber die erste Priorität ist, dass man jetzt diesen Kriminellen aus dem Weißen Haus jagt. Man muss also Wähler für den November mobilisieren. Trump versucht ja schon mit allen Mitteln, Wähler abzuschrecken, mit Propaganda gegen Briefwahl zum Beispiel. Man muss jetzt dafür sorgen, dass eine ordentliche Wahl für November organisiert wird, und alle Menschen auch ohne Angst vor Corona wählen gehen können. Eine Abwahl Trumps wird nicht alles ändern, aber wenn er noch eine weitere Amtszeit bekommt, wäre das unvorstellbar grauenhaft.

© Quelle: Hanser

Zur Person: Die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman leitet seit 2000 das Einstein-Forum in Potsdam. Aufgewachsen ist die 1955 geborene Denkerin im Süden der USA. In ihrem neuen Buch „Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können“ (Hanser Berlin, 576 Seiten, 28 Euro) erzählt sie zu Beginn, wie sie die Zeit der Rassentrennung erlebte. Sie berichtet aber auch, wie es war, als sie als Jüdin 1982 erstmals nach Berlin kam und welche Erfahrungen sie mit der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung gesammelt hat. Im Mittelpunkt des Buchs mit persönlichen Porträts und philosophischer Reflexion steht die Frage, wie die Deutschen und ihr Umgang mit der Geschichte den USA ein Vorbild sein können. Denn in den Südstaaten, so Neiman, bestimmt das Erbe der Sklaverei immer noch die Gegenwart. Mit verheerenden Folgen.