Wir konnten auch anders – eine kurze Geschichte der Nachhaltigkei

Prof. Dr.  Annette Kehnel: Wir konnten auch anders827 Aufrufe -7.12.2021

I Die Historikerin Professorin Annette Kehnel macht in ihrem Buch „Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit“ den instruktiven Vorschlag, auch einmal ohne Nostalgie in die Zeit vor der Industrialisierung zu schauen.

Wie haben die Menschen etwa im Mittelalter gelebt und über Jahrhunderte eine mehr oder minder nachhaltige Kultur gelebt? Mit ihren Untersuchungen fördert sie Erstaunliches zu Tage. Viele soziale Arrangements des Mittelalters können auch heute vorbildlich sein. So vergaben schon im Mittelalter kommerzielle Banken Mikrokredite gerade auch an die ärmere Bevölkerung. Komplexe soziale Absprachen haben dazu geführt, dass Seen über Jahrhunderte hinweg nicht überfischt, dass gemeinsamer Weidegrund nicht einfach abgegrast, dass Wälder nicht einfach abgeholzt wurden. Laienbewegungen wie die Beginen haben neue, innovative Stadtgemeinschaften ins Leben gerufen, die auch im städtischen Raum auf Subsistenz setzten.

Durch eine ausgeprägte Reparaturkultur wurden Gebrauchsgegenstände immer wieder erneuert und nicht als kurzzeitige Konsumgegenstände angesehen. Die Leichtigkeit, mit der in Neuzeit und Moderne oft über das Mittelalter negativ geurteilt wurde, verbietet sich dann. Für die Gestaltung der Zukunft lohnt gerade auch eine genauere Untersuchung der ferneren Vergangenheit! Heute geht es natürlich nicht darum, die Lösungen des Mittelalters einfach zu kopieren. Die Zeiten sind andere, die Herausforderungen sind auch andere, es wird andere Lösungen geben müssen. Jedoch kann man auf der Suche nach einer neuen Kultur jenseits des fossilen Industriezeitalters durch die mittelalterliche Kultur Anregungen empfangen, wie der Umgang mit den Gebrauchsdingen, wie die Gestaltung von Gemeinschaften, wie soziale Regelwerke und Fürsorge nachhaltig gestaltet werden können. Professor Kehnel plädiert für eine neue Lust „an dem, was man hat.“ Dabei streitet sie die Notwendigkeit von technologischen Neuerungen nicht ab: „Wir brauchen technologischen Fortschritt, aber dieser technologische Fortschritt muss eben in die richtige Richtung gedacht und gemacht werden.“

Die Historikerin plädiert dafür, eingeführte Denkpfade zu verlassen: „Alternativen werden dann erst denkbar, wenn wir herauskommen aus diesem Käfig der Alternativlosigkeit und vor allem, wenn wir die Angst ablegen davor, dass alles anders werden könnte. Natürlich ist es schon deutlich, dass wir Angst vor Veränderung haben, weil wir auch viel zu verlieren haben. Wir sind ja die Gewinner dieser ganzen Entwicklungen. Wir leben auf Kosten nicht nur des Planeten, sondern auch auf Kosten anderer Menschen, die in anderen Kontinenten leben und auf Kosten künftiger Generationen. Deswegen haben wir natürlich Angst, dass wir etwas verlieren. Diese Verlustangst wird, glaube ich, unnötigerweise geschürt und wir sollten sie abbauen. Das genau versuche mit meinem Buch zu sagen: ‚Okay Leute, es wird anders werden, egal ob wir das wollen oder nicht. Es wird anders werden, aber hört doch mal auf, immer davor Angst zu haben, dass es anders wird. Es kann doch anders sein und trotzdem gut.'“

Dabei sieht sie insbesondere die heutigen „Babyboomer“ in der Pflicht: „Wir dürfen die Probleme der Zukunft und der Gegenwart nicht der nächsten Generation überlassen. Das ist mir ein großes Anliegen.“ Dabei ist sie optimistisch: „Ich bin eigentlich zuversichtlich, dass wir das Rad noch rumreißen können, aber wir müssen es wollen.“

Zur Person Annette Kehnel studierte von 1984 bis 1990 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Somerville College Oxford und an der Ludwig-Maximilians-Universität München die Fächer Geschichte und Biologie. Sie wurde im Mai 1995 am Trinity College Dublin promoviert. Ihre Habilitation erfolgte 2004 an der Technischen Universität Dresden mit einer Arbeit über die Franziskaner auf den Britischen Inseln in der Zeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Seit Oktober 2005 ist sie Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Historische Anthropologie, Politik-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte sowie die Vergleichende Ordensforschung. Mit ihrer Dissertation legte sie die erste Darstellung eines irischen Klosters im Mittelalter überhaupt vor.

Ihr Werk Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit wurde 2021 mit dem NDR Sachbuchpreis ausgezeichnet.