Wir schlittern auf einen Atomkrieg zu

IPG-Journal – Experte Jeremy Shapiro: Wir schlittern auf einen Atomkrieg zu

Jeremy Shapiro

Wir schlittern auf einen Atomkrieg zu

Blufft Putin? Im Angesicht einer für ihn katastrophalen militärischen Niederlage steigt die Gefahr eines russischen Atomschlags.

Im Krieg ist nichts unvermeidlich und wenig vorhersehbar. Doch wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt, können wir von außen erkennen und beschreiben. Aus dem rechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Stellvertreterkrieg zwischen Washington und Moskau geworden. Sofern sich die derzeitige Entwicklung fortsetzt, wird die Eskalationsspirale, in der sich die beiden Seiten befinden, eine direkte Konfrontation herbeiführen und in einen Atomkrieg münden, der Millionen von Menschen das Leben kosten und weite Teile der Welt zerstören wird. Eine solche Prognose anzustellen, ist natürlich kühn und womöglich auch unklug – immerhin werde ich, sollte ich Recht behalten, wohl nicht mehr da sein, um die Lorbeeren einzuheimsen.

Präsident Joe Biden hat auf diese Gefahr hingewiesen – und dafür reichlich Kritik geerntet –, weil er allem Anschein nach hofft, durch Offenheit einen solch schrecklichen Ausgang vermeiden zu können. Tatsächlich lässt sich die derzeitige Entwicklung noch beeinflussen, doch bedarf es auf beiden Seiten gezielter Maßnahmen, um eine direkte Konfrontation abzuwenden. Im Moment scheint keine Partei dazu willens oder politisch in der Lage zu sein. Im Gegenteil, nukleare Drohungen sind ein augenfälliger Bestandteil der russischen Kriegsstrategie. In den Vereinigten Staaten werden Stimmen, die diese Gefahr auch nur andeuten, scharf verurteilt, weil man fürchtet, die Entschlossenheit des Westens könnte dadurch geschwächt werden. Jede Erwähnung solcher Überlegungen auf Twitter führt die Diskussion unweigerlich zum Jahr 1938 inklusive Appeasement-Vorwürfen und dem Verweis auf Neville Chamberlain.

Ungeachtet dieser Schmähungen lässt sich die Gefahr aber nicht mindern, indem man sie verschweigt. In den Analysen der Thinktanks ist von „Szenarien“ die Rede, mittels derer sich der wahrscheinlichste Ausgang durch andere, weniger wahrscheinliche Alternativen verschleiern lässt. Solcherlei Übungen eignen sich für Planungszwecke, doch vor allem belegen sie, dass wir die Ereignisse vor Ort generell kaum prognostizieren können. Darüber hinaus bleibt unklar, wie wahrscheinlich jedes der einzelnen Szenarien ist. I

Ich stelle hier einmal ausschließlich das Szenario einer nuklearen Eskalation vor. Dabei gehe ich von der Überlegung aus, dass es zwar lange Phasen relativen Stillstands geben kann und der schlimmste Fall womöglich nie eintritt, dass wir uns aber derzeit auf die unkontrollierte Eskalation zubewegen.

Kein vernünftiger oder auch nur zurechnungsfähiger Staatschef bricht geplant einen Atomkrieg vom Zaun. Bei aller Risikofreude ist im russischen Regime auch keine Selbstmordneigung auszumachen. Wir haben es nicht mit bloßem Irrsinn zu tun, sondern mit einem im Kern unberechenbareren Problem: Kommt eine Eskalationsspirale erst in Gang, können mehrere einzelne, an sich vernünftige Schritte die Welt in eine aberwitzige Lage stürzen. Im Fall des Ukrainekrieges haben beide Parteien öffentlich erklärt, den Krieg keinesfalls verlieren zu dürfen. Zu verlieren, heißt es bei beiden, werde die Lebensweise und die Werte bedrohen, die ihnen besonders am Herzen liegen. Vor allem auf Seiten Russlands scheint das Überleben des Regimes und sogar die territoriale Integrität des Landes auf dem Spiel zu stehen.

Die Medien stellen Russland inzwischen als Papiertiger dar.

Je stärker sich der Krieg zuungunsten der Russen entwickelt, desto mehr rote Linien ziehen diese, um den Westen vor einer Eskalation zu warnen. Die Stationierung von Langstreckenraketen nahe der russischen Grenze bezeichnete Russland als „untragbar“. Man warnte vor der Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO und drohte der Ukraine im Falle eines Angriffs auf die Krim mit dem „Jüngsten Gericht“. Zwar zog die Überschreitung roter Linien durch die Ukraine, die USA oder Europa die eine oder andere Reaktion der Russen nach sich, diese blieb jedoch weit hinter den Drohungen zurück.

Da sich die roten Linien der Russen als eher rosa herausstellen, stoßen sie im Westen zunehmend auf Skepsis. Die Medien stellen Russland inzwischen als Papiertiger dar und tun die Nukleardrohungen als „Getöse“ ab. Die jüngste rote Linie Russlands betrifft die Lieferung von Langstreckenraketen an die Ukraine. Die russische Regierung behauptet, die Vereinigten Staaten würden, sollten sie diese Linie überschreiten, „unmittelbar zur Konfliktpartei“. Angesichts der vielen roten Linien, die bereits überschritten wurden, dürften die Verantwortlichen in den USA solche Drohungen aber nicht mehr sonderlich ernst nehmen.

Die Signale der Russen sind so problematisch, weil eine gezielte Eskalation nicht von irgendwelchen einzelnen Handlungen des Westens abhängt (etwa der Bereitstellung neuer Waffensysteme), sondern mutmaßlich von den Fortschritten der Ukraine vor Ort. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation steigt nicht mit dem Überschreiten einer willkürlich gesetzten roten Linie, sondern mit russischen Rückschlägen auf dem Gefechtsfeld.

Kenner des russischen Militärs vermuten seit langem, dass die Drohung mit Atomschlägen ein ausgeklügelter Bluff ist, mit dem Russland einen willensschwachen westlichen Gegner in Angst und Schrecken versetzen will. Doch die Ereignisse in der Ukraine und die Möglichkeit einer katastrophalen militärischen Niederlage vor Augen, könnten das Kalkül geändert haben. Niemand weiß es genau. Wahrscheinlich wissen es nicht einmal die Russen.

Klar ist, dass beide Seiten in der Ukraine immer dann eskaliert haben, wenn sie eine Niederlage fürchten mussten. Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Partner haben ungeachtet roter Linien qualitativ wie auch quantitativ ihre Militärhilfe für die Ukraine immer weiter erhöht. Unter dem Druck des Krieges liefern sie mittlerweile Waffen und nachrichtendienstliche Informationen, die sie noch vor wenigen Monaten als ein zu großes Eskalationsrisiko eingestuft haben. Entsprechend wurden die Wirtschaftssanktionen schrittweise immer weiter verschärft. Mittlerweile zielen sie offenbar auf eine dauerhaft Schwächung Russlands und eine Zerstörung des russischen Regimes ab – laut Biden Voraussetzungen für die Beendigung des Krieges.

Auf militärische Rückschläge haben die Russen wiederholt mit Eskalation reagiert.

Auf militärische Rückschläge haben die Russen wiederholt mit Eskalation reagiert, etwa mit der Einstellung von Energielieferungen an Europa, der verstärkten Bombardierung ziviler Ziele und in jüngster Zeit der offiziellen Annexion von vier ukrainischen Provinzen sowie einer Teilmobilisierung im eigenen Land. Wie die vielen Proteste in ganz Russland belegen, birgt dieser letzte Schritt offenkundige Risiken, die der Kreml aber offenbar als geringer einschätzt als die Gefahr einer Niederlage.

Mit ihren Eskalationsschritten haben beide Seiten auch die innen- und geopolitischen Voraussetzungen für einen Kompromiss hochgeschraubt und dadurch eine weitere Eskalation wahrscheinlicher gemacht. So soll zum Beispiel die russische Annexion besetzter ukrainischer Territorien das Signal an das In- und Ausland aussenden, dass die betroffenen Provinzen nunmehr wie russisches Staatsgebiet verteidigt werden. Doch im Gegenzug wird es durch diese Maßnahme für die Russen faktisch auch immer schwerer, einen Rückzieher zu machen und die Provinzen aufzugeben. So funktioniert eine Eskalationsspirale: Sie entfaltet ihre eigene Logik, in der mit jeder Eskalation die nächste wahrscheinlicher wird.

Natürlich sind schon viele Kriege eskaliert, doch seit 1945 hat kein Krieg mehr mit dem Einsatz von Atomwaffen geendet. Die Atommächte haben gelegentlich einen Nuklearschlag in Erwägung gezogen, insbesondere 1953 in Korea und 1973 in Israel, diese Schwelle jedoch nie überschritten. In der gegenwärtigen Situation muss vor einer direkten Konfrontation noch viel passieren: Die Vereinigten Staaten müssen noch viel mehr Waffensysteme liefern und die russische Wirtschaft mit zusätzlichen Maßnahmen isolieren. Russland muss noch viel mehr Männer einberufen, brutalere Gräueltaten begehen und schrecklichere nicht-nukleare Waffen einsetzen. Sollte sich ein reiner Abnutzungskrieg entwickeln, wird es vermutlich nicht zum Atomwaffeneinsatz kommen.

Eine Eskalation bis hin zum Atomschlag setzt voraus, dass eine Seite fürchtet, sie könnte verlieren und eine militärische Niederlage hätte katastrophale Folgen für die Regierung und die persönliche Sicherheit des Führungspersonals. Unter dem Druck einer drohenden militärischen Niederlage könnte sie zu dem Schluss gelangen, der Einsatz von Atomwaffen biete einen Ausweg. Eine solche Entwicklung hat es in einer Atommacht bislang noch nicht gegeben.

Eine Eskalation bis hin zum Atomschlag setzt voraus, dass eine Seite fürchtet, sie könnte verlieren.

Man kann sich aber leicht vorstellen, wie sich die heutige Situation dahin entwickeln könnte. Wenn der Krieg weiter zuungunsten der Russen läuft und insbesondere wenn die Ukrainer den Einmarsch auf die Krim in Angriff nehmen, wird sich die Angst, die Zukunft des russischen Regimes könnte auf dem Spiel stehen, weiter zuspitzen. Der eine oder andere geniale Kopf in der russischen Führung wird dann mit der Idee daherkommen, dass Russland die Dynamik umkehren kann, wenn es mit einem demonstrativen Atomschlag seine größere Bereitschaft unter Beweis stellt, das entstehende Armageddon hinzunehmen.

Michael Kofman und Anya Lukianov Fink zufolge propagieren russische Militäranalysten seit langem „demonstrative Gewaltausübung, die auch den Einsatz von Atomwaffen zu Demonstrationszwecken einschließen könnte“. Der Westen schere sich eigentlich nicht weiter um die Ukraine, würde ein solcher Optimist argumentieren, und werde deshalb, konfrontiert mit der realen Gefahr eines Atomkrieges, einen Rückzieher machen. In Ermangelung besserer oder auch nur anderer Alternativen als der Kapitulation wird der russische Präsident Wladimir Putin (oder sein Nachfolger) auf diesen Deus ex Machina zurückgreifen. Die schmale Hoffnung darauf, eine Niederlage in einen Sieg zu verwandeln, ist der wirksamste Feind des Friedens.

Die russischen Streitkräfte unternehmen in diesem Fall eine geringe Anzahl taktischer Atomangriffe gegen ukrainische Truppenkonzentrationen oder NATO-Nachschublinien innerhalb der Ukraine, oder sie setzen, falls sie nicht fündig werden, die Waffen gegen zivile Ziele ein. Das Ziel ist nicht entscheidend, denn Zweck eines solchen Angriffs ist es nicht, das Blatt militärisch zu wenden, sondern die Bereitschaft der westlichen Staaten zur weiteren Unterstützung der Ukraine zu schwächen. Zusätzlich würde Russland die strategischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzen und „ungewöhnliche Bewegungen“ des nuklearen Arsenals einleiten, um die USA vor einem Gegenschlag zu warnen.

Die US-Regierung zieht diesen Fall in Betracht und hat deshalb erst kürzlich den Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan und Außenminister Antony Blinken auf Reisen geschickt, damit sie die Russen vor den „schrecklichen“ und „katastrophalen“ Konsequenzen warnen, sollten sie in der Ukraine Atomwaffen einsetzen. Falls es dazu kommt, wird sich die US-Regierung jedoch schwertun, eine Antwort zu finden, die der Schwere des russischen Atomwaffeneinsatzes gerecht wird, ohne eine weitere Eskalation hin zur direkten Konfrontation und einen ausgemachten Atomkrieg auszulösen.

Die Warnung der Russen, strategische Atomwaffen einzusetzen, wird man als Bluff einstufen.

Auch in den USA wird ein genialer Kopf erklären, mit einer unmittelbaren und verhältnismäßigen Reaktion auf den Angriff werde man der russischen Führung klarmachen, dass die USA den verbrecherischen Einsatz von Atomwaffen ahnden, ohne aber den Krieg zu eskalieren oder den Sturz des russischen Regimes zu betreiben. Die Warnung der Russen, strategische Atomwaffen einzusetzen, wird man als Bluff einstufen, weil ein solcher Einsatz auf russischer Seite glatter Selbstmord wäre. In Ermangelung besserer Alternativen wird die US-Führung die Idee einer fein abgestimmten Reaktion aufgreifen und einen konventionellen Angriff durch die NATO in die Wege leiten, entweder auf russische Truppenverbände in der Ukraine oder auf den russischen Militärstützpunkt, von dem der Atomschlag ausgegangen ist. Als Vorsichtsmaßnahme versetzen die USA auch ihre Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft, entsenden mehr Atom-U-Boote und empfehlen den unabhängigen Atommächten Großbritannien und Frankreich, für ihre Atomstreitkräfte ebenfalls Alarmbereitschaft anzuordnen, falls das noch nicht geschehen ist.

Leider aber dürfte eine solch subtile Botschaft im paranoiden Kreml nicht ankommen. Durch den direkten NATO-Angriff auf Russland oder russische Streitkräfte wird man dort die eigene Auffassung bestätigt sehen, dass der Westen vorhat, die russische Regierung zu zerstören und das Spitzenpersonal zu töten. In der russischen Führung ist dieses Szenario allgegenwärtig: Putin schaut sich Berichten zufolge wie eine Besessener immer wieder das Video vom Tod des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi an, nachdem dieser von NATO-Truppen gestürzt worden war. Da also die russische Führung den Tod fürchten muss, wenn sie nichts zur eigenen Rettung unternimmt, unternimmt sie mit konventionellen Waffen und taktischen Atomwaffen weitere Angriffe auf NATO-Truppenverbände und Nachschuboperationen in angrenzenden NATO-Staaten wie Polen und Estland, um das klare Signal auszusenden, dass Russland bereit und in der Lage ist, sich zu verteidigen, ungeachtet der Gefahr einer Eskalation zum Einsatz strategischer Kernwaffen.

Die angegriffenen NATO-Staaten werden sich auf Artikel 5 berufen, und die NATO wird eine konventionelle Operation einleiten, um Russland an weiteren Angriffen zu hindern. Aus Angst, dass durch diese NATO-Angriffe die strategischen Nuklearkapazitäten Russlands zerstört werden und das Land den konventionellen Streitkräften der NATO wehrlos ausgeliefert sein könnte, werden die Russen mit einem strategischen Erstschlag versuchen, die Entschlossenheit oder die Fähigkeit des Westens, zu reagieren, um das eigene System zu retten, zu brechen. In diesem Fall bleiben mir noch ein paar Minuten Zeit, den Kolleginnen und Kollegen per E-Mail mitzuteilen: „Ich habe es euch doch gesagt.“

Dies ist nur ein Szenario, und natürlich ist es nicht unvermeidlich. Aber wir befinden uns soeben auf diesem Weg und die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, wächst mit der zunehmenden Verzweiflung auf der einen oder anderen Seite von Tag zu Tag. Die Folgen dieses Szenarios sind verheerend. Man sollte daher darauf aufmerksam machen.

Dieser Beitrag erschien im Englischen bei War On The Rocks.

Aus dem Englischen von Anne Emmert