Wirkungsvolle Protestformen – Warum die „Letzte Generation“ alles richtig macht

Quelle: Übermedien –   Friedemann Karig – November 2022

Wirkungsvolle Protestformen

Warum die „Letzte Generation“ alles richtig macht

1: Was nicht sein kann

Der Mensch weiß zu viel, über sich und die Welt. Selbst unsere eigene Endlichkeit ist uns schmerzlich klar. Einer der wichtigsten Mechanismen unserer Psychohygiene ist deshalb die Verdrängung. Würden wir bei jedem Spaziergang ausführlich bedenken, überfahren werden zu können, wären wir gelähmt vor Angst – und blieben zu Hause. Ebenso normal scheint es, jenes wissenschaftlich belegte Szenario, als Spezies milliardenfach in Tod und Elend zu laufen, im Alltag auszublenden. Wir müssen unser Leben heute leben, egal was in 20 oder 200 Jahren mit der Welt passiert. Der Alltag geht schließlich weiter, auch wenn er unsere Normalität früher oder später zerstören wird.

In diesen Wochen erleben wir vielleicht den Anfang vom Ende einer immensen kollektiven Verdrängungsleistung. Als vorvergangene Woche die Aktivistin Carla Rochel bei Markus Lanz saß, hatte der Diskursaufbruch seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht: „Wie sollte ich denn sonst mit meinen 20 Jahren hier sitzen“, sagte sie, „und über die Klimakatastrophe debattieren können, wenn wir nicht [den Alltag] unterbrechen würden? Und ich weiß, dass das unangenehm ist, weil wir Tag für Tag auf die Straße oder in die Museen tragen, was wir alle so gerne ignorieren würden.“

Nur der Konjunktiv stimmt in diesen Sätzen nicht: Die meisten von uns ignorieren sehr erfolgreich und seit langem die Realität des drohenden Klimakollaps. Doch spätestens in diesem Moment musste man feststellen: Die „Letzte Generation“ hat ihre Themen, Anliegen und Persönlichkeiten mit wenig Budget innerhalb kürzester Zeit in die breite Öffentlichkeit gebracht. Über sie und ihre Schwesterorganisationen „Extinction Rebellion“ und „Just Stop Oil“ wurde so groß berichtet wie über kaum eine Gruppierung der vergangenen Jahre. Die Videos erreichten hunderte Millionen Abrufe, die „New York Times“ kommentierte, Staatschefs äußerten sich. Wer mir ein Beispiel eines quantitativ effizienteren Protests zeigt, bekommt einen unversehrten Monet.

Die qualitativen Reaktionen jedoch waren forsch bis feindlich: Man warf den Aktivist:innen Totschlag vor, stellte sie mit Terrorist:innen gleich, belehrte und beleidigte sie. Die Springer-Presse fuhr eine typische Hetzkampagne rund um den skrupellos instrumentalisierten Fall einer von einem Betonmischer überfahrenen Radfahrerin („Das ist auch eure Schuld, ihr Klimakleber“). Doch selbst in Qualitätsmedien wie dem Deutschlandfunk mussten sich Aktivist:innen schon der Schuldfrage stellen, bevor der Hergang gesichert war.

Es fanden sich genug, die mithetzten: Der FDP-Bundestagsabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff twitterte vom „ersten Todesopfer“ der „Letzten Generation“, sogar Innenministerin Nancy Faeser („jede Grenze legitimen Protests überschritten“) und Justizminister Marco Buschmann sprangen mit Vorverurteilungen und Abwertungen („Dummheit“) bei. CSU-Landesgruppenleiter Dobrindt warnte vor der „Klima-RAF“, und Reinhard Müller soufflierte in der FAZ: „So kann Terror beginnen – und bei Gruppen mit anderen Zielen wäre das längst benannt worden und ein großes neues Kapitel im Verfassungsschutzbericht aufgeschlagen“.

„In Bezug auf die Klimaaktivistinnen und -aktivisten scheint keine Beschreibung zu krass und keine Bestrafungsfantasie zu haarsträubend zu sein“, schrieb Sophie Garbe im „Spiegel“ und beobachtete eine enorme „Aggressivität und Enthemmung“ in der Debatte. Die „Bild“-Zeitung fantasierte schließlich von Selbstjustiz: „Abreißen von selbst festgeklebter Haut dürfte ohne Weiteres in Kauf zu nehmen sein“, folgerichtig tauchen immer wieder Videos von gewalttätigen Übergriffen auf.

Ein Lehrstück an Feindbildpflege – von der statistischen Erfassung in den Berliner Behörden, die Verkehrsbehinderungen nur bei Klimaprotesten ganz genau dokumentieren, bis zu unzähligen Hasskommentaren und Morddrohungen im Netz. Ein Hauch von 1968 weht durch den Diskurs, als Springer mit Hilfe der rechten und konservativen Milieus so lange Stimmung gegen die Student:innen machte, bis Schüsse fielen.

Doch auch aus dem wohlmeinenden Lager der Linken und Progressiven wurde den Protestierenden – von prominenten Grünen wie Cem Özdemir bis Renate Künast, von Klimaforscher Mojib Latif bis Kulturstaatsministerin Claudia Roth, von SZ bis „Zeit“ – erklärt: Das geht nach hinten los. Die intuitive Abneigung, mit der besonders auch das linksliberale Feuilleton reagierte, verdichtete sich am absurdesten in einem Walter-Benjamin-Zitat von Autor und Kunstkenner Florian Illies: Er schrieb vom „Irrtum des Aktivismus“. Den hatte Benjamin 1932 in einem Essay einigen überheblichen Schriftstellern der späten Weimarer Republik unterstellt, weil die völlig realitätsfremd eine Herrschaft der Intellektuellen einführen wollten – also in Thema und Kontext das Gegenteil des zu besprechenden Aktivismus. Vielleicht ein Versehen, aber symptomatisch für das empörte Desinteresse, mit dem dieser Protest bedacht wurde.

In den sozialen Medien lief es nicht besser. Die Gegenargumente reichten von „dafür wird Essen verschwendet“ bis zu „jetzt redet keiner mehr über andere Proteste“ und „die volkswirtschaftlichen Schäden der Blockaden sind zu hoch“, angesichts von 30 Milliarden Aufbauhilfe im Ahrtal eine interessante Rechnung. Dass 2020 auf dem Höhepunkt der Corona-Proteste eine tatsächlich hochgradig zerstörerische Anschlagserie von Rechtsextremen, die der Koch Attila Hildmann im Kampf gegen „Satanismus“ angestachelt hatte, beinahe unbemerkt vorüber ging, zeigt, wie selektiv die Empörung anspringt.

Viele solcher Widersprüche brachte der Protest an die Oberfläche: „Kunst ist wie Kinder“, sagte ein Museumsdirektor, der befragt wurde. Sie müsse Tabu sein, unbedingt schützenswert – ohne zu merken, dass die echten Kinder aus Fleisch und Blut gerade um ihre sichere Zukunft fürchten.

Niemand rede über ihre Forderungen, schallte es den beiden Frauen von „Just Stop Oil“ entgegen, die Tomatensuppe in Richtung eines Van Gogh warfen, was lustig war, denn ihre Forderung steht im Namen, und der wurde hundertmillionenfach wiederholt. Dennoch zeigten sich auch viele derer, die sich mehr Debatte rund ums Klima wünschen, öffentlich skeptisch, ob dieser Protest sich nicht ausschließlich selbst zum Thema mache.

Am vergangenen Sonntag sah sich Aktivistin Carla Hinrichs bei „Anne Will“ mit ähnlichen Anwürfen konfrontiert und bekam gleichzeitig mehrmals die Gelegenheit, niemand geringerem als dem Bundesjustizminister live zur besten Sendezeit den Klimaschutz-Rechtsbruch seiner Regierung anzukreiden. Ihre Kollegin Aimée van Baalen erklärte bei anderer Gelegenheit, was überall zu bezeugen war: dass eine Verhandlung der Legitimität des Protests gar nicht stattfinden kann, ohne die von ihm als Hebel seiner Legitimation herangezogene drohende Katastrophe ebenso zu diskutieren.

Neben einer gewissen Analysefaulheit der Wirkung stach vor allem der nachhaltige mediale und politische Unwillen heraus, die Proteste fehlerfrei abzubilden. Noch Wochen nach den Aktionen in Museen sprach, nur ein Beispiel von vielen, der Liberale Gerhart Baum zwar vom „dummen Zeug“ des RAF-Vergleichs, aber auch von „Barbarei“ der „Zerstörung von Kunstwerken“, obwohl nach wie vor kein einziges Kunstwerk Schaden genommen hatte. In der „Zeit“ schrieb Florian Eichel stur von „Angriffen auf die Kunst“ und damit auch „auf die Freiheit und Demokratie“, um Klimaschutz an sich am Ende wiederum als „Kunst“ einzustufen, da er nur von Eliten betrieben würde.

Es brauchte Wochen, bis eine Headline des Radiosenders FM4 die Wirklichkeit korrekt formulierte: „Schutzscheibe vor Klimt-Gemälde mit ‚Öl‘ beschmiert“ – auch wenn im Text dann schon wieder davon die Rede war, das Gemälde selbst sei beschmiert worden.

Ein ganzer Diskurs schien einem Prank auf den Leim gegangen, aber nicht nur für einige Schocksekunden, in denen man einen Klimt für immer zerstört sieht, sondern wie Kinder, die noch Wochen nach dem Horrorfilm unterm Bett nachschauen, ob der böse Klimaclown dort haust. Dieser Protest scheint eine Sehnsucht nach Eskalation auszulösen, als würden sich manche fast wünschen, dass wirklich ein Kunstwerk beschädigt wird, damit endlich klare Verhältnis herrschen.

Dass hier nicht die Kunst angegriffen wird, sondern im Gegenteil, wie die Aktivist:innen auch erklärten, ihr Schutz eingefordert wurde, würde man verstehen, wenn man ihnen zuhörte. Dass nur ein ökologisch intaktes System überhaupt erst die Existenzbedingungen – Wohlstand, Frieden, Sicherheit und so weiter – für Kunst und ihre Rezeption zu erzeugen vermag, scheint banal. Markus Lanz versicherte in seiner Sendung: „Ich kenne Plätze in den Dolomiten, da kommt kein Wasser hin, da parken wir die Kunstwerke zur Not.“ Dann sprach er der Aktivistin Rochel die Liebe zur Kunst ab: „Wer so etwas tut, kann die Kunst nicht lieben.“ Das fasst die Haltung des feinsinnigen Bürgertums gut zusammen: Mit Kunst und Essen spielt man nicht, mit eurer Zukunft schon.

Schließlich gab sogar ein Mann, der bisher eher nicht mit Interesse am zivilen Ungehorsam auffiel, gratis Nachhilfe in aktivistischer Taktik: „Was hat das Werfen von Tomatensaft auf ein teures Kunstwerk (…) mit Klimaprotest zu tun? Was hat das Werfen von Brei auf ein schönes Gemälde mit Klimaprotest zu tun?“, fragte ein ratloser Olaf Scholz in einem Interview mit dem RND. Aus seiner Sicht nichts, so der Kanzler weiter. Der Protest sei „nicht richtig zu Ende gedacht“. Die Aktivist:innen sollten sich etwas anderes auszudenken, „das weniger aufregt“, sagte Scholz. Sehr lustig: der Kanzler des geräuschlosen Zauderns berät die Agenten des Aufruhrs.

Näher mit Theorie und Praxis dieser Protestformen auseinandersetzen mochte sich auch nach Wochen der Verhandlung kaum jemand. Zu genau wusste man, dass das alles nichts bringen kann. Und kam in einem gigantischen, medialen, performativen Widerspruch nicht umhin, den wohl formulierenden, wissenschaftlich argumentierenden, höflichen „Chaoten“ mehr und mehr Raum zu überlassen. Mit einem Bruchteil des Mobilisierungsaufwandes hatte man blitzschnell mehr Präsenz als die üblichen Demonstrations-Rituale. Am Ende saßen die Aktivist:innen bei Lanz und Maischberger und Will, wurden befragt und beschaut, geliebt und gehasst – aber in ihrer Strategie doch erstaunlich wenig ernst genommen.

Dabei und damit hatten sie nach dem Handbuch des disruptiven Protests alles, aber auch alles richtig gemacht. Protest ist kein Schönheitswettbewerb und keine Beliebtheitsgala, sondern ein Schlagen nach dem Alarmknopf. Und Halleluja, ist die Bundesrepublik nun alarmiert. Aber was kommt danach? Was kann man für den weiteren Klimadiskurs lernen? Ich glaube: Wir nähern uns einem entscheidenden sozialen Kipppunkt, dank dieser Proteste.

Hier den Teil 2 und 3 des Textes weiterlesen

Der Autor

Friedemann Karig schreibt Essays und Bücher. Sein Sachbuch „Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie“ erschien 2017 bei Blumenbar; 2019 folgte sein Romandebüt „Dschungel“ bei Ullstein, 2021 das Sachbuch „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen“ (mit Samira El Ouassil). Jeden Freitag bespricht Karig mit El Ouassil im Podcast „Piratensender Powerplay“ die Woche.