EU – auf dem Weg zur Militärmacht

Datum/Zeit
Date(s) - 11/05/2022
19:30 - 21:15

Veranstaltungsort
Mehrgenerationenhaus LINDE

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Jürgen Wagner, Politikwissenschaftler und Geschäftsführer der „Informationsstelle Militarisierung (IMI) Tübingen“ referiert zum Thema „EU – auf dem Weg zur Militärmacht. Grundlage des Referates ist ein Grundlagendokument  mit dem Titel „Strategische Kompass für Sicherheit und Verteidigung  – Für eine Europäische Union, die ihre Bürgerinnen und Bürger, Werte und Interessen schützt und zu Weltfrieden und internationaler Sicherheit beiträgt“. Dieser „Strategische Kompass“ wurde am 21.3.2022 von den Staats- und Regierungschefs der EU verabschiedet.

Strategischer Kompass weist den Weg zur Militärmacht EU

Der Krieg in der Ukraine beschleunigt den Prozess hin zu einer Militärunion. Aber was bedeutet das konkret? Eine Analyse

von: Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 28. März 2022

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Die EU-Staats- und Regierungschefs haben ein neues Grundlagendokument verabschiedet – den sogenannten Strategischen Kompass.

Er soll die Richtung für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik der nächsten fünf bis zehn Jahre vorgeben, indem auf Basis einer erstmals vorgenommenen gemeinsamen Bedrohungsanalyse gleich ein ganzes Bündel an Maßnahmen zum Ausbau der militärischen und rüstungsindustriellen Fähigkeiten der Union präsentiert werden.

Die Verhandlungen zum Strategischen Kompass sind zwar älter als der Krieg in der Ukraine, doch der Krieg in der Ukraine beschleunigt den Prozess hin zu einer Militärunion. Denn sowohl die Bedenken in den EU-Mitgliedstaaten als auch die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegen Militarisierungstendenzen und eine schlagkräftige Militärunion EU können in dieser Verunsicherung schnell beiseite gewischt werden.

Bei diesem Kompass geht es darum, wie EU-„Interessen“ strategisch autonom in der Außenpolitik konkret umgesetzt werden können. Bereits in der Global Strategy 2016 wurde festgehalten, dass die EU in der Lage sein muss, wichtige Handelsrouten und Seewege im eigenen Interesse zu sichern – zur Not auch militärisch.

Nach der Ankündigung, dass Großbritannien aus der EU austritt, wurde mit Pesco (Permanent Structured Cooperation), – dem Herzstück für die Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik – eine entscheidende Weiche gestellt.

Damit wurden in dieser Legislaturperiode militärische Instrumente wie der Verteidigungsfonds – ein Fonds zur Entwicklung und Erschaffung neuer großer Rüstungsprojekte, die sogenannte Friedensfazilität –, ein Schattenhaushalt des EU-Rates, der die Lieferung tödlicher Waffen an Freunde und Partner ermöglicht –, oder die Military Mobility zur schnellen Verlegung von Truppen verankert.

Der Strategische Kompass bettet die Zielsetzung, die bereits geschaffenen Instrumente und weiterhin noch „benötigte“ militärische Kapazitäten in eine Gesamtstrategie für die EU ein. Das zugrunde liegende Bekenntnis ist dabei deutlich: Die EU ist gut gerüstet und eine eigenständige Macht in einer Zeit der großen Rivalität unter den Weltmächten.

Der Kompass will einen „Quantensprung“ in der Militarisierung der Europäischen Union einleiten, damit sie buchstäblich für die immer härter werdenden Großmachtkonflikte „besser“ gerüstet ist. Gleichzeitig fallen darin wichtig Aspekte wie Abrüstung, Rüstungskontrolle und Diplomatie nahezu völlig unter den Tisch.

Nicht nur Wirtschaftsmacht, sondern auch Militärmacht

Die Arbeiten am Strategischen Kompass wurden unter der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 begonnen und nun unter französischem Vorsitz zu Ende gebracht. Am Anfang stand, wie zuvor erwähnt, eine Bedrohungsanalyse, die allerdings so geheim gehalten wurde, dass sie nicht einmal von Abgeordneten im Europaparlament oder in der Geheimschutzstelle des Bundestages eingesehenen werden konnte.

Dennoch ist davon auszugehen, dass diese Bedrohungsanalyse, die künftig alle drei Jahre aktualisiert werden soll, in das erste Kapitel des Kompasses („Die Welt, in der wir leben“) einfloss.

Die EU sehe sich „vielfältigen Bedrohungen“ ausgesetzt, die von „Terrorismus, gewaltbereitem Extremismus und organisierter Kriminalität bis hin zu hybriden Konflikten, Waffenproliferation und irregulärer Migration“ reichen würden. Diese Gefährdungen würden „die Sicherheit der EU an unseren südlichen und östlichen Grenzen und darüber hinaus“ betreffen – also nahezu überall.

Genauso vage und schwammig geht es weiter, wenn es heißt, die „jüngsten geopolitischen Veränderungen“ würden es erfordern, dass die EU „dringend mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen“ müsse, und zwar sowohl „in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus“ und das auch „nach Möglichkeit mit Partnern und notfalls allein.“

Dennoch lässt sich deutlich ein dominierendes Thema ausmachen, nämlich das, was die heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits 2019 als die „Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte“ bezeichnete, in der Deutschland und die EU „nicht neutral“ bleiben könnten, schließlich seien sie „Teil dieses Konkurrenzkampfs“.

Schon im allerersten Entwurf vom 9. November 2021 war gegenüber dem letzten zentralen Planungsdokument, der EU-Globalstrategie aus dem Jahr 2016, eine deutliche Akzentverschiebung vorgenommen worden, indem der Konkurrenz unter den Großmächten ein deutlich größerer und bedrohlicherer Stellenwert eingeräumt und festgehalten wurde, dass die EU für ihre Wirtschaft wichtige Handelsrouten und Seewege, nach Lage auch militärisch verteidigen können muss.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde der Kompass außerplanmäßig ein weiteres Mal überarbeitet und ein eigenes Unterkapitel „Die Rückkehr der Machtpolitik in einer umstrittenen multipolaren Welt“ eingefügt. Darin werden vor allem gegenüber Russland noch einmal schärfere Töne angeschlagen und das „aggressive und revisionistische Handeln“ Moskaus als „ernste und unmittelbare Bedrohung für die europäische Sicherheitsordnung und die Sicherheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger“ eingestuft.

Diese Sätze sind der Nährboden, um ausreichend Handlungsdruck aufzubauen, der sich dann in den folgenden Passagen in Formulierungen niederschlägt wie: „Unsere Sicherheit steht auf dem Spiel“, die EU müsse ihre „Anstrengungen zur Umsetzung unseres integrierten Ansatzes für Sicherheitsfragen, Konflikte und Krisen verdoppeln“ und „aufgrund der neuen strategischen Landschaft mit deutlich verstärkter Dringlichkeit und Entschlossenheit handeln“.

Während allerdings die im ersten Kapitel präsentierte Bedrohungsanalyse nach dem russischen Angriff auf die Ukraine recht gründlich überarbeitet wurde, gilt dies nicht für die in den späteren Kapiteln enthaltenen Handlungsempfehlungen.

An sich ist dies aber auch nicht weiter verwunderlich, denn das übergeordnete Ziel, die Europäische Union unter dem Stichwort einer „Strategischen Autonomie“ als eigenständigen militärischen Machtfaktor in Stellung bringen zu wollen, bestand ja auch schon lange bevor sich Moskau zu diesem fatalen Schritt entschlossen hatte.