Kritische Theorie – kritische Pädagogik: Was bedeutet „Mündigkeit“ heute?

Datum/Zeit
Date(s) - 24/05/2023
18:00 - 20:00

Veranstaltungsort
Familienbildungsstätte FBS Kirchheim

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Kritische Theorie – kritische Pädagogik: Was bedeutet „Mündigkeit“ heute?

 Das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt – aus dem die Frankfurter Schule hervorging – feiert 2023 seinen 100. Geburtstag. Die bekanntesten Philosophen der Frankfurter Schule – Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse – und ihre Nachfolger (u.a. Jürgen Habermas) werden als Vertreter der Kritischen Theorie bezeichnet. Vor dem Hintergrund der Protestbewegung der 1960-Jahre und der Kritischen Theorie entstand die Kritische Pädagogik.

Einer ihrer zentralen Begriffe war und ist „Mündigkeit“.

Richtete sich Immanuel Kants Vorstellung von der Aufgabe der Mündigkeit noch vor allem gegen religiöse Bevormundung, so ist Mündigkeit heute auf das Äußerste gefährdet, da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse seither radikal verändert haben.

Heinz Joachim Heydorn, einer der profiliertesten, höchst aktuellen Vertreter der Kritischen Pädagogik und einer eigenständigen, kritischen Bildungstheorie, hielt eine „Neufassung des Bildungsbegriffs“ für unumgänglich. Mündigkeit gerät dabei erneut in den Fokus des Nachdenkens.

Wir wollen unserem gemeinsamen Nachdenken über die Frage, was Mündigkeit heute bedeutet, den Aufsatz von Prof. Dr. Eva Borst „Über die kritische Bildungstheorie Heinz-Joachim Heydorns“ https://www.allgemeine-erziehungswissenschaft.uni-mainz.de/apl-prof-dr-eva-borst/ zugrunde legen (s. Anlage).

Einführen in unser Nachdenken und es mit Impulsen und Fragen steuern wird uns Dr. phil. Henrik Westermann. Er setzt(e) sich sein ganzes Berufsleben als Lehrer, Konrektor, Personalrat und aktiver Gewerkschafter und noch heute im Ruhestand hat er sich mit Grundfragen der Pädagogik auseinander.

Träger: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Kreis Esslingen-Nürtingen

 Anmeldung bis 9. Mai 2023 bei Hans Dörr, Mail: hans_doerr@gmx.de


Heinz-Joachim Heydorn

Heinz-Joachim Heydorn (*1916 in Hamburg – †1974 in Frankfurt a.M.) engagierte sich bereits früh in seinem Leben gegen den Nationalsozialismus und trat 1933 in die Bekennende Kirche (BK) ein. In der BK organisierten sich evangelische Christen als Opposition während des Nationalsozialismus. Zwischen 1934 und 1939 verrichtete er dadurch illegale politische Arbeit. Nachdem sein Vater 1939 schwer erkrankte, unterbrach er sein Studium, kurz darauf begann der 2. Weltkrieg und es folgte seine Einziehung zum Militär. Schließlich gelang ihm 1944 die Desertion, er ging in englische Kriegsgefangenschaft und ein Kriegsgericht verurteilte ihn in Abwesenheit zum Tod. In Kriegsgefangenschaft engagierte er sich für Bildungsarbeit.

Nach Kriegsende trat er in die SPD ein und wirkte an der Wiedergründung des Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mit, dessen Co-Vorsitzende er wurde. 1952 wurde er Mitglied der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken und drei Jahre später deren stellvertretender Bundesvorsitzender. Aufgrund des Unvereinbarkeitsbeschlusses der Mitgliedschaft in SPD und SDS folgte schließlich 1961 sein Ausschluss aus der Partei.

Er engagierte sich anschließend zivilgesellschaftlich mit dem Kampf gegen die Notstandsgesetze (1968 wurden in Deutschland Verfassungszusätze verabschiedet, die der Regierung die Ausrufung des Notstandes erlaubten. Dagegen formierte sich breiter gesellschaftlicher Protest.), gegen den Vietnamkrieg und gegen eine Amnestie für nationalsozialistische Verbrechen.

Heydorn begründete in seinem Wirken und seinen Schriften eine eigenständige, von der Kritischen Theorie inspirierten, Bildungstheorie, die er Kritische Bildungstheorie nannte. Er unterscheidet zwischen Erziehung und Bildung.

Unter dem Begriff der Erziehung versteht er ein Instrument der Gesellschaft zu ihrer eigenen Reproduktion. Damit überhaupt ein Gebilde wie Gesellschaft möglich ist, braucht es Erziehung, da diese in Systeme, Werte und Produktionsweisen einführt. Im weitesten Sinne geht es dabei auch um eine Zucht wie sie im Begriff Erziehung enthalten ist: Menschen sollen den Geboten einer anderen Menschengruppe oder der Gesellschaft ‘unterworfen’ werden.

Als zentral zur Einführung in die Gesellschaft und ihre Systeme erachtet Heydorn dabei Riten wie Einschulung oder Militärdienst. Zugleich verortet er jedoch in der Erziehung und ihren Institutionen auch die Möglichkeiten zur Bewusstseinsentfaltung, also dass Menschen die Chance erhalten, zu erkennen, wie mit ihnen verfahren wird, wie dies begründet wird und welche Spielräume sich ergeben. Die Gesellschaft reproduziert sich also nicht nur über einen reinen Zwang, eine Zucht, sondern auch über das weitervermittelte Verständnis einer (vermeintlich) rational begründeten Freiheit innerhalb struktureller Zwänge.

Diese Selbstbestimmung ist jedoch auch immer als Zusammenhang der ermöglichenden Bedingungen zu sehen.

Je länger die Erziehung dauert, desto schwieriger ist es, die Momente des Zwanges zu rechtfertigen. Erziehung nimmt daher nach Heydorn in der Gesellschaft eine konservierende Funktion wahr und wirkt in den Institutionen Familie und organisierte Bildung wie Schule an der Aufrechterhaltung der Ordnung mit. Emanzipatorische Prozesse sollen durch Erziehung verhindert werden.

Heydorn verortet das Momentum der Selbstschöpfung vielmehr in der Bildung, weil darin die Bewusstwerdung durch Fremd- und Selbstbestimmung liegt. Aus dem fremdbestimmten Dasein heraus, folgt ein Selbstdenken der Menschen darüber, was es ist, dass sie fremdbestimmt. Anders gesagt: Bildung ist ein Bewusstwerden der erfahrenen Erziehung. In der Erziehung liegt also auch ein dialektischer Moment der möglichen Befreiung.