Datum/Zeit
Date(s) - 10/12/2021
13:00 - 17:30
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Das Ziel des Workshops ist es, das Konzept der „Foundational Economy“, oder auch der „Alltagsökonomie“, kennenzulernen und zu diskutieren. Wir vermuten, dass dieses Konzept erheblich dazu beitragen kann, eine neue Sicht auf Wirtschaft und Arbeitswelt zu werfen. Folgen für Wissenschaft und Politik sind wahrscheinlich.
Die Ökonomie des Alltagslebens Leseprobe
Kurze Zusammenfassung und Rezension von „Die Ökonomie des Alltagslebens“
Ökonomie des Alltagslebens ins Zentrum stellen
Quelle: Essenz „Die Ökonomie des Alltagslebens“ – Friedrich-Ebert-Stiftung
„Die (Wieder-)Entdeckung des Fundamentalen
Wirtschaftspolitik hat oft einen engen Blick: früher Industriezweige, dann National Champions, in den letzten Jahren schillernde Start-ups. Die Fundamentalökonomie beschreibt hingegen die wenig beachteten Teile der Wirtschaft, ohne die unser alltägliches Leben nicht funktionieren würde: Schulen, Kinderbetreuung, Pflegeheime sowie die Versorgung mit Wasser, Strom und Medizin.
Die fundamentalökonomische Sphäre lässt sich mit drei Kriterien abgrenzen:
- Ihre Güter und Dienstleistungen werden von allen Bürger*innen täglich benutzt.
- Sie werden unabhängig vom Einkommen benutzt.
- Sie werden meist über Versorgungsnetzwerke oder Filialnetze bereitgestellt.
Fundamentalökonomie: Bereiche
Die Fundamentalökonomie lässt sich weiter in zwei Bereiche aufteilen.
Erstens die materielle Fundamentalökonomie. Sie „besteht aus den Rohren und Kabeln, Versorgungs- und Filialnetzen, die jeden Haushalt mit den unverzichtbaren Dingen des Alltags verbinden – Wasser, Strom, Bankdienstleistungen, Lebensmittel“ (S. 65). Diese Grundstrukturen entscheiden darüber, ob es einer Gesellschaft im Ganzen überhaupt gut gehen kann. Wanken sie beispielsweise, weil Wasser knapp oder die Stromversorgung unterbrochen ist, drohen Krisen. Zugleich sind sie politisch besonders begehrt: Bei Privatisierung winken dauerhafte und hohe Gewinne.
Zweitens die providentielle Fundamentalökonomie (aus dem Engl. to provide with bzw. for, „versorgen mit, sorgen für“). Sie umfasst die meist vom Staat bereitgestellten Leistungen wie medizinische Grundversorgung, Bildung und die sozialen Sicherungssysteme.
Je nach Definition sind in den hoch entwickelten Ländern zwischen einem Drittel und der Hälfte der Arbeitnehmer*innen in der Fundamentalökonomie beschäftigt (Deutschland 41,3 Prozent, Großbritannien 43,8 Prozent, Italien 36,9 Prozent).
Logiken
Die Verfassung der Fundamentalökonomie
Der Erhalt und Ausbau der Fundamentalökonomie sind nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sie sind auch moralisch geboten. Bürger*innen mit Trinkwasser und Medizin, Wohnungen und Parks zu versorgen, ist nicht ein Vorhaben unter vielen. Es ist die Grundlage für ein gelingendes Leben. In den Infrastrukturen schlummert Moral.
Das fundamentalökonomische Projekt orientiert sich am indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen und der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum. Sie verstehen „die wirtschaftlichen Ressourcen nicht als technischen Produktionsinput, sondern als politisch-moralisches Mittel zur Förderung des Wohlergehens und eines gehaltvollen Lebens“ (S. 152).
Viele Mainstream-Ökonom*innen behaupten, Wirtschaft sei frei von Moral. Das Gegenteil stimmt. Beschließt der Staat, fließendes Wasser, Schulen und Krankenhäuser für alle zu stellen, dann sagt er: Das braucht ihr für ein gutes Leben. Eine zutiefst moralische Aussage.
So wie Bürger*innen hat auch ein Unternehmen Rechte und Pflichten. Es schließt einen unausgesprochenen Vertrag mit der Gesellschaft: Der Staat erteilt Privilegien, beispielsweise, indem er das Schienennetz stellt oder Baugenehmigungen erteilt. Dafür sollte das Unternehmen etwas für die Gesellschaft leisten, das über den Verkauf von Waren und Dienstleistungen hinausgeht.
In den letzten Jahrzehnten haben Investoren und Unternehmen aber neue Geschäftsmöglichkeiten ohne neue Pflichten erhalten. Deshalb muss der Vertrag zwischen Gesellschaft und Unternehmen neu belebt werden. Dies gelingt, indem öffentlich eine neue Wirtschaftsverfassung debattiert und beschlossen wird, in der Rechte und Pflichten von Unternehmen festgeschrieben werden.
Wie könnte eine solche Wirtschaftsverfassung aussehen? Die Grenzen zwischen öffentlich und privat müssten neu gezogen werden. Nicht Eigentum, sondern die Funktion des Unternehmens für die Gesellschaft ist dabei entscheidend. Unternehmen, die „grundlegende öffentliche Dienste erbringen“ (S. 174), erhalten einen öffentlichen Status, aber auch einen Auftrag. Beispielsweise sollten diese Unternehmen auf „Offenheit und Ehrlichkeit“ (S. 174) ebenso verpflichtet werden wie darauf, existenzsichernde Löhne in der gesamten Lieferkette sicherzustellen.
Mit privatisierten Versorgungsbetrieben oder großen Supermarktketten sollten gesellschaftliche Betriebslizenzen (social licences to operate) ausgehandelt werden. Diese Lizenzen verbinden das Recht auf eine bestimmte unternehmerische Tätigkeit mit Pflichten, beispielsweise Ausbildungsplätze bereitzustellen, gute Löhne zu zahlen und fragwürdige finanzielle Praktiken einzustampfen. Was genau diese Lizenzen umfassen, sollte je nach Kontext „flexibel und offen“ (S. 179) angepasst werden. In jedem Fall sollten sie aus freien und ergebnisoffenen Verhandlungen hervorgehen.
Die Erneuerung der Fundamente
Die neoliberalen Jahrzehnte haben die Fundamentalökonomie geschwächt. Wie kann sie erneuert werden? Vier große „Verschiebungen“ sind nötig. Sie sollen das „Paradigma des politisch Möglichen“ (S. 202) neu definieren und den Weg ebnen für eine neue politische Praxis.
Erstens: „Fragen wir die Bürger, was sie wollen“ (S. 203). Welche Ansprüche haben Bürger*innen an Wirtschaft und Staat, welche Fundamentalökonomie wünschen sie sich? Diese Fragen sind nur zum Teil beantwortet. Empirische Studien deuten darauf hin, dass Bürger*innen oft anderes wollen, als politische Eliten ihnen bieten. Deshalb sollte es eine Vielzahl von Beteiligungsformaten geben: Konsultationen, Bürgerforen und Fokusgruppen, um zu ermitteln, welche Güter und Dienste unbedingt gebraucht werden. Diese Informationen sollten die Prozesse der repräsentativen Demokratie ergänzen, nicht ersetzen.
Zweitens: Großunternehmen sollten über soziale Betriebslizenzen stärker auf gesellschaftliche Ziele verpflichtet, Kleinunternehmen gestärkt werden. Unternehmen und Gesellschaft sollten neu über Rechte, Pflichten und ihre gemeinsamen Ziele verhandeln. Hierfür sind gesellschaftliche Betriebslizenzen geeignete Instrumente.
Drittens: Das Steuersystem muss so umgebaut werden, dass fundamentale Dienste und Güter finanziert werden können. In vielen Staaten Europas reichen die Einnahmen aus Steuern nicht aus, um wichtige Infrastrukturen zu finanzieren. Zugleich sinken in den OECD-Ländern die öffentlichen Investitionen. In den reichen Gesellschaften Europas sind nicht die Ressourcen knapp, sondern der politische Wille, sie auf soziale Infrastrukturen zu lenken. Steuern auf Vermögen sowie eine Neuauflage einer Bodenwertsteuer können helfen.
Viertens: „Da die Exekutive nicht immer wohlmeinend oder kompetent ist, müssen wir hybride Allianzen mit intermediären Institutionen bilden“ (S. 225). In Zeiten, in denen der Zentralstaat manchmal überfordert wirkt, könnten Institutionen zwischen Staat und Markt dazu beitragen, die Ausrichtung auf Wohlfahrt und Güter für alle vor Ort zu stärken.
Alle vier Verschiebungen können unabhängig voneinander angegangen werden. Wir sollten nicht warten, bis die Bedingungen günstig sind, um alle gemeinsam zu starten. Vielmehr sollte experimentiert werden, wie sich Wirtschaft und Politik vor Ort nachhaltig verändern lassen.
Dabei gibt es weder ein Standardrezept noch eine Gebrauchsanweisung und auch keine abschließenden Indikatoren. Es kann bereits als Erfolg gelten, wenn der Zugang zu wichtigen Leistungen besser wird, wenn mehr und bessere Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn lokal verwurzelte Unternehmen entstehen und wenn gesellschaftliche Betriebslizenzen geschlossen werden. „Es gilt, eine experimentelle Tradition wiederzuentdecken und eine radikale politische Praxis auf eine Art zu erfinden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann“ (S. 244).“