Prof. Dr. Johannes Varwick: „Kriegstüchtigkeit“ als neues Paradigma deutscherVerteidigungspolitik

Auszüge aus dem Aufsatz von Prof. Dr. Johannes Varwick vom 3.2.2024: „Kriegstüchtigkeit“ als neues Paradigma der deutschen Verteidigungspolitik?

Bewahrung des Friedens als realpolitische Aufgabe

Fast alle in der deutschen Politik haben verstanden, dass Sicherheitspolitik in Deutschland in der Vergangenheit allzu stiefmütterlich behandelt wurde und Verantwortung in gewisser Weise neu ausbuchstabiert werden muss. Diese Erkenntnis sollte nicht durch Rabulistik und unnötige Kriegsrhetorik konterkariert werden. Deutschland sollte mithin ein realistisches Verständnis von außenpolitischer Verantwortung entwickeln. Das geht weit über die aktuellen Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten hinaus, hat aber doch Berührungspunkte mit ihnen. Sicherheitspolitik in einer Welt voller Komplexität und Dynamik bedarf eines umfassenden und vernetzten Ansatzes, der die relevanten Instrumente und Akteure in ausgeglichener Balance verknüpft. Militärische Mittel sind und bleiben dabei unverzichtbar, reichen jedoch nicht hin und sollten mit großer Bescheidenheit und nur mit einem klaren politischen Zweck eingesetzt werden. Die Bilanz bisheriger Militäreinsätze lehrt Bescheidenheit und Zurückhaltung. Es ist keine gute Idee, im politischen Diskurs um Krieg und Frieden von einem Extrem ins andere zu verfallen und vermeintliche moralische Prinzipienfestigkeit über jede realpolitische Vernunft zu stellen. Richtig bleibt, dass Sicherheitspolitik heute breiter gedacht werden muss und wir uns nicht allein auf militärische Fragen konzentrieren sollten – ohne mit dem Verweis auf das Engagement in einem Bereich den anderen zu vernachlässigen. Gleichzeitig sollten die politisch Verantwortlichen seit Clausewitz verinnerlicht haben, dass vor der Entscheidung zum Einsatz von Militär als ‚Mittel der Politik‘ die Frage zu beantworten ist, welcher politische Zweck mit welchem militärischen Ziel und welchen Mitteln erreicht werden soll.

Bei dieser Zweck- und Zieldefinition sind Chancen und Risiken des eigenen Handelns nüchtern und realistisch zu bewerten. Fehlt eine solche Abwägung, dann besteht das Risiko ungewollter Nebenwirkungen und – wie die Interventionen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt haben – einer unerwünschten Eskalation oder bestenfalls eines Stillstandes ohne erkennbare Fortschritte. Während bei Clausewitz ‚Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‘ war, wird Krieg nun zur Verteidigung unserer Werte mit anderen Mitteln. Das ist ein verhängnisvoller Irrweg. Zu den entscheidenden Richtungsfragen wird auch gehören, wie sich Deutschland in der Frage positioniert, ob Demokratie und Menschenrechte zentraler Maßstab sicherheitspolitischen Handelns sein sollen oder ob auch mit autoritären Staaten wie China und Russland ein stabiler und womöglich pragmatischer Interessenausgleich möglich ist. Pragmatisch zu sein bedeutet nicht, Gefahren zu ignorieren, über Menschenrechtsverletzungen hinwegzusehen oder kurzfristige Wirtschaftsinteressen absolut zu setzen. Es bedarf aber Kompetenz und Empathie, andere Länder nach Maßgabe ihrer eigenen historischen und gesellschaftspolitischen Entwicklung einzuschätzen und zu verstehen, bis wohin die eigenen Absichten greifen. Wertefundamentalismus (Baerbock) und Alarmismus (Pistorius) vernebeln den Blick für eine realistische Sicherheitspolitik, die den Widersprüchen der Weltpolitik Rechnung trägt.

Leitend sollte immer die Bewahrung des Friedens und der eigenen Wertebasis sein. Aber dort, wo eine wertegeleitete Politik sich als nicht durchsetzbar erweist, muss Realpolitik im Sinne einer realistischen Betrachtung der gegebenen Kräftever- ‚Kriegstüchtigkeit’ als neues Paradigma deutscher Verteidigungspolitik? 143 hältnisse und Handlungsmöglichkeiten gemacht werden. In gewisser Weise droht die deutsche Sicherheitspolitik das Kind mit dem Bade auszuschütten. Deutschland sollte zu einer verantwortungsvollen, ausbalancierten, friedensorientierten und zugleich realistischen Sicherheitspolitik zurückfinden. An deren erster Stelle muss eine Politik des Interessenausgleichs, der diplomatischen Tugenden, der Verlässlichkeit und der Rüstungskontrolle stehen. Wer in diesem Sinne von ‚Kriegstüchtigkeit‘ redet, der überzieht. Die deutsche Sicherheitspolitik sollte weder den ‚Kriegsertüchtigern‘ noch den ‚Wertefundamentalisten‘ überlassen werden. Es ist schlichtweg unklug, den Begriff des Friedens nur FundamentalkritikerInnen und PazifistInnen zu überlassen. Es sollte vielmehr darum gehen, Friedensfähigkeit – nichts weniger ist Auftrag in der Präambel des Grundgesetzes – breit getragen mit Verteidigungsfähigkeit und wirksamer Abschreckung zu verbinden.

Auf der Website von Prof. Dr. Johannes Varwick kann der gesamte Aufsatz nachgelesen werden