Coronavirus: Das Versagen der alternativen Medien
Für viele ist es unvorstellbar, dass die Regierung ausnahmsweise etwas richtig macht. Ein Kommentar
In vergangenen Artikeln habe ich die politisch Verantwortlichen teilweise heftig kritisiert. Es gab eklatante Versäumnisse, und wahrscheinlich ist es das Verdienst der Fachleute in der zweiten Reihe, die Politiker zum Handeln gebracht zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung im Großen und Ganzen richtig sind.
Für die letzten Zweifler noch einmal eine einfache Betrachtung. Italien, Spanien und Frankreich kämpfen bereits mit einer Welle von Notfällen, bei der Menschenleben geopfert werden müssen – obwohl erst ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung infiziert war. Denn aus 50.000 positiv Getesteten, selbst wenn man eine zehnfach höhere Dunkelziffer annimmt, wird nicht mehr als ein Prozent der Einwohner (60 Mio). Lässt man 90, 50 oder auch nur 25 Prozent der Bevölkerung sich infizieren, müsste man sich die katastrophale Situation also um den Faktor 25 verstärkt vorstellen (das zeitverzögerte Einsetzen der Krankheit macht die Situation noch schlimmer). Das kann leider sehr schnell gehen, denn bei einer täglichen Zunahme der Infizierten um 30%, wie sie in allen betroffenen Ländern ohne Gegenmaßnahmen zu beobachten war, dauert dies keine zwei Wochen (1,3 hoch 14 =Faktor 39). Im Übrigen sind die Details dieser Rechnung völlig egal, da sie im Ergebnis das Zeitfenster zum Handeln nur um wenige Tage verlängern.
Verrücktheit – hoffentlich – gestoppt
Ich bin froh, dass es in Deutschland wahrscheinlich gelingt, einen derartigen Zusammenbruch zu verhindern, und dass die Wahnsinnsidee einer „Herdenimmunität“ zugunsten einer vernünftigen Strategie aufgegeben wurde (Abkehr vom deutschen Sonderweg). Vielleicht könnte dies auch einmal Anlass zum Durchschnaufen sein, bevor man die nächsten Forderungen erhebt.
Stattdessen mehren sich die Stimmen, die sich über die angebliche Hysterie beklagen: Corona sei nicht so schlimm, aber die Maßnahmen dagegen schon. Viele Publizisten können offenbar eine einfache Rechnung wie die obige nicht in eigener Denksouveränität nachvollziehen. Stattdessen beruft man sich auf Autoritäten wie ehemalige Lungenärzte, Klinikdirektoren oder emeritierte Professoren der Mikrobiologie und Virologie.
Frage: Wie viele Menschen mit vergleichbaren Titeln und Berufswegen gibt es wohl in Deutschland? Tausend? Zehntausend? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, darunter 2-3 zu finden, die sich gerne interviewen lassen, ohne die rechnerischen Grundlagen der Epidemiologie zu verstehen? Ziemlich groß. Aber diese Überlegung beruht ja auch auf Mathematik, der ungeliebten Wissenschaft der Zahlen.
Der Coronaflüsterer
So lauschen Hunderttausende auf YouTube den eindringlichen Worten von Sucharit Bhakdi samt seinen „fünf Fragen“ an die Bundeskanzlerin, und ich bin froh, wenn sie besseres zu tun hat, als darauf zu antworten. Manche seiner Argumente wären sogar plausibel, ginge es darum, eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen. Aber der Professor lebt im Elfenbeinturm. Man kann nicht im Verlauf einer Pandemie, bei der wenige Tage über viele Menschenleben entscheiden, Wochen dauernde statistische Erhebungen einfordern.
Der Mann versteht nicht, worauf es ankommt. Natürlich sind die italienischen Todeszahlen zu hoch gegriffen. Aber sollen die Ärzte in Bergamo deswegen nebenbei schnell 500 Leichen in Schutzausrüstung obduzieren, um die Todesursachenstatistik zu verfeinern? Mag sein, dass 50 Prozent der Infizierten asymptomatisch sind. Aber was macht das für einen Unterschied? Die Luftverschmutzung in der Lombardei spiele eine Rolle. Mag sein. Und in Wuhan, Madrid, New York, Straßburg, Rosenheim? Und was ist, wenn es nicht so ist?
Bhakdi verlangt, dass Maßnahmen erst ergriffen werden, wenn die Gefährlichkeit des Virus gesichert sei. Was für ein Unsinn. Man muss vorsorgen, solange die Ungefährlichkeit nicht gesichert ist. In die gleiche Kerbe haut Stanford-Koryphäe John Ioannidis, der im Focus Maßnahmen „ohne zuverlässige Datenbasis“ beklagt.
Nassim Taleb, einer der wenigen Denker, die Ereignisse wie die Corona-Krise vorhergesehen haben, spottet nicht zu Unrecht, Ioannidis empfehle „den Abschluss einer Versicherung, sobald man das Ausmaß des Schadens kennt“. Überhaupt wünscht man sich, dass mehr Leute mit einer rationalen Risikostrategie aus dem schwarzen Schwan vertraut wären: Man richtet sich eben auf den worst case ein, anstatt zu phantasieren, „vielleicht geht das Virus im Sommer weg“.
High Noon für Irrationalität
Man fragt sich eigentlich, warum die Feuerwehr noch ausrückt in Deutschland, so ganz ohne Datenbasis. Weiß man denn genau, ob das Gebäude überhaupt brennbar ist? Ob da Menschen drin sind, vielleicht sogar unter 80 Jahren? Ob der Rauch wirklich so giftig ist? Halten nicht die Menschen schon seit Jahrhunderten ein Lagerfeuer ganz gut aus? Dies ist leider die Art von Überlegungen, die im Moment auf den alternativen Nachrichtenportalen kursieren.
Paul Schreyer, Autor von ausgezeichneten Büchern, behauptet aus dem Handgelenk, die höheren Infiziertenzahlen würden durch mehr Tests generiert. Falsch, denn sonst würden in Italien nicht ca. 10% anschlagen und in Südkorea und Russland nur ca. 0,1%. Vor allem ist das Argument aber völlig irrelevant im Hinblick auf die anstehenden Entscheidungen.
Am tiefsten in der faktenfreien Blase verhaftet ist das Magazin Rubikon, in dem man zum Thema Corona wirklich alles findet – vom Geschwafel über einen neuen Faschismus durch Corona bis hin zu menschenverachtenden Phantasien, die Alten könne man ja sterben lassen. Die Nachdenkseiten sind im Vergleich dazu eine Oase.
KenFM, ebenfalls von mir geschätzt, schreibt, Corona könne es nicht mit der Spanischen Grippe von 1918 aufnehmen. Schön, aber soll es das? Die illegalen Kriege des Westens im Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen, Jemen usw., gegen die sich Jebsen in den letzten Jahren verdienstvoll positioniert hatte, konnten es auch nicht mit den Toten des Ersten Weltkriegs aufnehmen, aber was ist das für ein Argument?
Die alternative Blase
Ich erkläre mir das Phänomen so, dass sich diese Medien in einer ähnlichen Echokammer befinden, wie die von ihnen zu recht kritisierten Mainstreammedien, die uns in den letzten Jahren mit dem transatlantischen Narrativ zu weltpolitischen Ereignissen beglückt haben. Um das einzuordnen: Ich hüte mich, den Begriff „Verschwörungstheorie“ unüberlegt zu gebrauchen, glaube weder an einen Einzeltäter in Dallas, noch an die offizielle Version von 9/11, noch an die vielen Märchen, die uns über die Ukraine, MH17, Syrien, die Skripals und einige andere „Terroranschläge“ von den westlichen Regierungen und ihren folgsamen Medien aufgetischt wurden.
In diesen Fällen gab es jedoch regelmäßig geostrategische Interessen und plausible Motive im Hintergrund. Aber die Vorstellung, dass der US-Deep State plötzlich zusammen mit Trump, Putin, Xi Jinping, Modi und den Europäern eine „Corona-Hysterie“ inszeniert, um einen gemeinsamen geheimen Plan umzusetzen, ist doch ein bisschen paranoid.
Gibt es vielleicht noch andere Böse? Ach ja, Bill Gates. Seit Ebola 2014 warnt er davor, dass die Welt – was ziemlich idiotisch ist – einer Pandemie unvorbereitet gegenübersteht. Wahrscheinlich redet er jede Woche davon, zuletzt im Oktober 2019, deswegen muss er ja an dieser Pandemie schuld sein, klar. Die Verantwortlichkeit für den nächsten Asteroiden auf Kollisionskurs und die nächste Sonneneruption wäre damit auch geklärt. Nebenbei: Die Frage nach dem Ursprung des Virus, der es sich lohnen würde, bei Gelegenheit nachzugehen, wird kaum gestellt.
Noch etwas treibt mich um: Warum haben die internationalen Alternativmedien wie The Intercept, Moon of alamaba.org, Consortiumnews noch nichts von der Erkenntnis ihrer deutschen Investigativkollegen mitbekommen, Corona sei nur ein Hype?
Ich bin erst mal froh, dass die zynische Idee, die Bevölkerung von einer Krankheit mit noch unerforschten Folgen befallen zu lassen, anscheinend ad acta gelegt wurde – was angesichts des Geisteszustands eines Trump, Johnson oder Bolsonaro keineswegs selbstverständlich war. Wäre es nicht einen Hauch von Anerkennung wert, dass die Auswüchse des Neoliberalismus, die auf der ganzen Welt Leid und Tod verursachen, hier nicht zur perversen Spitze getrieben wurden, indem man weitere Millionen Menschen opfert, um den Planeten weiter unbehelligt zu strapazieren?
Lieber nachdenken für später als sofort schreien
Nicht alles, was angeordnet wurde, ist perfekt. Thomas Moser bemerkt zum Beispiel, warum „Hygienedemos“ mit Schutzmasken und Mindestabstand nicht erlaubt sein sollten, und er hat Recht. Ich würde es wahrscheinlich begrüßen, wenn ein Oberverwaltungsgericht in 3-4 Wochen zu strenge Regeln (sollte es sie dann noch geben) kippt, deren Einhaltung nicht plausibel der Infektionsvermeidung dient. Aber würde ich heute demonstrieren?
Ich finde, man könnte den Verantwortlichen, die ja nicht wenig zu tun haben, auch etwas Zeit lassen, sinnvoll nachzujustieren. Sicher muss die Mobilitätseinschränkung früher oder später einem intelligenterem smart distancing weichen. Aber die absolute Priorität liegt im Moment ohnehin, alle zum Tragen von Schutzmasken zu bewegen. Genauso wichtig ist die Isolierung der Kranken.
Handydaten werden mit Sicherheit ein heiß diskutiertes Thema. Aber ganz ehrlich: Glaubt irgendjemand 7 Jahre nach Snowden und nach Glenn Greenwalds No Place to Hide, dass er nicht getrackt und totalüberwacht ist, wenn es darauf ankommt? Maßnahmen mit klarem Ablaufdatum kann man auch hier im Interesse der Sache in Kauf nehmen. Natürlich gibt es Figuren, die die Situation ausnutzen wollen, wie Orban mit seinem Ermächtigungsgesetz oder die unsäglich dummen Forderungen nach mehr Internetzensur von Seiten der EU. Der Kampf dagegen muss aber ohnehin geführt werden und hängt wenig davon ab, wie weit ich im Park joggen kann. Schließlich, dass mich nicht jemand missversteht: Ich setze mich vorbehaltlos ein für die Meinungsfreiheit der Publikationen, die ich oben kritisiert habe.
Es ist nur schade, wenn sie sich in der jetzigen Ausnahmesituation durch ihr Weltbild, alles Böse komme von oben, weiter disqualifizieren. Denn wenn man eines Tages die Lehren aus Corona zieht – etwa die elementare Daseinsvorsorge dem System der kurzfristigen Profite zu entziehen, werden Stimmen gebraucht werden, die der neoliberalen Ideologie Paroli bieten. Dann könnte diesen Medien der Unsinn, den sie heute erzählen, auf die Füße fallen.
Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch „Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur – Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten“ erschien 2019 im Westend-Verlag.