Corona-Krise: Was lernen wir daraus?

Quelle: Urania Berlin

Autor: Dr. Ellis Huber

Am Ende seines Aufsatzes mit dem Titel „Das Virus, die Menschen und das Leben“ vom 25.3.2020 schreibt Dr. Ellis Huber zur Frage, was wir aus der Corona-Krise lernen könnten?

Die Coronakrise zeigt die hohe Anfälligkeit global vernetzter Systeme und unsere Abhängigkeit von anderen Menschen. Jetzt wird sich zeigen, ob unsere offene Gesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Gemeinwohl und Individualismus hinbekommt.

Es geht um ein soziales Bindegewebe, das gesundet und gesundheitsförderlich ausgestaltet ist. Individuelle Gesundheitskompetenz, gesunde Sozialentwicklung und ein neues menschliches Miteinander, also ein heilsames Milieu und achtsame Menschen in solidarischen Gemeinschaften sind die Stichworte für ein Gleichgewicht zwischen Viren, Menschen und ihrem Gemeinwesen. Und es braucht auch ein gesundes Gleichgewicht zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat. Leben und Wirtschaften im Einklang mit der Natur kommen hinzu.

Nicht Wachstum, Nachhaltigkeit ist umzusetzen und Werte, nicht das Geld sind der Maßstab. Den dafür notwendigen Wertehorizont und die dafür vorhandene Orientierung beschreibt Albert Einstein vortrefflich: „So sehe ich für den Menschen die einzige Chance darin, dass er zwei Einsichten endlich beherzigt: dass sein Schicksal mit dem der Mitmenschen in allen Teilen der Erde unlösbar verbunden ist und dass er zur Natur und diese nicht ihm gehört.“

Eine aktualisierte Langfassung des Textes findet sich hier!

Dr. Ellis Huber (geb. 31.3.1949), seit 2007 Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Präventologen e. V. Von 1987 bis 1999 war Huber Präsident der Ärztekammer Berlin,  von 1981 bis 1986 Gesundheitsstadtrat in Berlin-Wilmersdorf und -Kreuzberg. Darüber hinaus war Huber zehn Jahre (1993–2003) Vorstandsmitglied des IPPNW –  der Vereinigung „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.“

Mobilitätswende: regiomove-App erleichtert ÖPNV-Nutzung und alternative Mobilität

Quelle: GLS-Bank – Das Blog

INIT: undercover mobil

Ein Karlsruher Unternehmen krempelt den öffentlichen Verkehr um. Es sorgt mit Soft- und Hardware für weniger Diesel und mehr Effizienz.

Das wird wieder heiß in Karlsruhe. Über 40 Grad sind vorhergesagt. Also heute besser in den Schwarzwald fahren, ins kühle Freibad in Waldbronn. Betriebswirtin Lena hat ihre Badesachen schon gepackt und sich mit Freunden verabredet. Auf ihrem Smartphone öffnet sie ihre regiomove-App und gibt ihr Badeziel ein. Ihr Standort in der Karlsruher Waldstraße wird mittels GPS schon angezeigt. Vorschlag der App: fünf luftige Minuten per E-Roller zur Haltestelle Kronenplatz; von dort per KVV-Tram zum Karlsruher Hauptbahnhof; dort umsteigen in die S11 nach Busenbach; die letzten Kilometer fährt der E-Bus der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft bis direkt vors Freibad. 54 Minuten, vier Fahrzeugtypen, macht 6,40 Euro.

Da Lena ihre GLS MasterCard in der App schon hinterlegt hat, muss sie den Ticketkauf nur noch per Klick bestätigen. Über die App erhalten die beteiligten Verkehrs-betriebe ihren Anteil. Dass der E-Bus in Busenbach genügend Strom hat, wird ebenfalls per Software gesteuert. Und wenn es unterwegs zu einer Verzögerung kommt, schlägt die regiomove-App eine Alternative vor. Zukunftsmusik? Überhaupt nicht.

Wenn Lena und viele andere Verkehrsteilnehmer*innen weltweit unterwegs sind, bewegen sich gleichzeitig unzählige Bits und Bytes in Soft- und Hardwareprodukten von INIT SE hin und her. Sie bringen die Reisenden bequem an ihr Ziel. Von Ticket- über Bezahlsysteme, Flotten- und Lademanagement, Infosysteme für Fahrer*innen und Fahrgäste bis hin zu verschiedenen Bezahlverfahren kann INIT alle notwendigen Elemente zu einer passenden Mobilitätslösung zusammenbauen.

„Digital, barrierefrei, alle Verkehrsmittel umfassend, umweltfreundlich, bedarfsorientiert, für Stadt und Land“, so beschreibt Jennifer Bodenseh (33 Jahre), Finanzvorstand der INIT, die Mobilität der Zukunft. Daran arbeitet das Unter-nehmen, das als Universitäts-Spin-off gegründet wurde, seit 1983. Heute beschäftigt es mehr als 850 Mitarbeiter*innen weltweit.

„Besonders erfolgreich ist gerade der Bereich Smart Ticketing. Damit eröffnen wir den Fahrgästen unserer Kunden die Möglichkeit, sorglos in Bus und Bahn einzusteigen und immer zum bestmöglichen Preis zu fahren“, erläutert Bodenseh. „Eine Lösung, die ankommt — vor allem in den USA, aber auch in Teilen Europas und in Neuseeland. Etwas zurück-haltender ist hier noch der deutsche Markt. Dafür konnten wir hier im letzten Jahr den Marktdurchbruch schaffen mit unseren Lösungen zur integrierten Steuerung von Elektrobussen.“

Rund 16 Millionen Euro Gewinn vor Zinsen und Steuern hat das Unternehmen 2019 gemacht. Gegenüber dem Vorjahr mehr als das Doppelte. Das kommt nicht zuletzt in Form einer positiven Kursentwicklung Zeichner*innen des GLS Bank Aktienfonds zugute. Der GLS Fonds ist bereits seit 2006 in INIT Aktien investiert. „Uns hat das Geschäftsfeld überzeugt“, erklärt Thomas Graf, Teamleiter Research bei der GLS Bank. „Mobilität ist zentral für die gesellschaftliche Entwicklung. Wir müssen zur Arbeit kommen, zur Schule, zu Freunden und zur Familie.“ Gleichzeitig belastet Mobilität Umwelt und Gesundheit. „Positiv sind deshalb umwelt- und ressourcenschonende Mobilitätssysteme.“ Genau die schafft INIT und erfüllt damit ein Positivkriterium der GLS Anlagegrundsätze. Die Arbeit von INIT unterstützt die GLS Bank, indem sie Aktien kauft und damit den Aktienkurs des Unternehmens stützt.

Lena bekommt von all dem, was im Hintergrund ihrer regiomove-App läuft, nichts mit. Sie kommt bequem und öffentlich ans Ziel. Und das ist gut so.

Herbert Marcuse: Von der Jugend lernen

1964 schrieb der Philosoph Herbert Marcuse in seinem berühmten Buch „Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“: „Und doch ist diese Gesellschaft als Ganzes irrational. Ihre Produktivität zerstört die freie Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen, ihr Friede wird durch die beständige Kriegsdrohung aufrecht erhalten, ihr Wachstum hängt ab von der Unterdrückung der realen Möglichkeiten, den Kampf ums Dasein zu befrieden – individuell, national und international…“. Wie wahr!

In der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ wurde Herbert Marcus anlässlich seines 80. Geburtstags im Jahr 1978 von Wiltrud Mannfeld interviewt.

Das Gespräch zeigt, dass uns Herbert Marcuse – neben Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Erich Fromm – einer der prominentesten Vertreter der „Kritischen Theorie“ – auch als „Frankfurter Schule“ (nach dem Sitz des „Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ in Frankfurt benannt – auch heute noch etwas zu sagen hat:

Herbert Marcuse: Von der Jugend lernen

Passend zu Interview hat Fritz J. Raddatz in der ZEIT ( Ausgabe  30/1978) eine Würdigung verfasst:

Herbert Marcuse, Philosoph der Revolte, wird 80

Von Fritz J. Raddatz

„Was diese Arbeit etwa zu einer Aufrollung und Klärung der Probleme beiträgt, verdankt sie der philosophischen Arbeit Martin Heideggers“ – nicht allzu viele, die Marcuses spätere Bücher zu Revoluzzer-Bibeln herabstimmten, würden ihm diesen Satz zuschreiben; er steht am Ende der Einleitung seines Buches über Hegels Ontologie. Das war im Jahre 1932. Im selben Jahr kommentierte er die neu entdeckten Frühschriften des Karl Marx.

Und im selben Jahr verließ der jüdische Großbürgerssohn – der bei Husserl und Heidegger über den deutschen Künstlerroman promoviert hatte – Deutschland, wurde Mitarbeiter des von ihm mitgegründeten Instituts für Sozialforschung in New York.

Bis er in Deutschland wieder wahrgenommen wurde, bis er angesichts der Wellen des Pazifischen Ozeans in San Diego, Kalifornien – wo er seit 1965 einen Lehrstuhl hat, weil es in den USA keinen Radikalenerlaß gibt –, jenen denkwürdigen Satz sprach: „Und da sagt man, es gibt keine Ideen“: bis dahin verging ein langes, fruchtbares Leben voller Widerspruch; im doppelten Sinne des Widersprechens und des Unfertigen.

Fertig war Herbert Marcuse nie. Er war – und ist – ein Denker des Aufbruchs, des Voran. Wenn ihm heute für ein Werk und ein Leben mit moralischer Konsequenz zu danken ist, dann nicht zuletzt deswegen.

Das wird das Faszinosum gewesen sein, das ihn zum Leitbild einer Generation machte. Ein schöner Rigorismus, der die Kategorie der Obszönität ins Gesellschaftliche verlängerte: „Diese Gesellschaft ist insofern obszön, als sie einen erstickenden Überfluß an Waren produziert und schamlos zur Schau stellt, während sie draußen ihre Opfer der Lebenschancen beraubt; obszön, weil sie sich und ihre Mülleimer vollstopft, während sie die kärglichen Nahrungsmittel in den Gebieten ihrer Aggression vergiftet und niederbrennt.“

Seien wir ehrlich: keiner von uns, der nicht nur dahindämmern mochte im Sattschatten der Abzahlzufriedenheit, und ein jeder von uns, der gleichzeitig der Vodka-Cola-Polka des etablierten Sozialismus misstraute, der diesem Mann nicht etwas zu verdanken hätte. Und sei es im Widerspruch.

Kein Zufall, daß Jürgen Habermas zu Marcuses siebzigstem Geburtstag einen Band solcher Widersprüche herausgab; hinweisend darauf, dass „Weigerung“ allenfalls Einstellung, nicht Einsicht sei; fragend, ob der Begriff des „Naturrechts“ auf Widerstand und Gewalt nicht neuer Erläuterung bedürfe. Denn die da Gewalt üben und Sittlichkeit außer acht lassen, „tragen das Bild Rosa Luxemburgs zu Unrecht über ihren Häuptern“ …“

Das Ende des amerikanischen Traums – Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – nur eine Illusion

Quelle: IPG – Internationale Politik und Gesellschaft

Von Keeanga-Yamahtta Taylor | 20.05.2020

Das Ende des amerikanischen Traums – Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – nur eine Illusion.

Für einen Großteil der Bevölkerung funktioniert der „American Way of Life“ nicht mehr.

Der Trump-Unterstützer Chris Christie, Ex- Gouverneur von New Jersey, forderte die Amerikanerinnen und Amerikaner am 5. Mai eindringlich auf, wieder zur Arbeit zu gehen und dafür auch Krankheit und tödliche Risiken auf sich zu nehmen. „Natürlich will jeder möglichst viele Menschenleben retten“, erklärte er, „aber einen Teil der Leute müssen wir wieder zur Arbeit gehen lassen.“ Andernfalls werde man den „American Way of Life“ der betreffenden Familien zerstören. Dieser ist jedoch derzeit dabei, sich in ein Schlachtfeld zu verwandeln.

Auf der einen Seite steht die arbeitende Bevölkerung. Weder die Amazon-Lagerarbeiter noch die streikenden Müllmänner in New Orleans sind bereit, jedes Risiko auf sich zu nehmen, um die Gewinne ihrer Arbeitgeber zu sichern. Sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung zu wehren sind Millionen von Arbeitnehmern in den USA gewohnt, und wenn die etablierte Politik ihnen keine Gerechtigkeit oder Entlastung widerfahren lässt, greifen sie mitunter auch zu konfrontativeren Mobilisierungsmöglichkeiten, um ihre Rechte durchzusetzen.

Auf der anderen Seite steht die Republikanische Partei mit der Trump-Administration an der Spitze und fordert die Bundesstaaten in immer kürzeren Abständen auf, die Wirtschaft „wieder aufzumachen“ und die Menschen zurück an die Arbeit zu schicken. Trump räumt zwar ein, dies werde den einen oder anderen „hart treffen“, aber insistiert dennoch: „Wir müssen es schaffen, unser Land zu öffnen.“

Gesundheitsexperten sind da ganz anderer Meinung. Sie fordern eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Tests und eine konsequentere Kontaktverfolgung und Isolation wie in Ländern, die das Coronavirus erfolgreich in Schach halten. Ohne solche Maßnahmen, so sagen Experten voraus, werde die Zahl der Todesfälle steil ansteigen. Nach einem vorsichtigen Prognosemodell wurde im April die entsetzliche Zahl von 60 000 Toten bis August vorausgesagt; inzwischen rechnet man nach demselben Modell mit 147 000 Todesfällen bis August. Kaum gehen in Städten wie New York und Detroit die Infektionszahlen zurück, drohen dort, wo die Beschränkungen gelockert werden, neue Ausbruchswellen.

Dass Dutzende Millionen Menschen noch länger zu Hause bleiben sollen, kann man allerdings nur erwarten, wenn sie nicht um Einkommen, Lebensmittel, sicheren Wohnraum und eine verlässliche Gesundheitsversorgung bangen müssen. Wenn die Menschen nicht zur Arbeit gehen können, ist es schlicht und einfach Aufgabe der US-Bundesregierung, ihnen all das zur Verfügung zu stellen.

Für die Republikaner wäre ein „American Way of Life“ mit umfassenden staatlichen Sozialleistungen noch schlimmer als die Pandemie.

Für die Republikaner wäre ein „American Way of Life“ mit umfassenden staatlichen Sozialleistungen noch schlimmer als die Pandemie. In ihrer Vision der USA ist krasser Individualismus die zentrale Tugend; jeder sorgt für sich selbst, und harte Arbeit wird mit Erfolg belohnt. Das heißt im Umkehrschluss: Wer nicht erfolgreich ist, hat nicht hart genug gearbeitet.

Hinter dieser Vision verbirgt sich die irrige Vorstellung, in den USA gebe es keine Klassenhierarchien. In den Augen der Republikaner und der meisten Mainstream-Demokraten ist Amerika ein sozial durchlässiges Land, in dem der Erfolg jedes Einzelnen davon abhängt, wie stark er sich ins Zeug legt. Dieses zugkräftige Narrativ war für Millionen von Menschen der Grund, in die USA auszuwandern. Doch mit der Lebenswirklichkeit vieler Millionen Menschen im Land hat dieses Bild vom „American Way of Life“ nichts gemein.

In der Regel werden die Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft durch Patriotismus, eine erdrückende Überheblichkeit und den triumphalistischen Anspruch, etwas Besonderes zu sein, kaschiert. Doch die Pandemie rückt die Probleme des Landes ins Rampenlicht und hat nur allzu deutlich gezeigt, wie die überproportional wohlhabende und weiße politische Klasse der USA wochenlang herumeierte, um schließlich ein paar enttäuschende „Rettungspakete“ zu schnüren, die im besten Fall notdürftig den Status quo sichern.

2018 betrug das Medianvermögen eines US-Senators 3,2 Millionen Dollar; ein Mitglied des Repräsentantenhauses besaß durchschnittlich 900 000 Dollar. Die gewählten Volksvertreter stimmten für einmalige Nothilfe-Schecks über 1 200 Dollar, als ließe sich damit auch nur annähernd der Lebensunterhalt von Arbeitnehmern sichern, die im Schnitt 61 973 Dollar verdienen, mittlerweile seit fast zwei Monaten zu Hause bleiben sollen und nicht zur Arbeit gehen können. So kam es, dass inzwischen von zwei Pandemien die Rede ist.

Die Krise beleuchtet schlaglichtartig den krassen Klassenunterschied, der die US-Gesellschaft spaltet, die zudem mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit durchsetzt ist. Afroamerikaner sind durch die Krankheit überproportional stark gefährdet, und es kursieren erschreckend viele Videoaufnahmen, die zeigen, wie brutal die Polizei gegen schwarze Menschen vorgeht, die keine Atemschutzmaske tragen oder sich nicht an die Abstandsregeln halten, während weiße Mittelklasse-Amerikaner bei vergleichbaren Verstößen unbehelligt bleiben. In New York sind 92 Prozent aller Menschen, die wegen Verletzung der Abstandsregeln verhaftet werden, und 82 Prozent derjenigen, die deswegen ein Bußgeld zahlen müssen, Schwarze oder Latinos.

In ihrem Selbstbild ist die amerikanische Gesellschaft frei von starren Klassengegensätzen, doch in Wahrheit gibt es ein erdrückendes Maß an Leid, Not und Hunger.

In ihrem Selbstbild ist die amerikanische Gesellschaft frei von starren Klassengegensätzen, doch in Wahrheit gibt es ein erdrückendes Maß an Leid, Not und Hunger. Tafeln und Essensausgabestellen im ganzen Land berichten von außerordentlicher Nachfrage und rücken das Bild eines Landes zurecht, in dem angeblich allgemeiner Überfluss herrscht. An der Küste von New Jersey hat eine Tafel einen SMS-Service eingerichtet, damit die Bedürftigen ihr Essen von anderen unbemerkt abholen können.

Andernorts lassen sich die Krisenzeichen, die an die Große Depression erinnern, nicht mehr verbergen. Im kalifornischen Anaheim, wo das Disneyland zu Hause ist, bildete sich vor einer Ausgabestelle, an der kostenlose Lebensmittel verteilt wurden, in zwei Richtungen eine 800 Meter lange Autoschlange. In San Antonio warteten 10 000 Pkw stundenlang vor einer Tafel. Trotzdem sperren sich die Republikaner dagegen, die Vergabe von Lebensmittelgutscheinen auszuweiten. Unterdessen greift der Hunger immer mehr um sich. Fast jedes fünfte Kind unter 12 Jahren hat nicht genug zu essen.

Dieser „Way of Life“ könnte auch schon bald auf Massenobdachlosigkeit hinauslaufen. Nach den ersten fünf Apriltagen hatten in den USA 31 Prozent aller Mieter ihre Miete nicht gezahlt. Im Mai zahlten zwar wieder mehr, doch wenn Millionen Menschen ihren Job verlieren, ist fraglich, wie viele dies auch weiterhin tun werden. 43 Millionen US-Haushalte wohnen zur Miete, aber staatliche Hilfen für Menschen, die ihre Miete nicht mehr aufbringen können, gibt es nicht. Da die Räumungsfrist oft nur wenige Wochen beträgt, ist es für Dutzende Millionen Amerikaner vom sicheren Wohnraum zur Obdachlosigkeit nur ein kleiner Schritt.

Viele Mandatsträger in der Republikanischen Partei sind gut abgesichert, weil sie Zugang zu Covid-19-Tests und qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung haben und über ein stattliches Vermögenspolster verfügen. Gleichzeitig verlangen sie von anderen, dass sie das „Risiko“ der Rückkehr an den Arbeitsplatz eingehen und mit diesem notwendigen patriotischen Akt die Wirtschaft wiederbeleben.

Während die amerikanische Wirtschaft und der „Finanzsektor“ mit Billionen Dollar aus staatlichen Hilfspaketen bedacht wurden, bekamen die Bürger nur magere Direktzahlungen für Lebensmittel, Miete oder medizinische Hilfe. Das Sicherheitsnetz ist so dünn und löchrig, dass dem Durchschnittsamerikaner nichts anderes übrig bleibt, als wieder zur Arbeit zu gehen.

Das Sicherheitsnetz ist so dünn und löchrig, dass dem Durchschnittsamerikaner nichts anderes übrig bleibt, als wieder zur Arbeit zu gehen.

Zumindest für einen Teil der Mandatsträger gehört es einfach zum „American Way of Life“, dass die Arbeitnehmer stets arm genug bleiben, damit die „unverzichtbaren“ Arbeitskräfte jeden Tag zur Arbeit erscheinen. Statt für angemessene Löhne, Gefahrenzulagen, umfassende Schutzausrüstung und die einfachsten Arbeitsschutzmaßnahmen zu sorgen, nutzen die gewählten Volksvertreter die Drohkulisse von Hunger und Wohnungsverlust, um die Arbeiterschaft bei der Stange zu halten.

In der Fleischverpackungsindustrie zum Beispiel gibt es keinerlei Entscheidungsspielräume, weil die dortigen Arbeitsplätze unbegreiflicherweise als lebenswichtig eingestuft werden, als wäre ohne Fleischkonsum kein Leben möglich. Die Arbeitskräfte in dieser Branche – vor allem Einwanderer und Schwarze – werden kaum besser behandelt als die Schlachtkörper, die sie verarbeiten, und sind absolut austauschbar. Tausende werden positiv getestet, aber die Betriebe laufen weiter und gewährleisten nach Aussagen von Beschäftigten nur das absolute Minimum an Schutzmaßnahmen. Die unhaltbaren Zustände in den Fleischverpackungsfabriken kann man daran ablesen, dass bei 145 Fleischbeschauern Covid-19 diagnostiziert wurde; drei von ihnen starben.

Ein weiteres krasses Beispiel dafür, wie Arbeitnehmer zur Rückkehr in ein unsicheres Arbeitsumfeld gezwungen werden, lieferten neulich Lindsey Graham und Tim Scott. Die beiden Senatoren aus South Carolina stellten sich lautstark gegen die temporäre Aufstockung des Arbeitslosengeldes um 600 Dollar. Scott nannte die Erhöhung einen „Fehlanreiz“, der die Menschen vom Arbeiten abhalte, und monierte ebenso wie Graham, manche Beschäftigte würden dadurch mehr bekommen als ihren normalen Lohn. Allerdings ist das ja wohl nicht den Beschäftigten anzulasten, sondern sagt eher Einiges über deren Arbeitsverträge und Unternehmen aus.

Es ist nicht das erste Mal, dass Südstaatenpolitiker sich über Staatshilfen beschweren, weil sie dem perversen „Angewiesensein“ der Armen und Arbeiter auf Niedriglohnjobs den Boden entziehen könnten. Während der Großen Depression machten führende Politiker in den Südstaaten gegen neue soziale Sicherungssysteme mobil, weil sie die Befürchtung hatten, sie würden „unsere gewohnte Zivilisation“ aushöhlen, wie eine Zeitung in Charleston, South Carolina, 1934 berichtete.

Besonders unverblümt formulierte es in den frühen 1960er-Jahren ein Amtsleiter in Alabama: Er forderte mit Nachdruck, Sozialleistungen für Afroamerikaner müssten niedriger sein, weil „Neger schlicht und einfach nicht arbeitswillig“ seien. Die Logik dahinter: Wenn Schwarze fünf Cent bekommen, freuen Weiße sich umso mehr, dass sie zehn Cent bekommen. Dabei waren zu dieser Zeit anderswo ohnehin schon deutlich höhere Löhne üblich. Bis heute ist das Lohnniveau im Süden durchweg niedriger als in den übrigen USA.

In der Fleischverpackungsindustrie gibt es keinerlei Entscheidungsspielräume, weil die dortigen Arbeitsplätze unbegreiflicherweise als lebenswichtig eingestuft werden, als wäre ohne Fleischkonsum kein Leben möglich.

Fortschritt auf Amerikanisch bedeutet, dass inzwischen ein afroamerikanischer Senator wie Tim Scott aus South Carolina solche Standpunkte vertritt. Nicht geändert hat sich allerdings in all den Jahren, dass das Klagen über Sozialleistungen ein wesentliches Instrument zur Disziplinierung der Arbeitnehmer ist. Für Disziplin sorgt in den USA immer auch eine niedrige und uneinheitliche Arbeitslosenunterstützung, kombiniert mit krasser Benachteiligung. Beides führt dazu, dass die amerikanische Erwerbsbevölkerung bei niedrigem Sozialleistungsniveau im Verhältnis zu vergleichbaren Ländern extrem produktiv ist.

Um genau dieses Kernproblem geht es bei dem Konflikt, ob das Land wieder geöffnet werden soll oder die Menschen weiterhin zu Hause bleiben dürfen, um das Virus zurückzudrängen. Voraussetzung für den Erfolg von Social Distancing und Schließungen wäre gewesen, dass man allen Arbeitnehmern die nötigen Mittel zur Verfügung stellt, damit sie sorgenfrei zu Hause abwarten können, bis die Pandemie vorbei ist. Stattdessen wurden sie vor die Wahl gestellt, ob sie lieber hungern und obdachlos sein, sich den Tod holen oder sich am Arbeitsplatz anstecken wollen.

Dies machte auf schmerzliche Weise die Gouverneurin von Iowa, Kim Reynolds, deutlich, als sie bekannt gab, dass Iowa zum Normalbetrieb zurückkehrt und beurlaubte Beschäftigte im öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft, die aus Angst vor Ansteckung der Arbeit fernbleiben, ihre bisherige Arbeitslosenunterstützung verlieren. Sie stufte die Entscheidung dieser Beschäftigten als „selbstgewählte Kündigung“ ein.

Das Arbeits- und Familienministerium im Bundesstaat Ohio hat die Arbeitgeber sogar aufgefordert, Beschäftigte zu melden, die sich wegen der Pandemie weigern, zur Arbeit zu gehen. Der Hintergrund ist, dass die staatlichen Mittel zur Neige gehen, weil immer mehr Menschen Hilfsleistungen beantragen. Verschärfend kommt hinzu, dass die Trump-Administration sich sträubt, den Regierungen der Bundesstaaten finanziell aus der Klemme zu helfen. Dass die US-Regierung auf der einen Seite die Unternehmen mit Billionen bedenkt und sich auf der anderen Seite dagegen sperrt, den Bundesstaaten mit Geld auszuhelfen, gehört offenbar ebenfalls zum „American Way of Life“, der an die Rettung der Finanzbranche im Jahr 2008 erinnert.

Der Status quo ist unhaltbar.

Nicht alles kann man der Trump-Administration anlasten, wenngleich nicht von der Hand zu weisen ist, dass sie die Lebensbedingungen für Millionen von Menschen verschlechtert hat. Es rächt sich zurzeit eine Politik, die seit Jahrzehnten leugnet, dass das Land ein soziales Sicherungsnetz braucht, und die ganze Zeit auf Wachstum spekulierte, damit die Arbeitnehmer in den USA sich gerade so weit über Wasser halten konnten, dass sie sich nicht ernsthaft beschweren oder auf die Barrikaden gehen.

Die Attacken gegen Sozialleistungen, Lebensmittelgutscheine, den sozialen Wohnungsbau und die Programme, mit denen man die schlimmsten Folgen der Katastrophe abfedern könnte, gehen parteiübergreifend weiter. Die lautstarken Lobeshymnen auf den Demokraten Andrew Cuomo, Gouverneur des Bundesstaats New York, als positive Gegenfigur zu Präsident Trump, übertönen die Proteste gegen die 400-Millionen-Dollar-Budgetkürzung, die derselbe Cuomo den New Yorker Krankenhäusern zumutete, während das Virus in der Stadt wütete.

In den kommenden Monaten werden noch etliche weitere Demokraten die Axt anlegen, weil ihnen finanziell in nie dagewesenem Maß das Wasser bis zum Hals steht. Mit weiterem Fortschreiten der Krise – die Arbeitslosenzahl hat die astronomische Dimension von 33 Millionen Menschen erreicht, während den Bundesstaaten das Geld ausgeht und sie darüber nachdenken, Medicaid (das staatliche Gesundheitsprogramm für Mittellose) und andere ohnehin dürftige Sozialleistungen zusammenzustreichen – könnte die politische Klasse angesichts des Riesenbedarfs an staatlicher Unterstützung ihre Scheu vor solchen Eingriffen zunehmend verlieren.

Als Amerika sich in einem langen und holprigen Prozess von der Großen Rezession erholte, führte die ungleiche Vermögensverteilung dazu, dass die Arbeitnehmer aufbegehrten und sich organisierten. Die gegenwärtige Krise ist für weite Teile der Arbeiterschaft schon jetzt tiefer und viel desaströser als alles, was wir seit den 1930er-Jahren erlebt haben. Der Status quo ist unhaltbar.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

(c) The New York Times

Antimuslimischer Populismus – rechter Rassismus in neuem Gewand

Alexander Häusler (2019)*:

Antimuslimischer Populismus. Rechter Rassismus in neuem Gewand, herausgegeben von Aktion Courage e.V.: Berlin.

„Die Muslimfeindlichkeit hat seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sowohl in Deutschland wie auch insgesamt in Europa massiv zugenommen.“

Dabei werden Ressentiments gegenüber Muslimen in öffentlichen Debatten undifferenziert vermengt mit der Angst vor der realen Gefahr, die von dem terroristischen islamistischen Fundamentalismus ausgeht. Aus populistischen Kampagnen gegen den Islam und gegen Muslime lässt sich deshalb auch politisch Kapital schlagen. Besonders für die europäischen Rechtsaußenparteien bietet sich das politische Schreckgespenst „Islamisierung“ als Chiffre für einen rassistischen Populismus geradezu an. Denn mit populistischen Kampagnen gegen Muslime lassen sich rassistische Weltanschauungen weit über den rechtsextremen Rand hinaus verbreiten.

Hierbei werden völkisch-rassistische Stereotype auf die Ebenen der Kultur und der Religion übertragen: Der „Untergang des Abendlandes“ aufgrund einer angeblichen „kulturellen Landnahme“ durch die Muslime, die in Form einer „schleichenden Islamisierung“ stattfindet, wird dabei öffentlichkeitswirksam beschworen.

Ein solcher muslimfeindlicher Populismus gehört mittlerweile zu den zentralen Merkmalen rechter Propaganda und stellt ein länderübergreifendes Kampagnenthema des parteipolitischen Rechtsaußenspektrums dar. Auch in der bewegungsorientierten extremen Rechten haben sich mit Pegida oder der Identitären Bewegung rassistische Netzwerke entwickelt, die mit ihrem muslimfeindlichen Populismus öffentliche Wirksamkeit entfaltet haben.

In Deutschland hat sich die rechte Partei Alternative für Deutschland (AfD) zur stärksten Oppositionskraft im Deutschen Bundestag entwickelt, die ihren völkisch-autoritären Populismus mit exzessiver Muslimfeindlichkeit propagandistisch befeuert. Mit völkisch-autoritärem Populismus ist eine spezifische Ausdrucksform des Rechtspopulismus gemeint, die geprägt ist von einem völkischen Nationalismus und einem autoritären Staatsverständnis.

Wir haben es also mit der zunehmenden Verschmelzung zweier politischer Phänomene zu tun – dem rechten Populismus und dem antimuslimischen Rassismus. Dabei erfährt der Rechtspopulismus in Deutschland und Europa seine Anziehungskraft in steigendem Maße auch durch die Verbreitung antimuslimischer Ressentiments, die sich als propagandistisch breit anschlussfähig erweisen und gefährliche Ausmaße für das interkulturelle Zusammenleben angenommen haben. Die zentralen Merkmale und aktuellen Ausdrucksformen des antimuslimischen Populismus werden in den folgenden Kapiteln dargestellt und kritisch analysiert.“

Download des kompletten Textes hier

Alexander Häusler ist Diplom-Sozialwissenschaftler (Universität Duisburg). Er ist  Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus an der Universität Düsseldorf ( FORENA) mit dem Arbeitsschwerpunkte: aktuelle Entwicklungen im Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Häusler ist ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet und hat eine große Anzahl bedeutender Aufsätze und auf Bücher publiziert.

Der Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus (FORENA) existiert seit 1987. Zunächst unter der Bezeichnung Arbeitsstelle Neonazismus wurde er von der Friedensforscherin Christiane Rajewsky als Reaktion auf das vermehrte Auftreten von Rassismus und extrem rechten Ausdrucksformen bei Jugendlichen ins Leben gerufen. Im Jahr 1994 erkannte das Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen die Institution als Forschungsschwerpunkte an.