Herbert Marcuse: Von der Jugend lernen

1964 schrieb der Philosoph Herbert Marcuse in seinem berühmten Buch „Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“: „Und doch ist diese Gesellschaft als Ganzes irrational. Ihre Produktivität zerstört die freie Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen, ihr Friede wird durch die beständige Kriegsdrohung aufrecht erhalten, ihr Wachstum hängt ab von der Unterdrückung der realen Möglichkeiten, den Kampf ums Dasein zu befrieden – individuell, national und international…“. Wie wahr!

In der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ wurde Herbert Marcus anlässlich seines 80. Geburtstags im Jahr 1978 von Wiltrud Mannfeld interviewt.

Das Gespräch zeigt, dass uns Herbert Marcuse – neben Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Erich Fromm – einer der prominentesten Vertreter der „Kritischen Theorie“ – auch als „Frankfurter Schule“ (nach dem Sitz des „Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ in Frankfurt benannt – auch heute noch etwas zu sagen hat:

Herbert Marcuse: Von der Jugend lernen

Passend zu Interview hat Fritz J. Raddatz in der ZEIT ( Ausgabe  30/1978) eine Würdigung verfasst:

Herbert Marcuse, Philosoph der Revolte, wird 80

Von Fritz J. Raddatz

„Was diese Arbeit etwa zu einer Aufrollung und Klärung der Probleme beiträgt, verdankt sie der philosophischen Arbeit Martin Heideggers“ – nicht allzu viele, die Marcuses spätere Bücher zu Revoluzzer-Bibeln herabstimmten, würden ihm diesen Satz zuschreiben; er steht am Ende der Einleitung seines Buches über Hegels Ontologie. Das war im Jahre 1932. Im selben Jahr kommentierte er die neu entdeckten Frühschriften des Karl Marx.

Und im selben Jahr verließ der jüdische Großbürgerssohn – der bei Husserl und Heidegger über den deutschen Künstlerroman promoviert hatte – Deutschland, wurde Mitarbeiter des von ihm mitgegründeten Instituts für Sozialforschung in New York.

Bis er in Deutschland wieder wahrgenommen wurde, bis er angesichts der Wellen des Pazifischen Ozeans in San Diego, Kalifornien – wo er seit 1965 einen Lehrstuhl hat, weil es in den USA keinen Radikalenerlaß gibt –, jenen denkwürdigen Satz sprach: „Und da sagt man, es gibt keine Ideen“: bis dahin verging ein langes, fruchtbares Leben voller Widerspruch; im doppelten Sinne des Widersprechens und des Unfertigen.

Fertig war Herbert Marcuse nie. Er war – und ist – ein Denker des Aufbruchs, des Voran. Wenn ihm heute für ein Werk und ein Leben mit moralischer Konsequenz zu danken ist, dann nicht zuletzt deswegen.

Das wird das Faszinosum gewesen sein, das ihn zum Leitbild einer Generation machte. Ein schöner Rigorismus, der die Kategorie der Obszönität ins Gesellschaftliche verlängerte: „Diese Gesellschaft ist insofern obszön, als sie einen erstickenden Überfluß an Waren produziert und schamlos zur Schau stellt, während sie draußen ihre Opfer der Lebenschancen beraubt; obszön, weil sie sich und ihre Mülleimer vollstopft, während sie die kärglichen Nahrungsmittel in den Gebieten ihrer Aggression vergiftet und niederbrennt.“

Seien wir ehrlich: keiner von uns, der nicht nur dahindämmern mochte im Sattschatten der Abzahlzufriedenheit, und ein jeder von uns, der gleichzeitig der Vodka-Cola-Polka des etablierten Sozialismus misstraute, der diesem Mann nicht etwas zu verdanken hätte. Und sei es im Widerspruch.

Kein Zufall, daß Jürgen Habermas zu Marcuses siebzigstem Geburtstag einen Band solcher Widersprüche herausgab; hinweisend darauf, dass „Weigerung“ allenfalls Einstellung, nicht Einsicht sei; fragend, ob der Begriff des „Naturrechts“ auf Widerstand und Gewalt nicht neuer Erläuterung bedürfe. Denn die da Gewalt üben und Sittlichkeit außer acht lassen, „tragen das Bild Rosa Luxemburgs zu Unrecht über ihren Häuptern“ …“