Corona-Krise: Medien und Journalisten droht ein gnadenloser Selektionsprozess

„Ein Zusammenbruch sei das für ihn, sagt Michael Rappe. Täglich beschäftige ihn die aktuelle Situation. Rappe, 57, ist freier Lokaljournalist – einer wie viele in der deutschen Presselandschaft. Bald ist er zwanzig Jahre im Beruf, eine Zeit, die er vor allem in Sporthallen und Leichtathletikstadien verbracht hat. Doch die Spezialisierung auf den Lokalsport wird Rappe jetzt zum Verhängnis: Der Spielbetrieb liegt vorerst in der Corona-Starre, wann es weitergeht, kann derzeit niemand sagen. Das Resultat für Rappe: „Rund siebzig Prozent meines Auftragsvolumens fallen gerade weg.“

Bisher hat Rappe für die „Rhein-Neckar-Zeitung“ aus Heidelberg und die benachbarte „Schwetzinger Zeitung“ fest über mehrere Sportarten berichtet. Basketball, Tischtennis, Fußball, Kegeln: Im Schnitt kamen so meist um die 15 Texte pro Woche zustande. Jetzt sind es nach seinen Angaben nur noch vier oder fünf – bei einem Zeilensatz von 80 Cent. „Die Redaktion will uns natürlich nicht hängenlassen und vergibt viele freie Geschichten wie Interviews oder Porträts“, sagt Rappe. Auf das gleiche Volumen wie im aktiven Ligenbetrieb kommt er so aber dennoch nicht. Rücklagen hat er keine, jetzt hofft er auf die Hilfspakete von Bund und Land.

Wie für viele andere Freiberufler und Selbstständige brechen für freie Journalistinnen und Journalisten gerade harte Zeiten an. Termine und Veranstaltungen fallen komplett weg, das öffentliche Leben liegt jenseits von Corona weitgehend brach. Über was also berichten? Und wie mit den finanziellen Engpässen umgehen? 

Miese Stimmung

Die Politik hat manche Unterstützungsangebote bereits umgesetzt, andere sind vorerst nur angekündigt. Aber wie reagieren die Auftraggeber, Rundfunkanstalten, Verlagshäuser, Redaktionen?

Was klar ist: Wer regelmäßig bei den Öffentlich-Rechtlichen arbeitet, hat zumindest meist so etwas wie Rechte. Dort gibt es viele arbeitnehmerähnliche Freie, die von tariflichen Lösungen profitieren könnten – auch wenn der NDR zuletzt eher mit schlechtem Beispiel voranging und den bemerkenswerten Tipp gab, man könne doch Urlaub nehmen, falls man wegen Kita- und Schulschließungen gerade nicht arbeiten könne.

Zudem sind die öffentlich-rechtlichen Anstalten von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise nicht direkt betroffen. Ganz anders sieht es bei den privatwirtschaftlichen Zeitungen und Magazinen aus. Hier herrscht hinter den Kulissen ziemlich miese Stimmung.

Wer wissen will, was die Branche derzeit umtreibt, muss einen Text von Michael Reinhard lesen. Er trägt den Titel „Wir über uns: ‚Nie war es wichtiger, die Menschen seriös zu informieren‘“ und ist in der „Main-Post“ erschienen, einer Regionalzeitungsgruppe mit Sitz in Würzburg, deren Chefredakteur Reinhard ist. Allerdings ist die Überschrift etwas irreführend, denn wer den Beitrag gelesen hat, stellt sich eher die Frage, wer bald überhaupt noch informieren soll: Werbeverluste in Höhe von 80 Prozent, Kurzarbeit bald auch für Redakteure, die Aussichten ungewiss.

Eines muss man Reinhard lassen: Er hat mehr Mut zur Transparenz als die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen. Beim Berliner „Tagesspiegel“ bittet man etwa um Verständnis, dass man keine Stellung zur aktuellen Lage und der Situation der freien Mitarbeiter nehmen könne. Die Südwestdeutsche Medienholding (u.a. „Süddeutsche Zeitung“, „Stuttgarter Zeitung“) lässt eine Anfrage ganz unbeantwortet. Und bei der Ad Alliance, einer Vermarkterallianz, der unter anderem der Magazinriese Gruner+Jahr sowie Spiegel Media, der Vermarkter der „Spiegel“-Gruppe, angehören, heißt es fast schon beschwingt: „So dynamisch, wie sich die Informationslage zum Virus selbst täglich entwickelt, so dynamisch ist auch unser Daily Business.“

Dabei kämpft die ganze Verlagslandschaft mit den gleichen Problemen. Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) hat gegenüber dem Branchendienst „Meedia“ bestätigt, dass viele seiner Mitglieder von ähnlich hohen Einnahmeverlusten durch Anzeigenstornierungen betroffen sind wie die „Main-Post“. Schon für mittelgroße Häuser kann es dabei um Millionensummen gehen, die plötzlich fehlen – und das nach erst wenigen Wochen der Corona-Krise. Zudem sei Kurzarbeit auch für Redakteure bei vielen Verlagen im Gespräch, sagt ein BDZV-Sprecher gegenüber Übermedien. Bertelsmann, Deutschlands größtes Medienunternehmen, hat die Maßnahme bereits angekündigt.

Massenaussterben

Die Branche feiert derweil ihre wiederentdeckte Relevanz in Zeiten der Krise. Indikator dafür sollen die gemeldeten Rekordzugriffe auf die Angebote im Netz und steigende Aboverkäufe sein. Doch für den Großteil der Verlage wird dieser Zuwachs an Klicks und Abonnements nicht einmal im Ansatz die drastischen Werbeverluste ausgleichen können. Zumal viele Inhalte zur Corona-Krise vor den Bezahlschranken zu finden sind. In einem vielbeachteten Text spricht der „Buzzfeed“-Medienredakteur Craig Silverman bereits von einem bevorstehenden „Massenaussterben“ in der amerikanischen Zeitungslandschaft – und „Buzzfeed“ selbst kürzt die Gehälter.

Die Lage der freien Journalisten vor diesem Hintergrund ist unterschiedlich. Neben Beispielen wie jenem von Michael Rappe gibt es viele Reporter, die sich noch relativ entspannt zeigen. Michael Wilkening ist ebenfalls freier Sportjournalist aus dem Rhein-Neckar-Raum. Er arbeitet neben diversen Regionalzeitungen auch für viele überregionale Titel. Sein Vorteil: Er betreut vor allem Profiteams wie die TSG Hoffenheim oder die Bundesliga-Handballer der Rhein-Neckar-Löwen – Themen, für die es auch deutschlandweit Abnehmer gibt. Bisher, sagt Wilkening deshalb, könne er seine Hintergründe und Interviews noch gut verkaufen. Es würden gerade viele Texte gebraucht.

„Wenn du als Freier jetzt gute Ideen hast, kannst du jeden Tag eine halbe Seite zuschreiben“, sagt auch ein Zeitungsredakteur zu Übermedien. Weil Termine komplett wegfallen, bleibe täglich Platz für große Stücke. In vielen Redaktionen versuchen Redakteure auch bewusst, ihren freien Mitarbeitern Themen zuzuschieben. Ein anderer Redakteur berichtet davon, dass ihm Freie derzeit sogar absagen, weil ihr Auftragsbuch noch voller sei als sonst. Nicht selten wird auch die Krise als Chance beschworen: Endlich sei die Abhängigkeit vom bräsigen Terminjournalismus besiegt, die von vielen Lokalredakteuren schon lange als notwendiges aber gleichzeitig auch anachronistisches Übel betrachtet wurde. Jetzt müsse man kreativ werden und querdenken; die Zeitung sei deshalb fast besser als zuvor.

Auftragsstopps

Wahr ist aber auch: Geschichten darüber, wie sich Sportler jetzt fit halten oder einzelne kulturelle Einrichtungen mit dem Shutdown umgehen, sind schnell auserzählt. Und vielerorts wird der Umfang von Ausgaben aus Kostengründen gekürzt. Wenn dann die Anzeigenverluste weiter zunehmen, wird erfahrungsgemäß zuerst an den Etats für freie Autoren gespart. Schon jetzt gibt es Autoren, die von Auftragsstopps für Freie in bestimmten Häusern sprechen – verifizieren lässt sich dieser Sachverhalt aber bisher nicht. Die Pressestellen dementieren.

Frank Hellmann ist einer, der diese Entwicklung bereits spürt. Der 53-Jährige gilt als einer der profiliertesten freien Sportjournalisten in Deutschlands – seine Texte erscheinen in Medien wie der „Süddeutschen Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“ oder auf sportschau.de. Auch er hat sein Netzwerk aktiviert und erst einmal viele hintergründige Texte und Interviews verkauft. Allerdings sagt er auch: „Mittlerweile ergibt sich das Problem, das durch Platzreduzierungen oder aus Kostenzwängen der Abdruck der Freien Autoren eingeschränkt oder sogar eingestellt wird. Dieser Trend könnte sich noch verstärken.“

Hellmann berichtet zudem von einem anderen Problem für Freiberufler: „Wir bleiben auf den Kosten für anstehende Sportereignisse sitzen.“ Denn wer eigentlich von den Olympischen Spielen oder der Fußball-Europameisterschaft berichten wollte, hat als Profi natürlich schon längst Flüge und Hotels gebucht. Nur einen Bruchteil dieser Kosten wird Hellmann nach eigener Aussage wieder zurückbekommen – übrig bleibt ein Betrag im mittleren vierstelligen Bereich.

Der entscheidende Faktor ist Zeit. Wenn die Werbeerlöse nicht bald stabilisiert oder durch andere Einnahmequellen kompensiert werden können, sieht es düster aus. Unter Umständen wird man dann einen gnadenlosen Selektionsprozess in der Medienlandschaft erleben – sowohl bei den Verlagen, als auch bei den freien Journalisten. Wer in der Lage ist, sich rasch weiterzuentwickeln, anders zu arbeiten und passende Inhalte zu erzeugen, wird vielleicht bestehen. Für andere könnte die Corona-Krise tatsächlich das Ende im Journalismus bedeuten.“


Über Übermedien

Übermedien berichtet, Überraschung: über Medien. Seit Anfang 2016 setzen wir uns hier kontinuierlich mit der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten auseinander.

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Medien unterhalten und informieren uns nicht nur, Medien prägen unser Bild von der Welt. Deshalb ist es wichtig, sie kritisch zu begleiten. Andere Journalisten befassen sich mit Politik, Wirtschaft, Sport. Wir befassen uns mit Medien. Und mit den Journalisten, die für sie arbeiten.

Das Vertrauen in Medien ist stark gesunken. Es gibt viele Belege dafür, dass die Beziehung zwischen Publikum und Journalisten gestört ist. Auf der einen Seite wuchern Pauschalurteile über die vermeintliche „Lügenpresse“; die andere Seite reagiert darauf oft mit Trotz.

Etablierte Medien tun sich schwer, mit Kritik umzugehen – und andere Medien zu kritisieren. Kritik von Journalisten an Journalisten ist immer noch verpönt. Wir wollen uns frei machen von falscher Rücksichtnahme, indem wir uns von Verlagen und Sendern unabhängig machen. Wir setzen uns kritisch mit Medien auseinander – und, wenn nötig, auch mit der Kritik an ihnen.

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Transformationen – Kapitalismus und Arbeit im Wandel – Ausgabe 55 von „kritisch-lesen“

„Die einschneidenden Transformationsprozesse geschehen weltweit: Angefangen in den 1980er Jahren mit Margaret Thatchers neoliberalem „There is no alternative!“ im Vereinigten Königreich, Hardliner Ronald Reagans arbeiter*innenfeindlichen „Reaganomics“ in den USA bis zur Treuhand in der ehemaligen DDR und im globalen Management der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008. Neoliberale Wirtschaftspolitik verdrängt und verlagert die ursprünglichen Sphären des Industrieproletariats in die Peripherie; prekäre Dienstleistungsjobs und befristete Arbeitsverhältnisse ersetzen die gewerkschaftlich mitabgesicherten „Normalarbeitsverhältnisse“. Auch mit Fleiß gibt es für die Arbeiter*innen von heute oft nicht genug zum sicheren Leben.

Und jetzt gerade, inmitten der Corona-Krise, deren ökonomische Folgen insbesondere für arme Menschen massive lebens- und existenzbedrohende Konsequenzen haben wird, zeichnet sich erneut ein Wandel ab, der auf Jahrzehnte wirken wird.

Es zeigt sich immer wieder, dass der Kapitalismus doch der beste Krisenproduzent ist. Die ohnehin mangelnde Absicherung prekarisierter Menschen bricht nun noch weiter ab, wenn sie nicht schon von Beginn an fehlte.

Die Lösung für die zu erwartende Weltwirtschaftskrise, das ist leider absehbar, wird nicht mehr soziale Absicherung sein, sondern ein verstärkt autoritärer, markthofierender Kapitalismus.

Gleichzeitig kehrten in der Corona-Krise die Arbeiter*innen in den Blick der Öffentlichkeit zurück. Nun ist die Frage in der Welt, wer eigentlich systemrelevant ist – Krankenschwestern, Kassiererinnen, Postbotinnen und all die anderen. Und es ist nicht ausgemacht, dass sie sich mit einer einmaligen Corona-Bonuszahlung werden abspeisen lassen. Darin liegt auch eine Perspektive für neue gesellschaftliche Kämpfe.

In dieser Ausgabe von kritisch-lesen.de begeben wir uns auf Spurensuche: Danach, was mit einer Gesellschaft passiert, deren Wohlstand auf einer obsolet gewordenen Industrie fußt.

  • Wie wandeln sich diese Arbeitsweisen heutzutage, etwa wenn wir über die neoliberalen und digitalen Ausprägungen des Kapitalismus diskutieren? Die Fabrik war schließlich nicht nur eine Arbeitsstätte, sondern auch ein Ort, an dem soziale Zugehörigkeit, Gemeinschaft und ganz allgemein politische und gewerkschaftliche Organisierung entstehen konnte.
  • Was geschieht mit den sozialen Gefügen, die sich darin entwickelt haben?
  • Welche Abstiegserfahrungen machen Menschen, denen dieser Halt abhanden kommt? Und wie könnte ein linkes Projekt aussehen, dass diesen Transformationsprozessen ohne falsche Nostalgie eine Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft gegenüberstellt?

Mit dem Blick auf bisherige Transformationsprozesse erhoffen wir uns Erkenntnisse für bevorstehende.“

Wilhelm Heitmeyer: „In der Krise wächst das Autoritäre“

ZEIT online – 13.4.2020

Interview: Christian Bangel

Wilhelm Heitmeyer:„In der Krise wächst das Autoritäre“

Verändert die Corona-Krise die Gesellschaft zum Guten? Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zweifelt. Wenig deute darauf hin, dass nun die harten Fragen verhandelt würden.

Wilhelm Heitmeyer, 74, ist einer der bedeutendsten deutschen Soziologen. Er war Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld von 1996 bis 2013. Unter seiner Federführung entstand die Reihe „Deutsche Zustände“, die von 2002 bis 2011 jährlich den Stand der Diskriminierung gegenüber Juden, Muslimen, Nichtweißen, Homosexuellen, Obdachlosen und anderen Gruppen untersuchte. Heitmeyer entwickelte den Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und gab der Öffentlichkeit damit ein wichtiges Erkenntnisinstrument in die Hand. Er arbeitet heute als Forschungsprofessor. Sein aktuelles Buch ist „Autoritäre Versuchungen“. Im Herbst erscheint „Rechte Bedrohungsallianzen“ bei Suhrkamp.

ZEIT ONLINE: Herr Heitmeyer, wie geht es Ihnen?

Wilhelm Heitmeyer: Ich bin zu Hause. Im Institut sind alle im Homeoffice. Mensen, Cafeteria und so weiter, das ist alles weitgehend dicht. Man kann bestenfalls seine Post abholen, und das war’s.

ZEIT ONLINE: Sie wirken recht unbeeindruckt.

Heitmeyer: Naja, das sieht nur so aus. Außerdem bin ich privilegiert. Wir wohnen in einem Randbezirk von Bielefeld in einem Haus mit einem großen Garten in einem Waldgrundstück. Da kann man es schon aushalten.

ZEIT ONLINE: Dabei heißt es immer, diese Krise sei eine, die alle gesellschaftlichen Gruppen betrifft.

Heitmeyer: Ja und nein. Eine Krise im soziologischen Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass erstens die normalen Routinen nicht mehr funktionieren und zweitens die Zustände vor dem Eintritt der Ereignisse nicht wieder herstellbar sind. Ein solches Ereignis erzeugt massive Kontrollverluste.

ZEIT ONLINE: Was auf Corona zweifellos zutrifft.

Heitmeyer: Ja. Corona ist sogar eine besondere Krise, sie macht nicht Halt vor sozialen Klassen. Es gab vor Corona auch schon 9/11, Hartz IV, die Finanzkrise, die Ankunft der Geflüchteten, die aber jeweils für ganz unterschiedliche Milieus verunsichernd wirkten und in ihren Auswirkungen zeitlich begrenzt waren. Und doch gibt es auch in der Bewältigung dieser Pandemie schon jetzt massive Klassenunterschiede. Wir in unserem Haus am Wald erleben eine völlig andere Realität als eine Familie, die zum Beispiel in Berlin-Marzahn oder in Köln-Chorweiler mit drei Kindern in beengten Verhältnissen wohnt. Die soziale Ungleichheit wirkt sich massiv aus, ja, soziale Ungleichheit zerstört Gesellschaften.

ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie von der Nach-Corona-Zeit?

Heitmeyer: Corona ist ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit. Da sind einerseits die psychischen Beschädigungen, die das Virus hinterlässt und die erst nach der Aufhebung der Kontaktbeschränkungen sichtbar sein werden. Und es sieht so aus, als würde eine tiefreichende wirtschaftliche Rezession mit weitreichender Arbeitslosigkeit auf uns zukommen. Die Folgen dürften soziale Desintegrationen und Statusverluste sein. Also weitere Kontrollverluste.

ZEIT ONLINE: Auf welche Reaktionen der Menschen müssen wir uns einstellen?

Heitmeyer: Über die gegenwärtigen Verarbeitungsformen wissen wir noch zu wenig. Aus bisheriger Forschung kennen wir einige Formen. Im Negativen sind Vertrauensentzug gegenüber der Politik oder die Einforderung von Etabliertenvorrechten möglich, nach dem Motto: Wir zuerst! Dann ist es nicht weit bis zum „Deutsche zuerst“. Herr Höcke von der AfD hat ja schon vor längerer Zeit von großen Remigrationsprojekten gesprochen, die mit „wohltemperierter Grausamkeit“ vorangetrieben werden sollen. Denkbar ist auch die Immunisierung nach der Art eines „Weiter so“, ohne dass man sich um die sozialen Folgen kümmert. Und es gibt natürlich quer über die Milieus Schuldverschiebungen, wie sie in Verschwörungstheorien erzählt werden.

Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden

ZEIT ONLINE: Kommt jetzt deren große Zeit?

Heitmeyer: Es gibt jedenfalls einen Zusammenhang zwischen Kontrollverlust und der Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Und da die Kontrollverluste dieser Tage nun wirklich breit gestreut sind, dürften sie größere Reichweite bekommen. Die Frage ist: Welchen sichtbaren Gruppen schiebt man die Schuld zu, wo der Virus doch unsichtbar ist? Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden. Im rechtsextremen Milieu ist schon einiges unterwegs.

ZEIT ONLINE: Gibt es auch ermutigende Prozesse? Was ist mit den vielen Menschen, die gerade zum Beispiel Älteren helfen?

Heitmeyer: Auch das gehört zu den möglichen Verarbeitungsformen. Es ist ja jetzt auch eine spannende Frage, ob und wie sich möglicherweise eine neue gesellschaftliche Solidarität entwickelt – oder eben auch nicht.

„Rechtspopulismus ist völlig ein irreführender Begriff“

ZEIT ONLINE: Was prognostizieren Sie?

Heitmeyer: Ich rate zur Nüchternheit. Man kann diese Solidaritäten, die jetzt häufig in beruflichen Leerlaufzeiten stattfinden, nicht einfach dauerhaft fortschreiben. Zumal, wenn die Zeit der Menschen bald wieder vollgefüllt sein wird mit Büroarbeit und anderen Tätigkeiten. Man hört und liest da zurzeit viel Gesellschaftsromantik, die schnell in große Enttäuschungen mit schlimmen Folgen einmünden kann. Ich erinnere an die anfängliche Euphorie zu Zeiten der Flüchtlingsbewegung im Herbst 2015 und das, was danach geschah.

Die harten Fragen lauten: Werden sich ökonomische Strukturen ändern oder werden die bisherigen sich weiter verhärten? Und natürlich: Werden die aktuellen Einschränkungen unserer Freiheit vollständig wieder verschwinden oder werden neue Kontrollregime auf Dauer eingerichtet, nur mit anderer Begründung?

ZEIT ONLINE: In Europa zeichnet sich als Folge der Corona-Krise eine Stärkung des Nationalen ab.

Heitmeyer: Das konnte man schon länger vor Corona sehen. Da reicht ein Blick auf die politische Landkarte. Die Kraft dieses neuen Nationalismus zeigt sich auch daran, dass die EU-Staaten unabhängig voneinander ihre Grenzen geschlossen haben. So eine Dynamik kommt zweifelhaften Vorreitern wie Orbán in Ungarn sehr gelegen. Er nutzt das jetzt zu einer fast uneingeschränkten Ausdehnung seiner Macht zur autoritären Kontrolle der Gesellschaft. Die EU finanziert eine formaldemokratisch verbrämte Diktatur in Europa.

Ich bin insgesamt nicht optimistisch

ZEIT ONLINE: Geht die Zeit der offenen Grenzen in Europa zu Ende?

Heitmeyer: Natürlich ist es ein Hoffnungsschimmer, dass diese Nationalismen auch durchbrochen werden, etwa wenn Corona-Patienten in andere Länder verlegt werden, um dort in Krankenhäusern gepflegt werden zu können. Aber dies sind keine systemischen Entscheidungen, sondern humanitäre Gesten. Ich bin insgesamt nicht optimistisch. Nicht nur zwischen Ost- und Westeuropa hat sich eine ungute Zweiteilung in den Vorstellungen von offener Gesellschaft und liberaler Demokratie entwickelt.

ZEIT ONLINE: Weil in Osteuropa ein autoritäres, nationalistisches Moment weiter verbreitet ist?

Heitmeyer: Ja. Es ist zu befürchten, dass sich dieser autoritäre Nationalradikalismus – Rechtspopulismus ist völlig ein irreführender Begriff – in den Ländern des Ostens weiter verfestigt. Bevor man darüber hinweg geht, sollte man bedenken, dass Orbán auch ein Vorbild für die deutsche Version dieses autoritär-nationalen Radikalismus ist, also die AfD.

ZEIT ONLINE: Rechtsextremismus und Rassismus sind mit Corona wahrscheinlich aus dem Fokus vieler Menschen verschwunden. Glauben Sie, diese Aufmerksamkeit, wie wir sie nach Halle und Hanau erlebten kommt noch mal wieder?

Heitmeyer: Das ist alles nur zeitweise überdeckt. Die Rechten leiden am Aufmerksamkeitsverlust. Aber die Ursachen sind ja nicht verschwunden. Natürlich hängt es auch an den Medien und daran, ob sie die anderen Dramen in der Gesellschaft vergessen.

ZEIT ONLINE: Aber im Augenblick hat man den Eindruck, dass die deutschen Rechtsradikalen sich weitgehend zurückhalten.

Heitmeyer: Die AfD ist derzeit gelähmt von der Beobachtung durch den Verfassungsschutz und ihren inneren Konflikten. Außerdem hat in Krisen immer die Regierung die Deutungsmacht. Dagegen kann die AfD selbst mit Tabubrüchen nichts ausrichten. Zumal das wahrscheinlich in der heutigen Situation auch nicht gut ankommen würde.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet die Selbstauflösung des rechtsextremen Flügels?

Heitmeyer: Es wäre völlig falsch, davon irgendeine Art von Politikveränderung in der AfD zu erwarten. Nach meiner Einschätzung wird der Flügel daraus gestärkt hervorgehen und zugleich weniger greifbar sein.

„Rechtes Eskalationskontinuum“

ZEIT ONLINE: Erleben wir also gerade nur eine Ruhepause vor dem Rechtsradikalismus?

Heitmeyer: Nur wenn man sich allein auf die AfD bezieht. Wir haben es aber im rechten Spektrum mit einem Eskalationskontinuum zu tun. Die abwertenden Einstellungsmuster in der Bevölkerung gegenüber schwachen Gruppen sind ja nicht mit der Corona-Krise einfach weg.

ZEIT ONLINE: Würden Sie das genauer erklären?

Heitmeyer: Es gibt ein rechtes Eskalationskontinuum, das aus fünf Elementen besteht. Es beginnt mit der Abwertung und Diskriminierung von Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit – also Juden, Muslime, Homosexuelle, Obdachlose, Flüchtlinge. Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung schafft Legitimation für die AfD, die das politisch in Parolen verdichtet und auf die Tagesordnung hebt. Die AfD schafft ihrerseits wiederum Legitimationen für rechtsextreme Milieus, indem sie Begriffe wie „Umvolkung“ oder „der große Austausch“ in die Welt setzt und mit Untergangsfantasien operiert. Diese systemfeindlichen Milieus operieren zum Teil schon mit Gewalt und geben wieder Legitimationen an militante Zellen, die konspirativ operieren – Gruppen wie „Revolution Chemnitz“ oder „Freital 360“. Die Gruppen werden immer kleiner und immer gewalttätiger, bis hin zu rechtsterroristischen Zellen oder Einzeltätern.

ZEIT ONLINE: Es gibt also eine Linie von der AfD zum Attentäter von Hanau?

Heitmeyer: Es ist viel problematischer durch dieses Eskalationskontinuum. Daraus entstehen – so nennen wir das – rechte Bedrohungsallianzen. Wenn man die Gefahren für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie ansatzweise in den Griff bekommen will, muss man das ganze Kontinuum im Blick haben und darf sich nicht nur auf die AfD konzentrieren.

„Wie wenig und langsam die Institutionen lernen“

ZEIT ONLINE: Legitimieren eigentlich auch Bürgerliche die Rechten, wenn sie von „Ökodiktatur“ und Ähnlichem sprechen?

Heitmeyer: Ja, diese Leute gibt es zuhauf. Dabei gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Politiker diese Begriffe durch Übernahme entschärfen können. Im Gegenteil, das dient nur der Normalisierung in der breiten Bevölkerung. Und solche Normalisierungsprozesse sind gefährlich, denn alles, was als normal gilt, kann man nicht mehr problematisieren. Das ist genau die Taktik der AfD, an der ja auch Markus Söder bei seiner letzten Landtagswahl so grandios gescheitert ist, als er versuchte, die AfD rechts zu überholen.

ZEIT ONLINE: Aber warum machen es dann Politiker immer wieder?

Heitmeyer: Sie zielen auf die rohe Bürgerlichkeit in den Mittelschichten. Hinter einer glatten Fassade und geschliffenen Worten verbirgt sich bei manchen ein Jargon der tiefen Verachtung gegenüber schwachen Gruppen. Da verschwimmen auch Grenzlinien zwischen Parteien um der geschichtsvergessenen Macht willen, wie in Thüringen. Die AfD ist auf die Destabilisierung gesellschaftlicher Institutionen ausgerichtet. Sie will ihre Leute in der Polizei, in der Bundeswehr, in der Kultur, in der politischen Bildung, in Gewerkschaften platzieren. Das sie in Thüringen so schnell die Systemebene bei der Wahl des Ministerpräsidenten erreichte, hätte ich vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten.

Geld und Applaus werden das kurzfristig nicht beheben“

ZEIT ONLINE: Wenn Sie von den Gründen für politische Radikalisierung sprechen, nennen Sie oft Anerkennungsverluste. Jetzt erleben wir, dass jeden Tag Menschen applaudiert wird, die bisher eine marginale Rolle gespielt haben.

Heitmeyer: Das ist in der Tat neu. Und der Respekt für diese Menschen ist natürlich verdient. Ich glaube aber, dass er mehr mit Angstreduktion der Klatschenden zu tun hat. Und er wird nicht flächendeckend die Anerkennungsverluste aufwiegen, die insbesondere in Ostdeutschland um sich gegriffen haben. Viele Menschen fühlen sich seit Jahrzehnten von der Politik nicht mehr wahrgenommen. Dieses Gefühl reicht tiefer. Und Geld und Applaus werden das kurzfristig nicht beheben.

ZEIT ONLINE: Ist es undenkbar, dass Corona einen ökonomischen und politischen Paradigmenwechsel auslösen wird, der die Rechtsradikalen schwächt?

Heitmeyer: Wer sollte denn der Treiber eines solchen Paradigmenwechsels sein? Aktionäre? Manager?

ZEIT ONLINE: Eine gesellschaftliche Mehrheit. Warum soll es nicht mehr Anerkennung und Zusammenhalt zwischen den sozialen Gruppen geben? Kontrollgewinne!

Heitmeyer: Das wäre wünschenswert, aber mindestens zwei Punkte sprechen dagegen. Erstens hat der globale, anonymisierte Finanzkapitalismus absolut kein Interesse an gesellschaftlicher Integration und damit an sozialen Anerkennungsprozessen. Solange sich da grundsätzlich nichts ändert, sehe ich auch keine sozialen Veränderungen kommen. Nach der Krise wird es doch eher ein brutales Aufholrennen für die verpassten Renditen geben. Dann dürften sehr schnell wieder umstandslos die Kriterien von Verwertbarkeit, Nützlichkeit und Effizienz gelten – nicht nur bei der Herstellung von Waschmaschinen, sondern auch in der Bewertung von Menschen.

ZEIT ONLINE: Aber sogar in Davos wird doch inzwischen gesagt, man muss wieder die Mittelschichten stärken, weil der Rechtsradikalismus auch den Finanzkapitalismus bedroht.

Heitmeyer: Das sind Absichtserklärungen auf Kongressen, aber ich sehe bisher keine Strukturveränderungen. Der zweite Punkt ist: Die Anerkennungsprozesse, die jetzt den Krankenschwestern und den Pflegern entgegengebracht werden, sind wunderbar. Sie sind bewundernswert und beruhigend. Aber erst das Langfristige ist strukturbildend. Und ich bezweifle, dass das lange anhalten wird. Wenn die Krise vorbei ist und Milliarden für die Stabilisierung der Wirtschaft ausgegeben sind, wird sich die Frage stellen, woher dann noch das Geld für die finanzielle Anerkennung der gerade gefeierten Helden und Heldinnen kommen soll. Ich bin sehr skeptisch. Aber ich hoffe die Skepsis irgendwann mal zu den Akten legen zu können.

„In der Krise wächst das Autoritäre“

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie?

Heitmeyer: Ich habe immer wieder erlebt, dass politische und ministerielle Institutionen kein Gedächtnis haben. Wie wenig und langsam sie lernen. Wie schnell hat man zum Beispiel die ganzen Bekundungen nach den Morden des NSU vergessen? Das ist ritualisiert worden und hat doch kaum Konsequenzen gehabt. Und man kann eine ganze Reihe von anderen Beispielen nennen. Ich würde mir wünschen, dass das anders würde, denn gerade von dieser sozialen Anerkennungsfrage, die Sie erwähnten, hängt unglaublich vieles ab für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Und ob sich autoritäre Versuchungen ausbreiten, die den Menschen die Wiederherstellung von Kontrolle durch Ausgrenzung der „anderen“ versprechen. In der Krise wächst das Autoritäre.

ZEIT ONLINE: Institutionen bestehen aus Menschen.

Heitmeyer: Natürlich, aber auch aus Regeln und Mechanismen. Die politischen und staatlichen Institutionen haben ja ein Eigenleben, das vor allem auf Bestandserhaltung ausgerichtet ist. Da ist ja nicht nur der Politiker, der sagt, dass die Krankenschwestern ab jetzt viel mehr Geld haben müssen. Vieles, was jetzt von den führenden Personen als Lehre aus der Krise genannt wird, wird von den Mechanismen der Institutionen zermahlen werden.

ZEIT ONLINE: Täuscht das, oder wirken Sie immer noch ziemlich unbeeindruckt von der Krise?

Heitmeyer: Ich bin überhaupt nicht unbeeindruckt. Aber ich sehe den großen Paradigmenwechsel nicht. Ich fürchte, diese schwärmerische Gesellschaftsromantik dürfte an den verhärteten Strukturen des Finanzkapitalismus und dem Kontrollzuwachs der politischen Institutionen zerschellen.

Die Rechtspopulisten und die Medien

Kontext, Ausgabe 471

Von Anna Hunger und Josef-Otto Freudenreich – 08.04.2020

Die Grenzen verschwimmen

Ist das jetzt ein Skandal, wenn der SWR-Intendant mit der rechten „Jungen Freiheit“ spricht oder ein Moderator bei der „Achse des Guten“ mitmischt? Nein. Da scheint nur etwas normal, was nicht normal sein dürfte.

Vor vier Jahren durfte die AfD noch nicht mit am Tisch sitzen. Nicht mit Kretschmann, Schmid, Dreyer und Klöckner. Sie alle sagten: In unserer Elefantenrunde hat diese Partei nichts zu suchen. Das war vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Und der SWR nickte. Die Rechtspopulisten blieben außen vor.

Linker Staatsfunk hieß es damals bei der AfD. Ihrem Frontmann Alexander Gauland erschien der öffentlich-rechtliche Rundfunk als „Umerziehungs-TV“, dem er gerne die Gebühren entziehen würde. Der Ex-CDU-Mann bevorzugt ein anderes Medium: Die „Junge Freiheit“ (JF), 1986 in Freiburg gegründet, Sprachrohr der Neuen Rechten und Brücke vom Konservatismus zum Rechtsextremismus. „Wer die AfD verstehen will“, sagt Gauland, „muss die JF lesen“. Die Wochenzeitung gilt auch als Ideenlabor seiner Partei.

Vier Jahre später empfängt Kai Gniffke, der neue SWR-Intendant, einen Journalisten der JF in seinem Büro zum eineinhalbstündigen Gespräch. Daraus wird ein langes Interview, erschienen am 27. März und mit der Überschrift versehen: „Ich wünsche mir das Vertrauen der Bevölkerung“. Rechts neben ihm der Kopf von Wolfgang Wodarg, der in Corona-Zeiten eine gewisse Berühmtheit als Querulant erlangt hat.

Gniffke will einfach mit allen ins Gespräch kommen

Das Gespräch beginnt mit der steilen Frage: „Herr Professor Gniffke, die Spaltung unserer Gesellschaft vollzieht sich offensichtlich inzwischen an der Frage nach der AfD“. Das relativiert der promovierte Politikwissenschaftler mit dem Hinweis, dass auch Tradition und Moderne, Stadt und Land, Alt und Jung eine Rolle spielten. Arm und Reich, Kapital und Arbeit erwähnt er nicht. Aber alle sollen miteinander ins Gespräch kommen.

Das muss sich ein ARD-Intendant natürlich immer wünschen, auch wenn, wie Gniffke auf Kontext-Anfrage betont, die politische Ausrichtung dieser Zeitung „nicht dem eigenen Kompass entspricht“. Der 59-Jährige ist SPD-Mitglied. Schwierig ist eher das Organ, das eine andere Vorstellung von jenem Volk hat, das der SWR-Chef gewinnen will. Nach seines Befragers Einschätzung werden AfD-Wähler diskriminiert, ihre Vertreter nicht in ausreichender Zahl in Talkshows eingeladen beziehungsweise viel häufiger Opfer von Gewalttaten als jene von der „etablierten Seite“.

Kein Thema ist der Auftritt der baden-württembergischen AfD-Politiker Stefan Räpple und Dubravko Mandic vor dem Funkhaus in Baden-Baden am 4. Januar dieses Jahres, wo sie die SWR-JournalistInnen „aus den Redaktionsstuben vertreiben“ wollten. Und dies sei „erst der Anfang des Sturms“, ließ der Freiburger Anwalt Mandic wissen. Später sollte er sich dann für seine Rede entschuldigen, die SWR-Verwaltungsratschef Hans-Albert Stechl „von Hass und Hetze“ geprägt sah. Es hätte, so Mandic, der Eindruck entstehen können, er wolle seine Ziele „gewaltsam erreichen“. Ebenfalls unbesprochen bleiben die rechten Demonstranten vor dem Kölner WDR-Funkhaus, die Intendant Tom Buhrow (mit)bewogen haben dürften, die Causa „Oma Umweltsau“ mit einer flinken Distanzierung von seinen eigenen RedakteurInnen zu erledigen.

Im Intendantenbüro scheint Kreide versteckt

Auch Gniffke sind diese Vorgänge nicht verborgen geblieben. Aber er greift sie nicht auf. Schwierig eben, wenn man alle und alles verstehen will. „Das Opfernarrativ einer Partei zu betreiben ist falsch“, merkt er an, und das ist schon das Höchstmaß an Angriffslust. Der frühere Tagesschau-Chef, einst als Rauhbein wahrgenommen, hat in seinem neuen Büro offenbar eine Kiste Kreide versteckt, die er bei Bedarf auspackt. Meinungen „respektvoll austauschen“, allen Seiten „Raum geben“, „fair und unvoreingenommen“ berichten – das ist der neue Sprech. Spätestens hier dürfte der JF-Leser weggenickt sein.

Für das „Zentralorgan am rechten Rand“ (Die Zeit) ist letzteres nicht existenziell. Zum einen wächst die Auflage, entgegen dem Branchentrend, auf den Höchststand von 30.000, zum anderen hat sie mit Gniffke wieder gezeigt, wie es geht: mit Namen aus dem anderen Lager Liberalität vorgaukeln. Das verbessert das Image, Beatrix von Storch, Götz Kubitschek und Alice Weidel sind dann leichter zu ertragen. Auch für den Verfassungsschutz (VS), der die „Junge Freiheit“ über Jahre beobachtet und 2006 das Beobachten eingestellt hat. Bestand hat, so weit bekannt, nur der Beschluss des SPD-Bundesvorstands von 2005. Er besagt , dass es für die „Junge Freiheit“ keine Beiträge oder Interviews geben soll.

Auf die Kontext-Frage, ob das Interview wirklich sein musste, antwortet Gniffke mit einem eindeutigen Ja. Sein Ziel sei es, „in Dialog mit der ganzen Gesellschaft zu gehen“, der Intendant einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt könne ein solches Gesprächsangebot „nicht verweigern“. Warum eigentlich nicht?

Ein schießwütiger Moderator mit breiter Streuung

Ein weiterer bemerkenswerter Vorgang spielt ein paar Etagen tiefer im Radio. Dort gehört Burkhard Müller-Ullrich zum Moderatoren-Team des SWR2 Forum, das in einem 45-Minutenformat „Orientierungswissen“ bieten möchte. Alle wichtigen Themen würden hier verhandelt, verspricht der Sender – „so war es im antiken Rom, so praktiziert es das Kulturprogramm SWR2“.

Der freie Kulturjournalist und Medienkritiker Müller-Ullrich, 63, ist ein vielseitiger Mann, der mit seinen Beiträgen von der linksliberalen „Frankfurter Rundschau“ bis zur „Welt“ bereits zahlreiche deutschsprachige Titel und Rundfunkanstalten abgedeckt hat. Neben dem SWR arbeitet er auch für den „Deutschlandfunk“. Beim Autorenclub PEN ist er ausgetreten, weil der Schriftstellerverband beim bundesweiten Vorlesetag der Stiftung Lesen in Schulen und Kindergärten partout keine AfD-Politiker mitmachen lassen wollte. „PEN wollte die Erlaubnis für das Lesen und Vorlesen von Büchern vom Parteibuch der Lesenden und Vorlesenden abhängig machen. Und für AfD-Mitglieder sollte es keine Lese-Lizenz geben“, beklagte sich Müller-Ullrich auf Henryk M. Broders Populistenblog „Achse des Guten“ und zog die Konsequenz: „Ich bin dann mal weg.“

Mitglied im „Action Shooting Club“, einer Schießgesellschaft, die „Geselligkeit und die Kameradschaft“ pflegt, ist er geblieben. Schießen scheint eine besonders wichtige Konstante in Müller-Ullrichs Leben zu sein. Sein Twitterprofil ziert die Selbstbeschreibung „Dieselfahrer. Waffenbesitzer. Lufthansa-Senator“. Letzteres wird man erst, wenn man jährlich mindestens 100 000 Statusmeilen sammelt, der Zusatz „I wanna be banned from Twitter“ beschreibt schon mal die Richtung, in die er sich bewegt. Seit Neuem macht er täglich mit „Indubio“ (Im Zweifel) für Broders „Achse des Guten“ einen Podcast. „Wenn er mal mit Worten nicht trifft, dann nimmt er seine Walther PPQ Kaliber .45s+w“, steht dort in seinem Autorenprofil.

Broder ist bekanntlich der Meinung, Öffentlich-Rechtliche seien Staatsfunk und würden zu größten Teilen nur Schrott und Propaganda senden. Die GEZ hat er einmal als „Gestapo light“ bezeichnet. Die Frage an Müller-Ullrich, wie man sich denn persönlich durch diesen Schlamassel bewegt, also zwischen über Zwangsgebühren honorierte Aufträge für gleich zwei öffentlich-rechtliche Anstalten und Broder, möchte er nicht beantworten.

Dabei ist das für Müller-Ullrich eine echte Win-Win-Situation, sozusagen Cross-Promotion für Verächter der Anstalten: In der Sendung „Hilflose Helfer – Wird unser Medizinsystem zum Notfall?“ im SWR2-Forum vom 23.3.2020 war der Allgemeinmediziner Gunter Frank zu Gast. Seit 2013 schreibt er immer mal wieder für die „Achse des Guten“. Zur Zeit veröffentlicht er dort den regelmäßigen „Bericht zur Coronalage“ – und weiß natürlich viel besser als alle anderen, wie man politisch, wirtschaftlich und medial mit Corona umgehen müsste.

200 Meter unterm Flughafen steht das Militär

Auch der ehemalige Medien-Professor Norbert Bolz ist immer wieder zu Gast in Müller-Ullrichs SWR2-Forum. In der Sendung „Das Ende der Vernunft: Wie das Corona-Virus uns entmündigt“ vom 6.4.2020 beispielsweise. Bei der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung sprach Bolz vergangenes Jahr über die überall herrschende Meinungsdiktatur. Bemerkenswert auch sein Auftritt bei der Wissensmanufaktur in Walsrode, die mit der Ex-Tagesschau-Ex-Kopp-Nachrichten-Moderatorin Eva Herman ein in Verschwörungskreise prominentes Gesicht präsentiert.

Anmoderiert wird sein Vortrag von Robert Stein, einem „Urgestein in der alternativen Medienszene“ und Moderator von NuoVisoTV, einem Kanal, der auch den skurrilsten Theorien Raum gibt. Besonders hübsch ist eine Folge mit dem Verschwörungstheoretiker Peter Denk. Von einem guten Freund, der einen Bekannten hat, der am Flughafen Stuttgart für Aufzüge zuständig ist, weiß er das Folgende: Während einer Wartungsarbeit an einem Aufzug kam es zu einer Fehlfunktion und plötzlich befand sich der Kumpel vom Freund von Denk 200 Stockwerke unterm Stuttgarter Flughafen. „Tür ist aufgegangen: Militär.“ Das nur als kurzer Schwenk durch die Blase, in der sich Norbert Bolz hier bewegt.

Auch in Müller-Ullrichs Podcast bei der „Achse des Guten“ ist er präsent. In der Folge „Systemvertrauen unterm Angstregime“ philosophiert Bolz über die „hypersensible Weltgesellschaft“ heutzutage, „in der jeder Kranke, jeder alte Mann, der da keine Luft mehr bekommt und nicht beatmet werden kann, zum Weltereignis aufgeblasen wird von den Massenmedien“.

Auf Anfrage, wie man mit einem schießwütigen „Achgut“-Autor wie Burkhardt Müller-Ullrich umzugehen gedenke, der seine „medienkritischen“ Kumpels aus dem Broder-Umfeld zu Diskussionen im öffentlich-rechtlichen Hause einlädt, mag der SWR keine Stellung nehmen.

Appell an Mitglieder des Verteidiungsausschusses: gegen die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge für den Atomwaffeneinsatz stimmen!

Liebe Engagierte gegen die weitere Aufrüstung,

Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbaurer hat angekündigt im ersten Quartal 2020 eine Entscheidung über die Tornado-Nachfolge zu treffen.

Diese neuen Flugzeuge sollen auch für den Atomwaffeneinsatz zertifiziert werden. Das wollen wir verhindern!

Noch können wir diese Entscheidung beeinflussen – mit eurer Unterstützung. Deswegen müssen wir jetzt an die Mitglieder des Verteidigungsausschusses schreiben.

Bitte unterstützt uns und schreibt eine E-Mail an möglichst viele Abgeordnete des Ausschusses. Wenn es Abgeordnete aus eurem Bundesland oder Wahlkreis gibt, hat eure Stimme natürliche besondere Bedeutung.

Eine Liste mit den Kontaktadressen findet ihr hier.

Eine Muster-E-Mail haben wir euch auch schon vorbereitet. Natürlich wäre es toll, wenn ihr euren persönlichen Bezug einbaut oder eure eigenen Worte nutzt.

Danke für eure Hilfe!

Anne und das Team von ICAN Deutschland


Mustertext

Sehr geehrte/r Herr/ Frau – Name -,

das Verteidigungsministerium will in den kommenden Wochen eine Entscheidung zur Nachfolge für das Kampfflugzeug Tornado erwirken. Als Mitglied des Verteidigungsausschusses haben Sie bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle. Da der Tornado das einzige Trägersystem für die in Rheinland-Pfalz stationierten Atombomben der nuklearen Teilhabe ist, ist die Anschaffung der Kampfflugzeuge nicht nur eine finanziell weitreichende Entscheidung, sondern auch von langfristiger strategischer Relevanz für Deutschland und Europa. Die Modernisierung des nuklearen Trägersystems, sowie die geplante Stationierung von neuen B61-12 Atombomben in Büchel würden die erste nukleare Aufrüstung in Deutschland seit Ende des Kalten Krieges darstellen.

Nukleare Aufrüstung in Deutschland ist jedoch ein fatales Zeichen an die Staatengemeinschaft. In einer Zeit, in der wichtige Rüstungskontrollverträge wie INF und START gekündigt wurden bzw. ohne klare Verlängerungsaussichten auszulaufen drohen, ist es unerlässlich, dass Deutschland positive Impulse für Abrüstung setzt! Nuklearwaffen bedrohen die Sicherheit der Menschen in der Bundesrepublik, in Europa und der ganzen Welt. Die Atombomben in Deutschland sind zudem Waffen, die für einen völkerrechtswidrigen, nuklearen ‘Erstschlag’ geeignet sind. Sie stellen daher eine Provokation für andere Länder dar und erhöhen die Gefahr eines nuklearen Konflikts.

Ein Abbau dieser Nuklearwaffen und ein klares Bekenntnis gegen den Ersteinsatz von Nuklearwaffen wäre ein erster und wichtiger Schritt um die gegenseitige nukleare Bedrohung abzubauen und auch einen ungewollten Atomkrieg unwahrscheinlicher zu machen.

Die Bundesregierung wollte mit dem Engagement für das Iran-Abkommen und auch mit der Libyenkonferenz im Januar dieses Jahres zeigen, dass sie einer der wichtigsten und glaubwürdigsten internationalen Akteure für zivile Konfliktprävention sei. Diese Stellung als geschätzter diplomatischer Partner könnte Deutschland unserer Meinung nach ausbauen und für eine nukleare Abrüstungsinitiative nutzen. Am besten soll diese im Koalitionsvertrag von Union/SPD verankert werden. Dies würde der deutschen Sicherheit mehr dienen, als das Festhalten an der nuklearen Teilhabe aus Zeiten des Kalten Krieges.

Bitte stimmen Sie deshalb gegen die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge für den Nuklearwaffeneinsatz. Sowohl der F/A-18 Jet als auch ein für Nuklearwaffen ertüchtigter Eurofighter sind eine Bürde für den europäischen Frieden und die Sicherheit der europäischen Bürger und Bürgerinnen.

Mit freundlichen Grüßen

– Name –