Anklage gegen „Gruppe S.“ Verdächtige aus rechtsextremen Bürgerwehren

Eine Person wird einen Tag nach der Zerschlagung einer rechten Terrorzelle von Polizisten zum Bundesgerichtshof gebracht. | Bildquelle: dpa

Anklage gegen „Gruppe S.“ Verdächtige aus rechtsextremen Bürgerwehren

Quelle: Tagesschau – 12.11.2020 13:45 Uhr

Der Generalbundesanwalt hat Anklage gegen die sogenannte „Gruppe S.“ erhoben. Nach Informationen von WDR, NDR und SZ hatte der mutmaßliche Rädelsführer seine Mitstreiter dabei vor allem aus Bürgerwehren rekrutiert, vor deren Terrorpotenzial schon länger gewarnt wird.

Von Tobias Dammers, NDR, und Lena Kampf, WDR

Es ist eins der größten Ermittlungsverfahren, das das LKA Baden-Württemberg geführt hat: Für den Generalbundesanwalt (GBA) war die Sonderkommission „Valenz“ in den vergangenen Monaten teilweise mit Hunderten Beamten im Einsatz, führte 53 Durchsuchungen durch und stellte dabei mehr als 1200 Asservate sicher – darunter rund 300 Mobiltelefone, Computer oder Festplatten. Insgesamt werteten die Ermittler fast 18 Terabyte Daten aus, unter anderem rund 60 Millionen Chat- und Sprachnachrichten, Fotos oder Videos. Mehr als 50 Zeugen wurden befragt.

Nun liegt dem Oberlandesgericht Stuttgart die Anklage des GBA vor. Nach Informationen von WDR, NDR und SZ sind die Vorwürfe nach den Festnahmen im Februar im Laufe der Ermittlungen noch einmal härter geworden. Zwölf Männer werden darin beschuldigt, unter der Rädelsführerschaft von Werner S. und seiner rechten Hand Tony E. die rechtsterroristische Vereinigung „Gruppe S.“ gegründet zu haben, um Anschläge auf Moscheen, Geflüchtete und Politiker zu begehen. Ihr Ziel soll es gewesen sein, „bürgerkriegsartige Zustände“ in Deutschland auszulösen.

Geld für Waffen zugesagt

Neun der Männer gelten laut GBA als Mitglieder, einer als Unterstützer. Ein weiterer mutmaßlicher Unterstützer war im Juni in der Untersuchungshaft verstorben. Die Anklageschrift, etwa 200 Seiten stark, führt aus, dass die mutmaßliche Terrorgruppe sich im September 2019 bei einem Treffen in Alfdorf gegründet haben soll. Bei zwei weiteren Treffen soll sich der Plan der Männer, die sonst vornehmlich in verschiedenen Chatgruppen kommunizierten, konkretisiert haben.

Bei einem Treffen in Minden Anfang Februar soll über Anschläge auf Moscheen gesprochen worden sein, außerdem sagten die Männer zu, Geld für die Beschaffung von Waffen zur Verfügung zu stellen. Einer der Männer hatte sich der Polizei als Informant angeboten und umfassend über die Gruppe berichtet.

Nach Informationen von WDR, NDR und SZ waren zehn der zwölf Männer Mitglieder von Bürgerwehren, mehr als die Hälfte von ihnen wurden von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet. Aber nicht alle waren bereits auf dem Schirm der Behörden. So war Werner S. seit Jahren in der rechten Szene vernetzt. Er soll die Position des „Sergeant at Arms“ bei der Gruppe „Soldiers of Odin Germany“ innegehabt haben. Dabei handelt es sich um eine Bürgerwehr, die 2017 nach dem Vorbild eines finnischen Rechtsextremisten gegründet wurde. Sie ist die einzige Bürgerwehr, die in fast allen Bundesländern Unterabteilungen unterhält.

Viele waren bereits führend in Bürgerwehren aktiv

Werner S. war in Bayern aktiv, das dortige Landesamt für Verfassungsschutz stuft die „Soldiers of Odin“ als rechtsextremistisch ein. Auch Werner S. war dem Landesamt dort unter seinem Alias „Teutonico“ bekannt. Zudem war S. in der überregional agierenden neonazistischen Gruppierung „Freikorps“ aktiv, die jedoch nicht mehr umfassend vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Die letzte behördliche Information zum „Freikorps“ stammt aus dem Jahr 2017.

Acht weitere Mitglieder der „Gruppe S.“ waren in Bürgerwehren aktiv. Sie hatten teilweise hochrangige Führungspositionen im „Freikorps“, in der „Bruderschaft Deutschland“, „Vikings Security“, und „Wodans Erben Germania“. Sechs von ihnen wurden ebenso wie Werner S. von Verfassungsschutzbehörden beobachtet. Vier der mutmaßlichen Gruppe S. Mitglieder waren den Verfassungsschutzbehörden jedoch gänzlich unbekannt.

Rechtsextremismus kam so in bürgerliche Schichten

Die Zahl der rechten und rechtsextremistischen Bürgerwehren ist in Deutschland seit 2016 stark angewachsen – Rechtsextremisten versuchten im Zuge der Flüchtlingskrise an ein vermeintliches Gefühl der Unsicherheit der Bevölkerung anzuknöpfen, und vor Ort mit vermeintlich harmlos klingenden Spaziergängen „für Recht und Ordnung“ zu sorgen.

Experten beobachteten mit Sorge, wie dadurch der Rechtsextremismus auch in bürgerlichen Schichten anschlussfähig wurde. So sind viele Bürgerwehren heute auch bei den Corona-Protesten aktiv, zuletzt bei der Demonstration in Leipzig.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte bereits vor den „rechtsterroristischen Potenzialen“ gewarnt. Es sei oft ein fließender Übergang zu „gewalttätigem Handeln“ gegeben. Der Verteidiger von Werner S. war nicht für eine Stellungnahme zu erreichen.

Initiative „Migrantifa“ in Stuttgart gegründet – Bewusstsein für Rassismus wächst

Quelle: Kontext, Ausgabe 509 – Von Minh SchredleGesellschaft . 30.12.2020

In Hanau hat ein rassistischer Terrorist zehn Menschen ermordet. Meldungen über Rechtsextremismus im deutschen Sicherheitsapparat überschlagen sich. Als Reaktion darauf hat sich im Mai die Stuttgarter Migrantifa gegründet, die für Gefahren sensibilisieren will.

Stell Dir vor, Du wirst von Nazis bedroht und rufst die Polizei. Aber dann sind die Nazis und die Polizei ein und dasselbe. Was klingt, als wäre es der Feder eines drittklassigen Satirikers entsprungen, ist für die Anwältin Seda Başay-Yıldız bittere Realität – und beschäftigt aktuell die „New York Times“: Sie berichtet über den alarmierenden Umstand, dass Başay-Yıldız‘ private Daten, auf denen die Drohungen basieren, von einem Polizeicomputer abgerufen worden sind. Und die renommierte Zeitung ist angesichts der Fülle von Vorfällen, die das Jahr 2020 zu Tage gefördert hat, in Sorge über eine „rechtsradikale Infiltration“ des deutschen Sicherheitsapparates. Das Polizeiproblem, es hat sich überall herumgesprochen – nur in Seehofers Innenministerium noch nicht.

Anil Beşli von der Stuttgarter Migrantifa vermutet, dass es ein bisschen so ist, wie mit dem Zahnarzt, den man dringend mal wieder besuchen sollte, aber tunlichst meidet: aus Angst, dass die Befunde Entsetzliches ans Licht bringen könnten und das Ausmaß der Katastrophe die schlimmen Befürchtungen übertrifft. „Nachdem es fast jeden Tag Meldungen über rechtsextreme Chatgruppen und Polizisten beim Hitlergruß gibt“, sagt Beşli, „kann doch niemandem entgangen sein, dass bei den Behörden nicht alles in Ordnung ist.“

Da gibt es Polizeischüler, die auf dem Basketballplatz „Sieg Heil!“ rufen, aber trotzdem verbeamtet werden. Oder bereits Verbeamtete, die Bilder von Hitler als Weihnachtsmann mit begleitendem „Ho-Ho-Holocaust“ teilen, und trotzdem befördert werden – während die Folge für den Kollegen, der das Verhalten zur Anzeige brachte, eine Versetzung ist. Damit ein Problem strukturell wird, müssen nicht alle Beamten rechtsextrem sein. Es reicht, wenn die Rechtsextremen in Ruhe gelassen werden und ihre Netzwerke etablieren dürfen. „Und obwohl sich da reihenweise Fälle benennen lassen“, fragt Beşli, „will mir ein Seehofer erzählen, dass es in Deutschland kein Racial Profiling gibt?“

Aber immerhin: Die Polizei kommt ihm in der öffentlichen Debatte nicht mehr so unantastbar vor wie noch vor wenigen Jahren. „Da hat es schon eine Diskursverschiebung gegeben.“ Vieles, was in der Community altbekannt sei, sickere langsam zur Mehrheitsbevölkerung durch. Er freut sich zum Beispiel, dass es der erschütternde Skandal um Oury Jalloh – für den Rechtsstaat blamabel auf allen Ebenen – vor Kurzem in Böhmermanns Sendung geschafft hat. „Viele wollen zwar noch nicht wahrhaben, dass die Polizei ein strukturelles Problem mit Rassismus hat“, sagt der 25-Jährige. „Aber in Teilen der Bevölkerung wächst gerade das Bewusstsein dafür, welche Ausmaße das hat.“

Um dieses Bewusstsein zu schärfen, hat sich Ende Mai die Migrantifa in Stuttgart gegründet, kurz nachdem in den USA ein Polizist George Floyd brutal ermordet hatte. Nur wenige Monate zuvor gab es ein weiteres einschneidendes Ereignis, „bei dem klar wurde, wir müssen was tun“, sagt Beşli: Der rassistische Terror von Hanau, der Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovič, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kalojan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu ermordet hat. Zum Gedenktag ein halbes Jahr nach der Tat hatte die Stuttgarter Migrantifa eine Busfahrt organisiert. Doch bedingt durch steigende Corona-Fälle in Hanau, durften statt den erwarteten 3.000 bis 5.000 TeilnehmerInnen nur 249 mitmachen. „Das haben wir akzeptiert, weil wir niemanden gefährden wollen“, sagt Beşli. Aber es hat sie hart getroffen, später, bei höheren Inzidenzen, die Bilder von zehntausenden QuerdenkerInnen zu sehen, die bei der Zurschaustellung ihres Fieberwahns auf jeden Infektionsschutz gepfiffen haben.

Am 19. Februar 2021, dem Jahrestag des Terrors von Hanau, hat die Stuttgarter Migrantifa wieder eine Busfahrt geplant – und hofft darauf, dass die Corona-Lage eine Versammlung zulässt. Müßig zu erwähnen, dass dies zur Zeit problematisch ist und dementsprechend keine Massenaktionen geplant sind. In der Zwischenzeit vernetzt sich die Migrantifa mit anderen politischen Gruppierungen, erzählt Beşli, etwa der Seebrücke. Gemeinsam habe man zuletzt Spenden für Moria gesammelt.