Humanitäre Krisen: Grüße aus dem Jemen, aus Äthiopien und aus Somalia

Quelle: https://www.zeit.de/politik/familie/2022-05/humanitaere-krisen-ukraine-krieg-berichterstattung-5vor8 –  Andrea Böhm 5. Mai 2022

Humanitäre Krisen: Grüße aus dem Jemen

Die Journalistin Andrea Böhm ist im April zwei Wochen durch die Ukraine gereist und war schockiert von den Gräbern der „notdürftig verscharrter Opfer“ und den zerstörten Wohnhäusern. Sie war beeindruckt von der ukrainischen Zivilgesellschaft, „die seit Kriegsbeginn umkämpfte Städte versorgt und Evakuierungen organisiert“. Sie spürte aber auch ein „Unbehagen“ angesichts der „Trauben von Fotografen und Reporterinnen“ in Butscha und Irpin, mit der „Welle von Titelgeschichten, Sondersendungen und Schlagzeilen über diesen Krieg“. Sie selbst beschäftig sich eher mit Ländern in Afrika und Nahost. Mit jedem weiteren Tag in „Kiew, Butscha, Irpin oder Tschernihiw“ wurde ihr klarer, „welche existenziellen Krisen in diesen vermeintlich fernen Regionen nun vollends von unserem medialen Radarschirm verdrängt werden“.

Sie weist zurecht darauf hin, dass der momentan brutalste Krieg nicht in der Ukraine stattfindet, sondern in Äthiopien. Nach Schätzungen von Experten sind dort seit Ausbruch der Kämpfe zwischen Rebellen und Regierung im November 2020 500.000 Menschen getötet worden – durch Waffengewalt, absichtlich herbeigeführten Hunger oder weil die medizinische Versorgung zusammengebrochen ist.

Sie schreibt weiter: „Die größten humanitären Krisen der Welt spielen sich in diesen Monaten nicht in Osteuropa ab, sondern in Ländern wie dem Jemen oder Somalia. Im Jemen brauchen 23 Millionen Menschen, fast drei Viertel der Bevölkerung, Nothilfe, um zu überleben. In Somalia hält die längste Dürre seit Jahrzehnten an und gefährdet das Überleben von Hunderttausenden“.

Selbstkritisch reflektiert sie die „Falle“, die sie oft „am Krisenjournalismus“ zweifeln lässt: die  „Aufmerksamkeitsökonomie“, „der sich nicht nur meine Zunft, sondern auch Hilfsorganisationen unterwerfen“. Schlagzeilen wie Spendengelder seien begrenzte Ressourcen, um die mit möglichst dramatischer Sprache und emotionalisierenden Bildern konkurriert werde. Sie könne die Schlagworte selbst nicht mehr hören, die sie selbst benutze: „schlimmster Krieg“, „größte humanitäre Katastrophe“. Diese Schlagworte würden sich immer schneller abnutzen, je „schneller sich die Katastrophen häufen“

Sie empfiehlt uns Leser*innen: „Lernen Sie, die Komplexität zu lieben.“ Wenn wir begreifen würden, dass (fast) alles mit (fast) allem zusammenhängt, würde uns zum Beispiel auffallen, „dass die westlichen Staaten zwar ihre Abhängigkeit von russischen fossilen Energien zu kappen versuchen, damit aber auch einen weltweiten Run auf Erdgas und Erdöl aus anderen Quellen auslösen. Und dass Moskau sein Erdöl und Erdgas jetzt zu niedrigeren Preisen an Länder verkauft, die sich nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligen. China zum Beispiel“.

Sie beendet die Kolumne mit zwei positiven Nachrichten:  Im Jemen ist seit Anfang April ein Waffenstillstand in Kraft, der erste landesweite seit sechs Jahren. Dazu haben die UN maßgeblich beigetragen. In Äthiopien hält zwar die tödliche Belagerung der aufständischen Region Tigray durch Regierungstruppen und mit ihnen verbündete Milizen weiter an. Doch beide Seiten sind derzeit wenigstens in Gesprächen. Dazu dürften – so Andrea Böhm – die verhängten und angedrohten neue US-Sanktionen beigetragen haben.

Asow, Bandera und Co.: Was steckt hinter Putins Narrativ von „Nazis“ in der Ukraine?

https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2022/05/05/asow-bandera-und-co-was-steckt-hinter-putins-narrativ-von-nazis-in-der-ukraine/

Hintergrund von Uschi Jonas 05. Mai 2022

Asow, Bandera und Co.: Was steckt hinter Putins Narrativ von „Nazis“ in der Ukraine?

Wladimir Putin rechtfertigt seinen Einmarsch in die Ukraine damit, das Land von Faschisten befreien zu wollen – immer wieder fällt in der russischen Propaganda der Name Asow. Wir haben mit ukrainischen und internationalen Experten über den Einfluss rechtsextremer Gruppen in der Ukraine gesprochen.

Auszug:

Es bleibt schwierig, Asow und seine Mitglieder einheitlich einzuordnen. Von außen lässt sich beobachten, dass Asow 2015 das Neonazi-Symbol der Schwarzen Sonne aus seinem Logo entfernte. Mit der Wolfsangel bleibt aber dennoch ein Symbol im Wappen des Regiments bestehen, das zur Symbolik der SS gehörte. Nicht erst seit der russischen Invasion Ende Februar 2022 gibt es zudem Berichte darüber, dass Asow versucht, europaweit Kämpfer zu rekrutieren und dabei auch gezielt Neonazis anspricht und an der Waffe ausbildet. Schon seit Jahren existieren beispielsweise Verbindungen zwischen Asow und Mitgliedern der deutschen Neonazi-Kleinspartei „Der III. Weg“. Laut der Amadeu-Antonio-Stiftung soll die Partei Ausrüstung an „nationalistische Einheiten“ geliefert haben, es wird vermutet, dass Mitglieder an die Front in die Ukraine gereist sein könnten.

Welche Rolle spielt das Asow-Regiment aktuell im Krieg?

Fest steht: Asow hat einen relevanten Stellenwert im ukrainischen Militär. Das Regiment werde, sagt Bürgerrechtlerin Khromykh, als eine der modernsten und fähigsten Militäreinheiten des Landes angesehen. Vor allem auch deswegen, weil die Mitglieder viel Kampferfahrung hätten. Auch wenn Asow mit nur ein paar tausend Soldaten unter den insgesamt rund 500.000 Soldaten im ukrainischen Militär eine Minderheit darstelle, seien sie militärisch wichtig, schildert auch die Sprecherin der Amadeu-Antonio-Stiftung. Denn sie schulten andere im Kampf, verteilten Waffen an Zivilisten und seien zentral in strategische Prozesse eingebunden. Was das konkret bedeutet, lässt sich schwer prüfen. Das Regiment verteidigte wochenlang Mariupol am Asowschen Meer gegen die Angriffe Russlands.

Andere rechtsextreme und patriotische Gruppierungen in der Ukraine

Es gibt noch weitere, kleine außerparlamentarische Gruppierungen, die als nationalistisch, rechtskonservativ oder rechtsextrem eingeordnet werden. Zum Beispiel „Tradition und Ordnung“, „C14/Gesellschaft der Zukunft“, „Katechon“, die „Schwes­tern­schaft der hei­li­gen Olga“ oder „Centuria“. Sie organisieren Demonstrationen, Fackelmärsche und machen mit Gewaltaktionen auf sich aufmerksam. Khromykh sagt, „Tradition und Ordnung“ sei beispielsweise eine recht junge, patriotische Gruppierung. „Sie unterstützten aber im letzten Jahr unerwartet den berüchtigtsten russischen Lobbyisten und Geldgeber vieler pro-russischer Projekte, Viktor Medvedchuk“. „C14“ hingegen sei eine der ältesten noch aktiven rechtsradikalen Gruppen des Landes. Ihre Mitglieder würden immer wieder durch Belästigung und Diskriminierung von Roma auffällig.

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges sei es ruhig um die Gruppierungen geworden: „Keine Gruppierung, die als radikal angesehen werden könnte, hat zur Zeit irgendeinen Einfluss auf die Legislative, die Judikative oder die Exekutive“, sagt Khromykh. Und die ​​Politikwissenschaftlerin Zhurzhenko sagt, die beiden Gruppen seien klein und generell einer breiteren Öffentlichkeit in der Ukraine kaum bekannt.

Ein weiterer Baustein der Propaganda: Stepan Bandera

Eine weitere Bewegung mit dem die russische Regierung ihren Krieg rechtfertigen will sind Stepan Bandera und seine Anhänger. Bandera wurde zur Symbolfigur des Nationalismus in der Ukraine. Er war einer der Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die seit den 1930er Jahren für die Unabhängigkeit des Landes kämpfte. Bandera, 1959 vom KGB ermordet, wird von Experten als Faschist bezeichnet.

Vor dem 2. Weltkrieg sagte er laut der Bundeszentrale für politische Bildung, dass „Tausende Menschenleben geopfert werden müssen“, damit die Ukraine ein unabhängiger Staat werden könne. Um das zu erreichen waren für ihn auch Gewalt und Terror als Mittel legitim; das Land sollte außerdem von Juden, Polen, Russen und anderen „Feinden“ der Organisation „gesäubert“ werden.

Im Juli 1941 wurde er von Nazi-Deutschland verhaftet, die OUN half Deutschland dennoch bei der Ermordung von Juden in der Westukraine. Banderas Erbe ist in der Ukraine umstritten. Das Zentrum für Liberale Moderne schildert, dass auch heute noch „natio­nal­ge­sinnte Ukrai­ner“ teilweise als Bandera-Anhän­ger beschimpft würden, gleichzeitig andere die „abwer­tend gemeinte Bezeich­nung als Ehren­na­men“ für sich übernehmen würden. Vor allem im Westen des Landes werde er teilweise als Nationalheld gefeiert, jedes Jahr würden Nationalisten mit Märschen den Geburtstag Banderas feiern.

Auch gibt es im Land zahlreiche Denkmäler für Bandera, Straßen sind nach ihm benannt und der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, legte 2015 Blumen an seinem Grab nieder. 

Im Osten des Landes sähen hingegen viele Menschen Bandera als Nazi-Kollaborateur, schildert der schwedische Historiker Per Anders Rudling der ARD. Er bezeichnet das Bild von Bandera in der Ukraine als „verklärt“. Man könne ihn und seine Bewegung als faschistisch und „stark am Holocaust beteiligt“ bezeichnen. Andere Experten geben zu bedenken, dass dem Kult um die Person Banderas ein zu hoher Stellenwert zugeschrieben werde. In den vergangenen Jahren werde der Kult um ihn im Land zunehmend hinterfragt, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung.

Der Einfluss rechtsextremer Gruppen ist in der Ukraine in den vergangenen Jahren gesunken

Der Einfluss rechtsextremer Gruppierungen sei in den vergangenen Jahren insgesamt eher gesunken, sagt die Sprecherin der Amadeu-Antonio-Stiftung: „2014 gab es noch mehr rechtsextreme Unterwanderung, vor allem im Militär, die aber auch versuchten, nach politischer Macht zu greifen“. Inzwischen stellten die Rechtsextremen in der Gesellschaft der Ukraine aber eine deutliche Minderheit dar.

Zu einer etwas anderen Einschätzung kam im Jahr 2020 noch die NGO Freedom House in einem Spezialbericht. Dort heißt es, der Krieg im Osten des Landes habe eine neue gesellschaftliche Legitimität für rechtsextreme Gruppen geschaffen. Viele junge Menschen hätten sich rechten paramilitärischen Gruppen zugewandt, da sie in der Mitgliedschaft die Möglichkeit gesehen hätten, „das ukrainische Heimatland gegen vermeintliche innere Feinde zu verteidigen“.

Nationalistisch eingestellt sein bedeute in der Ukraine vor allem, die Unabhängigkeit des eigenen Landes zu bewahren, und sei eher Patriotismus als ein ausschließender Nationalismus, sagt Osteuropa-Experte Härtel. Auch die Tatsache, dass Militarismus im Land zugenommen habe, müsse man immer vor dem Hintergrund des Krieges von 2014 einordnen. Deshalb findet es der Osteuropa-Experte eher überraschend, dass Radikale in der Ukraine keine stärkere Rolle spielten.

Im Bericht von Freedom House heißt es weiter, Petro Poroschenko, ukrainischer Präsident von 2014 bis 2019, habe mit Slogans wie „Armee, Sprache, Glaube!“ Patriotismus in der Gesellschaft befeuert. Die Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten im April 2019 habe jedoch einen Wendepunkt markiert. Bereits in den ersten Monaten nach seinem Amtsantritt seien weniger Aktivitäten der extremen Rechten beobachtet worden, was sich beispielsweise am Rückgang gewalttätiger Vorfälle messen lasse, so Freedom House. Für die Menschen in der Ukraine zählt aktuell wohl vor allem, dass das Asow-Regiment helfe, Städte wie Mariupol erneut gegen den russischen Angriff zu verteidigen, sagt Politikwissenschaftlerin Zhurzhenko.

Redigatur: Matthias Bau, Tania Röttger

Wurde die „Moskwa“ mit Hilfe amerikanischer Geheimdienstinformationen versenkt?

Quelle: FAZ-online https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wurde-ein-russisches-schiff-mit-hilfe-washingtons-versenkt-18011511.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Amerikanische Geheimdienste: Wurde ein russisches Schiff mit Hilfe aus Washington versenkt?

Sofia Dreisbach, Politische Korrespondentin der F.A.Z für Nordamerika mit Sitz in Washington berichtet in einem online-Artikel vom 6.5.2022 über Geheimdienstinformationen der Vereinigten Staaten, die den ukrainischen Streitkräften laut amerikanischen Medienberichten bei der Versenkung des russischen Raketenkreuzers „Moskwa“ geholfen haben sollen. Der Sender NBC – unter Berufung auf Regierungsbeamte -, dass Kiew die Vereinigten Staaten um Informationen über ein im Schwarzen Meer kreuzendes Schiff gebeten habe. Die amerikanischen Geheimdienste hätten das Schiff daraufhin als „Moskwa“ identifiziert und seine Position weitergegeben. Man habe jedoch nicht gewusst, dass die Ukraine das Schiff angreifen werde. Schon vor der Nachricht über die „Moskwa“ hatte die „New York Times“ berichtet, amerikanische Geheimdienste hätten die Ukraine mit Informationen versorgt, die unter anderem dazu genutzt worden seien, zwölf russische Generäle zu lokalisieren und zu töten. Laut Deisbach dementierte Pentagon-Sprecher John Kirby dies am 5. Mai 2022. Kirby räumte aber ein, Kiew kombiniere Informationen, „die wir und andere Partner zur Verfügung stellen“ mit eigenen Informationen. Dann treffe es seine eigenen Entscheidungen. Es würden jedoch durchaus „nützliche Informationen zeitnah“ zur Verfügung gestellt. Was genau das bedeutet, führte Kirby nicht weiter aus.

Dreisbach führt im Artikel weiter aus: „Für die amerikanische Regierung sind diese Berichte heikel. Seit Kriegsbeginn hebt sie hervor, dass die Vereinigten Staaten nur Hilfe leisteten, die der Ukraine bei ihrer Verteidigung hilft. … . Jetzt wird befürchtet, Russland könne es als Rechtfertigung für direkte Vergeltungsmaßnahmen nutzen, dass Washington Informationen bereitstellt, die bei Angriffen verwendet werden. Das Nachrichtenportal „Axios“ berichtete – so Dreisbach – am Freitag, EU-Beamte hätten vor einer „unangemessenen Kommunikation“ über Geheimdienstinformationen gewarnt. Das könne eine „unerwartete Reaktion“ hervorrufen. Man müsse, zitiert „Axios“, Vorsicht walten lassen bei dem, was man tue und sage, „für die Sicherheit der Militäroperationen vor Ort“ und weil man keinen Krieg mit Russland wolle.

Botschafter Melnyk – das Asow-Regiment und Stepan Bandera

Halten Sie Ihre linke Klappe“: Ukraine-Botschafter irritiert mit Aussagen zu Asow-Regiment334.349 Aufrufe – 22.03.2022 FOCUS Online  –

#Asow #Russland #Ukraine Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, steht derzeit wegen rechten Aussagen in der Kritik. Auf Twitter verteidigte er das rechts-nationalistische Asow-Regiment der ukrainischen Armee. Auf seine streitbaren Thesen angesprochen, teilt der Botschafter gegen vermeintlich linke Positionen aus. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, ist für seine streitbaren Aussagen zum Ukraine-Krieg bekannt.

Zuletzt fiel Melnyk auch mit fragwürdigen, rechten Aussagen auf. Auf Twitter sprang er dem ultra-rechten Asow-Regiment bei, das für das ukrainische Innenministerium im Krieg kämpft: „Lassen Sie doch endlich das Asow-Regiment in Ruhe.“ Das Asow-Regiment steht bereits seit der russischen Annexion der Krim wegen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in der Kritik. Doch Melnyk verweist lieber auf die Situation in Deutschland. Er kommentiert: „Leute, kümmert euch lieber um eure eigenen Rechtsradikalen.“

Der Linken-Politiker Fabio de Masi warf Melnyk vor, sich die Welt zurecht zu lügen. De Masi warnt vor den faschistischen Umtrieben des Regiments. Die Kritik stößt bei Melnyk auf taube Ohren: „Halten Sie lieber Ihre linke Klappe“ Auch in Deutschland erfährt das Asow-Regiment Unterstützung. Die rechtsextreme Kleinstpartei „Der III. Weg“ unterstützt die Kämpfer. Unter dem Motto „Nationalisten helfen Nationalisten“ suchte die Partei auf Telegram Unterkünfte für Asow-Mitglieder.

Kontroverse: Offener Brief an Kanzler Olaf Scholz –

Harald Welzer und Jagoda Marinic über den offenen Brief an Kanzler Scholz | 02.05.2022 – 5.890 Aufrufe – 02.05.2022


Streitgespräch zwischen Alice Schwarzer und Anton Hofreiter um den Offenen Brief der 28 an Bundeskanzler Olaf Scholz80.056 Aufrufe – 01.05.2022


Offener Brief an Kanzler Olaf Scholz

Der Brief im Wortlaut

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

wir begrüßen, dass Sie bisher so genau die Risiken bedacht hatten: das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine; das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges. Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.

Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.

Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.

Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.

Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben. Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.

Wir sind, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungschef von Deutschland entscheidend zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in Anbetracht unserer historischen Verantwortung – und in der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft.

Wir hoffen und zählen auf Sie!
Hochachtungsvoll

DIE ERSTUNTERZEICHNERiNNEN

Andreas Dresen, Filmemacher
Lars Eidinger, Schauspieler
Dr. Svenja Flaßpöhler, Philosophin
Prof. Dr. Elisa Hoven, Strafrechtlerin
Alexander Kluge, Intellektueller
Heinz Mack, Bildhauer
Gisela Marx, Filmproduzentin
Prof. Dr. Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph
Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler
Reinhard Mey, Musiker
Dieter Nuhr, Kabarettist
Gerhard Polt, Kabarettist
Helke Sander, Filmemacherin
HA Schult, Künstler
Alice Schwarzer, Journalistin
Robert Seethaler, Schriftsteller
Edgar Selge, Schauspieler
Antje Vollmer, Theologin und grüne Politikerin
Franziska Walser, Schauspielerin
Martin Walser, Schriftsteller
Prof. Dr. Peter Weibel, Kunst- und Medientheoretiker
Christoph, Karl und Michael Well, Musiker
Prof. Dr. Harald Welzer, Sozialpsychologe
Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist
Juli Zeh, Schriftstellerin
Prof. Dr. Siegfried Zielinski, Medientheoretiker


(Freundliche) Kommentierungen

https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/offener-brief-an-olaf-scholz-der-geist-und-die-geisterfahrer

Offener Brief an Scholz: Der Geist und die Geisterfahrer

Kampagne Für Prominente wie Alice Schwarzer, Martin Walser, Lars Eidinger und andere besteht derzeit die höchste moralische Verantwortung darin, einen Weltkrieg zu verhindern. Sie haben es verdient, nicht diffamiert zu werden – Lutz Herden 149


https://www.freitag.de/autoren/raul-zelik/debatte-um-waffenlieferungen-denkbar-schlechte-verbuendete

Debatte um Waffenlieferungen: Denkbar schlechte Verbündete

Ukraine-Krieg Linksliberale und Grüne überschlagen sich plötzlich mit Forderungen nach Waffenlieferungen in die Ukraine. Für den Kampf gegen autoritäre Regime ist das aber eine intellektuelle Bankrotterklärung – Raul Zelik


https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-neo-bellizisten-wollen-von-eskalation-nichts-wissen

Die neuen Schlafwandler: Neo-Bellizisten wollen von Eskalation nichts wissen

Waffenlieferungen Ob Justizminister Marco Buschmann oder Grünen-Politiker Anton Hofreiter – viele fordern die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Doch wie die Neo-Bellizisten das Risiko einer katastrophalen Eskalation nonchalant übersehen, macht Angst

Christoph Schwennicke | Ausgabe 17/2022


 https://www.spiegel.de/politik/olaf-scholz-und-der-ukraine-krieg-interview-es-darf-keinen-atomkrieg-geben-a-ae2acfbf-8125-4bf5-a273-fbcd0bd8791c

Bundeskanzler Scholz im SPIEGEL- »Es darf keinen Atomkrieg geben«

»Was noch verfügbar gemacht werden kann, liefern wir auf jeden Fall«: Im SPIEGEL verspricht Bundeskanzler Scholz weitere Waffen für die Ukraine. Er sagt auch, warum er in dieser Krise zögerlich agiert und welche Fehler die SPD in ihrer Russlandpolitik gemacht hat.

Ein SPIEGEL-Gespräch von Melanie Amann und Martin Knobbe – 22.04.2022, 16.59 Uhr • aus DER SPIEGEL 17/2022