Quelle: Blog Klaus Moegling
2.10.2022
Welchen Einfluss kann die UNO noch auf den Krieg in der Ukraine nehmen?
von Klaus Moegling
Wann wollen die Vereinten Nationen endlich eingreifen? Der Krieg in der Ukraine eskaliert täglich. Völkerrechtswidrige Annexionen, Angriffe auf die kritische Infrastruktur, eine große Zahl ziviler Tote und die wachsende Gefahr eines nuklearen Desasters droht (Angriffe auf AKWs, Einsatz von Nuklearwaffen). Will oder kann die UNO nicht eingreifen?
Jetzt wäre es höchste Zeit, vielleicht noch die letzte Möglichkeit, im Krieg in der Ukraine einen entscheidenden Vermittlungsversuch durch den UN-Generalsekretär, unterstützt von einflussreichen Kräften, u.a. der VR China, vorzunehmen. Das Ziel müsste zunächst ein Waffenstillstand, die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone entlang eines zu vereinbarenden ukrainischen Gebiets und schließlich ein von beiden Seiten akzeptierter massiver Einsatz von UN-Polizeitruppen unterschiedlicher Staaten in diesem Grenzgebiet sein. Hiernach könnte unter Vermittlung des Generalsekretärs der UN und der OSZE ein Friedensvertrag innerhalb einer europäischen Sicherheitsarchitektur geschlossen werden. [1]
Doch warum handelt die UNO nicht erkennbar? Oder ist sie doch im Zuge einer Hintertür- und Brückendiplomatie wirkungsvoll tätig?
Das Dilemma der UNO
Als der Vertreter Russlands bzw. der Russischen Föderation im UNO-Sicherheitsrat, Wassili Nebensja, am 25.2.2022 sein Veto gegen eine Resolution einlegte, die sich gegen den russischen Angriff in der Ukraine richtete, wurde die Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen erneut sehr deutlich. Wie kann einem angreifenden Staat, der ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der UNO ist, erlaubt werden, die Verurteilung und Maßnahmen in Bezug auf seine eigene militärische Aggression mit einem Veto zu blockieren? Eine solche Vorgehensweise ist absurd. Diese Möglichkeit zum Veto der Russischen Föderation widerspricht moralisch fundierten Gerechtigkeitsnormen und ist Ausdruck der inzwischen historisch überholten Machtverhältnisse zum Ende des 2. Weltkrieges.
Wie wichtig wäre hier zumindest eine Reform des Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat, der gerade dies verhindern könnte. Im Falle einer militärischen Aggression eines Veto-berechtigten Sicherheitsratsmitglieds, seien es nun Russland, die USA oder beispielsweise China, müsste dieser Staat auf Antrag des UNO-Generalsekretärs oder eines Mitgliedsstaates des Sicherheitsrats von der ihn betreffenden Abstimmung ausgeschlossen werden.
Auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen forderte der ukrainische Präsident Selenskyj dementsprechend eine Bestrafung Russlands für dessen Angriff, die u.a. auf die Wegnahme auch der russischen Sonderrechte in den UN abzielte – so Selenskyj am 21.2.2022:
„Nehmt das Stimmrecht weg! Entzieht den Delegationen ihre Privilegien! Hebt das Vetorecht auf, wenn es sich um ein Mitglied des UN-Sicherheitsrats handelt!“ [2]
Zwar gab es Anfang März 2022 bereits eine spätere Verurteilung der russischen Aggression in der damaligen als Dringlichkeitssitzung einberufenen UN-Vollversammlung, bei der keine Blockade durch ein Veto eines Mitgliedsstaats möglich ist. 141 Mitgliedsstaaten verurteilten den russischen Angriff auf die Ukraine und forderten die Russische Föderation auf, den Angriff zu stoppen und die Truppen zurückzuziehen. Die fünf Gegenstimmen kamen von Russland, Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien. China, Indien und der Iran zählten zu den 35 Staaten, die sich enthielten. [3] Die Mehrheit in der UNO-Generalversammlung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Beschlüsse nur einen Empfehlungscharakter haben und völkerrechtlich nicht verbindlich sind. [4]
Einschneidende Reformen der Vereinten Nationen
Wenn die UNO demokratisch strukturiert sein und die UN-Vollversammlung das zentrale Organ sein sollte, dann müssten, fasst man entsprechende Reformvorschläge zusammen[5], insbesondere fünf Reformmaßnahmen ergriffen werden:
- Die UNO-Vollversammlung dürfte – langfristig gesehen – nicht mehr aus delegierten Vertretern und Vertreterinnen der einzelnen Regierungen bestehen, sondern die Mitglieder müssten in globalen, demokratischen Wahlen ermittelt werden.
- Eine demokratisch gewählte UNO-Vollversammlung, also ein UN-Parlament, müsste mit unterschiedlichen, qualifizierten Mehrheiten verbindliche Entscheidungen fällen können, welche die Haupt-, Neben- und Sonderorganisationen – also auch der UNO-Sicherheitsrat – auszuführen haben. Hierbei käme dem UN-Generalsekretariat und dem/r Generalsekretär/in eine koordinierende und kontrollierende Rolle hinsichtlich der verschiedenen exekutiven Institutionen zu.
- Alle UNO-Sicherheitsratsmitglieder werden von der UN-Vollversammlung gewählt, ohne dass es ständige Mitglieder und ein Veto-Recht für diese Mitglieder gibt. Die Befugnisse des UNO-Sicherheitsrats werden dann zukünftig nur noch im Bereich der Beratung und der Vorbereitung einer exekutiven Umsetzung der von der Vollversammlung gefällten Entscheidungen liegen.
- Alle UNO-Mitglieder – auch Staaten wie die USA, Russland oder China – haben sich der UNO-Gerichtsbarkeit zu unterwerfen.
- Die weltpolizeiliche Funktionen und Möglichkeiten der UN-Polizeikräfte und der UN-Blauhelme sind im Rahmen einer globalen Sicherheitsarchitektur zu stärken. [6]
Derartige Reformen bedürfen nach geltendem Recht einer Veränderung der UN-Charta. So wäre für die Reform des UN-Sicherheitsrats, z.B. für die Veränderung oder gar die Abschaffung des Veto-Rechts, eine Zweidrittelmehrheit in der UNO-Vollversammlung notwendig. Anschließend müsste die beabsichtigte Änderung der UN-Charta von zwei Dritteln der Mitgliedsstaaten einschließlich der fünf ständigen Mitglieder entsprechend deren nationaler Bestimmungen ratifiziert werden. [7]
Hier ließe sich leicht (und auch vorschnell) argumentieren, dass keine der Veto-berechtigten Staaten bereit wäre, ihren privilegierten Einfluss zu verlieren. Doch die Gefährlichkeit bereits eingetretener und drohender globaler Krisen könnte hier zu einem Einlenken und zur Reformbereitschaft führen. Auch die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind von Kriegen, Pandemien und Umweltkatastrophen betroffen.
So schwierig eine derart radikale Reform der UNO derzeit erscheint, darf sie daher nicht im Zuge eines verkürzten politischen Realismus im Vorhinein verworfen werden. Nur wenn konsequente Reformvorstellungen entwickelt werden, können die ersten umsetzbaren Schritte systematisch in diese Richtung vorgenommen werden. Maßgebliche UN-Vertreter, wie z.B. der UN-Generalsekretär António Guterres [8], und zahlreiche Parlamentarier sowie transnationale Parlamente, wie z.B. das EU-Parlament, [9] denken bereits in diese Richtung und fordern erste Schritte einer einschneidenden Reform der Vereinten Nationen ein. Auch der ukrainische Präsident Selenskyj fordert über die Umstrukturierung des Sicherheitsrats hinaus gravierende Veränderungen der Vereinten Nationen auf der strukturellen Ebene, die auf einer zukünftig in Kiew stattfindenden internationalen Konferenz entwickelt werden sollten – so Selenskyj im Rahmen der Generaldebatte der 77. UN-Vollversammlung: „Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um der nächsten Generation eine effektive UN zu übergeben.“ [10]
Doch unabhängig von der Diskussion über notwendige Reformen der Vereinten Nationen: Wie handlungsfähig ist die UNO im Rahmen der bereits vorhandenen Strukturen, wenn eine weltpolitische Katastrophe, wie der russische Überfall auf die Ukraine, eintritt? Sind sie völlig machtlos bei einem Krieg, der von einem ständigen Mitglied ihres Sicherheitsrates begonnen wird? Haben sie hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine bisher nichts oder nur wenig erreichen können?
Zur Wirksamkeit der UNO-Interventionen im Krieg in der Ukraine
Die Maßnahmen und begrenzten Möglichkeiten im UN-Sicherheitsrat – Blockade durch das Veto-Recht – und für die UNO-Vollversammlung – keine völkerrechtlich verbindliche Relevanz sicherheitspolitischer Beschlüsse – wurden bereits skizziert.
Daher sollen insbesondere die Vermittlungsbemühungen des UNO-Generalsekretariats genauer analysiert und eingeordnet werden.
Hierzu äußerte der UN-Generalsekretär António Guterres während eines im zeitlichen Kontext der 77. UN-Vollversammlung durchgeführten Interviews seine eindeutige Einschätzung des russischen Angriffskriegs, sprach aber gleichzeitig auch die begrenzten Möglichkeiten der UN an:
„Die russische Invasion war eine Verletzung der Charta der Vereinten Nationen und des internationalen Rechts, und wir haben klar zum Ausdruck gebracht, dass diese Tatsache dramatische Konsequenzen hat. Zugleich organisieren wir die humanitäre Hilfe für die Ukraine und umliegende Staaten. Und wir sind fest entschlossen, eine Lösung für die Ernährungskrise zu finden. Leider sind wir nicht in der Lage, diesen Krieg zu stoppen.“ [11]
Hinsichtlich einzelner Maßnahmen des UN-Generalsekretariats sind also zunächst die Getreideexporte aus der Ukraine zu nennen. Russland und die Ukraine haben im Juli 2022 über die Vermittlung des UN-Generalsekretärs in der Türkei ein Abkommen unterzeichnet, das die Auslieferung von Millionen Tonnen Getreide aus den drei Häfen Odessa, Tschornomorsk und Juschne zukünftig ermöglichen sollte. Die Ukraine verpflichtete sich, den Seeweg von Minen zu räumen und Russland sagte u.a. zu, Transportschiffe mit landwirtschaftlichen Produkten aus der Ukraine, wie z.B. Getreidetransporte, nicht anzugreifen.
Im Gegenzug unterzeichnete Guterres ein Memorandum, bei dem sich die UN verpflichtet, sich für den Export russischer landwirtschaftlicher Produkte sowie von Düngemitteln einzusetzen. [12] Auch wenn diese Maßnahmen recht zögerlich begannen [13] und auch Russland bereits schon wieder über die Blockade der Getreidelieferungen Andeutungen gemacht hat, zeigte sich hier, dass der UNO ein Verhandlungserfolg gelungen ist, der nicht nur für die Ukraine sondern auch für andere von Hunger betroffene Weltregionen eine große Bedeutung hat.
Die UNO will des Weiteren in diesem Zusammenhang ein Koordinationszentrum einrichten, um die Umsetzung der vertraglichen Vereinbarungen zu überwachen. [14]
Ein weiteres Vermittlungsprojekt der Vereinten Nationen in der Ukraine bezieht sich auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja, das bereits mehrfach mit schwerer Artillerie und Raketen beschossen wurde. Um eine nukleare Katastrophe zu vermeiden wurde das seit März von der russischen Armee besetzte AKW immer wieder abgeschaltet. Der russische Vertreter im UN-Sicherheitsrat, Wassili Nebensja, warf während einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats vom 23.8.2022 der Ukraine vor, das AKW fast täglich zu beschießen und eine nukleare Katastrophe in Kauf zu nehmen. [15] Die Ukraine hingegen beschuldigte das russische Militär, für den Beschuss verantwortlich zu sein.
Die Untergeneralsekretärin der Vereinten Nationen, Rosemary DiCarlo, rief beide Staaten auf, jegliche militärische Aktivität um das Kernkraftwerk einzustellen und einer Expertengruppe der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) die Inspektion des AKWs zu ermöglichen. Inzwischen hat bekanntlich die IAEA-Expertengruppe das größte Atomkraftwerk Europas besucht und einen umfassenden Bericht vorgelegt. Dieser Bericht verweist auf die gefährliche Situation in Saporischschja. Der Generaldirektor der IAEA, Rafael Grossi, warnte im Juli 2022 vor dem UN-Sicherheitsrat, als er dort die Einschätzung des IAEA-Experten-Teams vortrug:
„Wir spielen mit dem Feuer und etwas sehr, sehr Katastrophales könnte passieren.“ [16]
Grossi forderte eine entmilitarisierte Schutzzone um das AKW herum. Guterres betonte, dass sich russische und ukrainische Streitkräfte verpflichten müssten, weder vom Werksgelände aus noch in Richtung des Werksgeländes militärische Aktivitäten zu entwickeln.
Inzwischen fand allerdings erneuter Beschuss des AKW-Geländes statt, für den sich wiederum beide Seiten verantwortlich machten.
Die russische Regierung zeigte zunächst ihr Desinteresse hinsichtlich weiterer Vermittlungsangebote der UN. So verweigerte Putin wochenlang dem UN-Generalsekretär eine Begegnung. Nicht einmal telefonieren wollte er mit ihm. Erst im April fand eine Begegnung im Kreml statt, wo die russische Regierung Guterres deutlich machte, dass sie nicht an Friedensverhandlungen oder einem Friedensplan interessiert seien. Man könne aber über humanitäre Angelegenheiten sprechen. Im Zuge dieser Gespräche erreichte Guterres den Abzug der letzten ukrainischen Kämpfer aus dem Stahlwerk Asow in Mariopol, was allerdings dann auch den Russen die vollständige Kontrolle über die Stadt ermöglichte. [17]
Guterres setzte ein weiteres Zeichen und forderte des Weiteren zu Beginn der Generaldebatte der 77. UN-Vollversammlung, dass den Ölunternehmen, die während des Kriegs in der Ukraine zusätzliche Gewinne erzielt hätten, eine Übergewinnsteuer abgezogen werden sollte.
Auch dies wäre m.E. sicherlich eine sinnvolle Maßnahme, würde allerdings ebenfalls nicht den Krieg in der Ukraine eindämmen helfen. [18]
Eine weitere Maßnahme der Vereinten Nationen – neben verschiedenen humanitären Maßnahmen in der Ukraine und benachbarten Staaten – ist die Untersuchung einer UN-Menschenrechtskommission, die vereinzelte Verbrechen ukrainischer Soldaten und deutlich massivere Verstöße russischer Soldaten, u.a. Vergewaltigungen, Anwendung von Folter und Erschießungen sowie systematischer Bombardierungen ziviler Objekte mit zahlreichen Toten, ermittelte. [19] Diese Untersuchung ist ein weiterer Hinweis auf das moralisch illegitime Vorgehen insbesondere der Russischen Föderation, das durch keine der von ihr vorgebrachten Legitimationen der „militärischen Spezialoperation“ gedeckt ist.
Der Krieg in der Ukraine tobt – trotz der UNO-Vermittlungsbemühungen – weiter, Menschen werden getötet, Infrastruktur zerstört und die Umwelt massiv belastet. Eine weitere Eskalation ist möglich. Ein nuklear ausgetragener Krieg ist nicht ausgeschlossen. Der Welt fehlt immer noch ein handlungsfähiges friedenspolitisches Organ, das diese Destruktion beenden könnte.
Die UN ist bisher nur erfolgreich im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten
Die UNO ist noch immer ein Ort, an dem über Verletzungen des Völkerrechts, wie dem russischen Überfall auf die Ukraine, öffentlich diskutiert werden kann. Hierdurch wird durch die Behandlung der militärischen Aggression im UN-Sicherheitsrat und in der UN-Vollversammlung eine kritische Weltöffentlichkeit hergestellt. Möglicherweise ist diese symbolische Handlung im Kontext einer Weltöffentlichkeit derzeit noch die wichtigste Funktion der Vereinten Nationen zumindest aus der Sicht des Westens in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Allerdings machte die UN-Generaldebatte auch deutlich, dass den afrikanischen oder lateinamerikanischen Staaten der Krieg in der Ukraine nicht prioritär ist und für sie andere Probleme, wie z.B. die mangelnde Unterstützung durch westliche Staaten sowie die Klimakrise, eher von Interesse sind. [20]
Das UN-Generalsekretariat hat im Zuge seiner Hintertür-Diplomatie und offizieller Vermittlungsangebote hinsichtlich verschiedener durch den russischen Krieg in der Ukraine ausgelösten Gefahren zumindest Teilerfolge erzielt. Daher kann man nicht von einem Totalversagen der UN im Krieg in der Ukraine sprechen. Der UN gelingt das weitgehend, was mit großem Einsatz im Rahmen ihrer bisherigen Strukturen möglich ist.
Guterres erste singuläre Erfolge als Brückenbauer für die UNO und erste Vermittlungserfolge im Krieg in der Ukraine – so wichtig sie sind – täuschen daher nicht darüber hinweg, dass die UNO nicht mächtig und handlungsfähig genug ist, einen derartigen Konflikt präventiv zu verhindern oder im Falle des Kriegsausbruchs einzudämmen und zu beenden.
Diese strukturelle Unzulänglichkeit der UN zeigt sich – hierauf soll deutlich hingewiesen werden – nicht zum ersten Mal. Auch UN-Vermittlungsversuche gegen die militärischen Aggressionen und Angriffskriege der USA, wie z.B. in Vietnam oder im zweiten Irak-Krieg, scheiterten. Die UNO konnte keine Resolution gegen den US-amerikanischen Krieg in Vietnam durchsetzen, obwohl die völkerrechtliche Schuldfrage eindeutig zulasten der USA zu beantworten war. [21] Der zweite Irak-Krieg (2003) wurde federführend durch die USA ohne eine dies eindeutig legitimierende Resolution der Vereinten Nationen begonnen. Im Gegenteil: Der Angriff gegen den Irak in 2003 wurde vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan als illegal und somit völkerrechtswidrig eingestuft. [22] In beiden historischen Beispielen waren die UN letztlich handlungsunfähig, der US-Aggression vorzubeugen bzw. diese einzudämmen oder sogar zu verhindern.
Ohne einschneidende strukturelle Reformen werden daher die Vereinten Nationen ihre weltpolitische Rolle hinsichtlich ihrer 17 Nachhaltigkeitsziele nicht einnehmen können. Es gilt die UN zu demokratisieren und sie gleichzeitig zu stärken. Der erste Schritt wäre die Abschaffung des Veto-Rechts für angreifende ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Doch hierbei dürfen die Reformmaßnahmen nicht stehenbleiben. Erste Signale für eine Reform der Vereinten Nationen waren auf der 77. Vollversammlung der UN wahrzunehmen. Diese Impulse gilt es aufzugreifen. Die UNO wird andernfalls ein erheblich blockierter internationaler Akteur bleiben, und wird die notwendigen Maßnahmen nicht ergreifen können, die global zur Beseitigung schwerwiegender Krisen notwendig sind. Dies bezieht sich u.a. auf die Bekämpfung der Klimakrise, auf die Beseitigung des Welthungers sowie auf die Beendigung von Kriegen – alles für die Menschheit existenzielle Anlässe, über eine neue Rolle der UNO und über radikale Reformen der UN-Charta ernsthaft nachzudenken und zu verhandeln.
UN-Initiativen im letzten Moment?
Und dennoch: Die berechtigte Forderung nach strukturellen Reformen der UN, um welche die globale Gemeinschaft nicht herumkommen wird, darf nicht davon ablenken, dass jetzt (!) Lösungen gefragt sind. In dieser Entwicklungsphase des Kriegs in der Ukraine, die in kurzer Zeit zu einem nuklear ausgetragenen Krieg eskalieren kann, ist der unmittelbare Einsatz der UN gefragt, um den eskalierenden Krieg in einem ersten Schritt zunächst einzufrieren. [23]
Der Vorschlag des mexikanischen Außenministers, Marcelo Ebrard Casaubon, vorgebracht auf der 77. UN-Vollversammlung, enthält eine Chance, diesen Krieg zu beenden. Casaubon schlug vor, dass UN-Generalsekretär António Guterres aufgrund der Lähmung des UN-Sicherheitsrats zusammen mit hochrangigen internationalen Persönlichkeiten, wie z.B. dem indischen Premierminister Narendra Modi und Papst Franziskus, eine Kommission bildet, die mit den Regierungsspitzen der Ukraine und der Russischen Föderation verhandelt. Mexiko sei bereit, einen diplomatischen Kanal zu den Konfliktparteien zu öffnen, um diese Verhandlungen zu ermöglichen. [24]
Dem mexikanischen Vorschlag wäre aus meiner Sicht hinzuzufügen, dass in diese Verhandlungskommission dringend auch ein hochrangiger Vertreter der VR China hineingehört. Dies müsste der chinesische Staatspräsident Xi Jinping oder der chinesische Außenminister sein, um zu gewährleisten, dass die russische Führung die Folgen einer weiteren Eskalation auch für das Verhältnis zu China mit bedenkt. Das Verhandlungsgewicht der VR China dürfte für einen Erfolg der Kommission entscheidend sein.
Des Weiteren ist m.E. die Generalsekretärin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Helga Maria Schmid (Österreich) in die Verhandlungskommission aufzunehmen, die 57 Mitgliedsstaaten und 11 Partnerstaaten repräsentiert und eine hohe Legitimation für eine Interessenabwägung zwischen den Kriegsparteien hat.
Inzwischen ist der Krieg in der Ukraine in eine weitere Eskalationsstufe eingetreten. Russland hat vier eingenommene ostukrainische Gebiete in die russische Föderation eingegliedert, also völkerrechtswidrig annektiert. Gleichzeitig erklärte Putin, dass diese annektierten Gebiete bei zukünftigen ukrainischen Angriffen nun unter dem atomaren Schutzschirm Russlands stünden (Putin: „Dies ist kein Bluff!“). [25]
Das Damokles-Schwert eines Nuklearkriegs schwebt über Europa: Was wird passieren, wenn das ukrainische Militär die russischen Streitkräfte auf den vier annektierten ostukrainischen Provinzen angreift? Auch Angriffe auf die kritische Infrastruktur nehmen zu. Die Sprengung der beiden Nordstream-Pipelines ist ein Ausdruck hiervon. Der mehrfache Beschuss des größten europäischen Kernkraftwerks gehört ebenfalls hierzu. Ein Super-GAU im AKW Saporischschja würde Tschernobyl in seiner destruktiven Wirkung deutlich übertreffen. Umso wichtiger wäre ein solcher Vorstoß im Sinne des mexikanischen Vorschlags unter Führung des UN-Generalsekretärs, den Krieg in der Ukraine zunächst zu deeskalieren und anschließend im anfangs beschriebenen Sinne zu beenden.
(Der Beitrag ist in einer früheren Version in der Zeitschrift ‚Telepolis‘ erschienen und stellt eine weiterentwickelte und aktualisierte Fassung dar. Quelle: https://www.heise.de/tp/features/UNO-und-Ukraine-Totalversagen-oder-Erfolg-der-kleinen-Schritte-7273618.html, 25.9.2022, entnommen am 30.9.2022.)
Anmerkungen:
[1] Dies entspricht zusammen gefasst den Schritten des italienischen Friedensplans vom Frühjahr. Vgl. ausführlicher zu den verschiedenen Stufen des italienischen Friedensplans bei Moegling, Klaus (2022): Russlands Krieg gegen die Ukraine: Vier Schritte nur zum Frieden? In: Telepolis,https://www.heise.de/tp/features/Russlands-Krieg-gegen-die-Ukraine-Vier-Schritte-nur-zum-Frieden-7132665.html?seite=2, 6.6.2022, 6.6.2022.
[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/international-krieg-gegen-die-ukraine-so-ist-die-lage-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220922-99-853202, 22.9.2022, 2.10.2022.
[3] https://unric.org/de/generalversammlung-verurteilt-russlands-ueberfall-mit-grosser-mehrheit-nur-fuenf-gegenstimmen/, 2.3.2022, 14.9.2022.
[4] Dies gilt auch für eine Dringlichkeitssitzung der UNO-Generalversammlung im Sinne des ‚Uniting for Peace‘, deren Beschlüsse einen durchaus symbolischen Wert, aber letztlich auch nur einen Empfehlungscharakter haben.
[5] Vgl. zur weitergehenden Vorstellung und Diskussion von UN-Reformmaßnahmen z.B. John Trent/Laura Schnurr (2021): Renaissance der Vereinten Nationen. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich; vgl. insbesondere zur Forderung nach einem demokratisch gewählten UN-Parlament mit umfassenderen Vollmachten sowie der Reform des UN-Sicherheitsrats Leinen, Jo/ Bummel, Andreas (2017): Das demokratische Weltparlament. Bonn: Dietz-Verlag. Zumach, Andreas (2021): Reform oder Blockade. Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag und Moegling, Klaus (2020): Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. Auf Englisch die internationale Ausgabe (2022, frei lesbar): https://www.klaus-moegling.de/international-edition/
[6] Vgl. zur Konzeption einer UN-Weltpolizei bei ‚Sicherheit neu denken‘: Turning the Perspective. Overcoming Helplessness. Rethinking Security Report 2022. https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/269297/rethinking-security-report-2022-turning-the-perspective.pdf, 18.2.2022, 14.9.2022.
[7] Vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/internationale-organisationen/uno/05-reform-sicherheitsrat/205630, 14.1.2022, 14.9.2022.
[8] Vgl. https://unric.org/de/070222-guterres/, 7.2.2022, 14.9.2022.
[9] Vgl. die internationale Kampagne für ein demokratische UN-Parlament: https://www.unpacampaign.org/de/, o.D., 14.9.2022.
[10] https://www.sueddeutsche.de/politik/selenskyj-un-sicherheitsrat-ukraine-1.5561576, 5.4.2022, 21.9.2022.
[11] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-09/antonio-guterres-uno-ukraine-russland/komplettansicht, 19.9.2022, 21.9.2022.
[12] Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-07/ukraine-russland-und-un-vereinbaren-ausfuhr-ukrainischen-getreides, 22.7.2022, 14.9.2022.
[13] https://www.n-tv.de/politik/UN-Generalsekretaer-Guterres-Getreide-Export-nur-Teil-der-Loesung-russischer-Duenger-entscheidend-article23537746.html, 22.8.2022, 14.9.2022.
[14] Vgl. https://unric.org/de/ukraine22072022/
[15] Vgl. https://www.stern.de/news/russland-und-die-ukraine-machen-sich-erneut-gegenseitig-fuer-akw-beschuss-verantwortlich-32659302.html, 24.8.2022, 14.9.2022.
[16] https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-atomkraftwerk-saporischschja-iaea-bericht-1.5652334, 6.9.2022, 14.9.2022.
[17] Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Fredy Gsteiger (2022), der zu einer ähnlichen Situationsbeschreibung und Einschätzung kommt: https://www.srf.ch/news/international/vermittlung-im-krieg-versagt-die-uno-in-der-ukraine, 25.7.2022, 14.9.2022.
[18] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/un-vollversammlung-161.html, 20.9.2022, 20.9.2022.
[19] Vgl. Kliver, Christian (2022): Russlands Krieg in der Ukraine. UN sehen Kriegsverbrechen bestätigt – auch ohne Gerichtsurteil. In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Russlands-Krieg-in-der-Ukraine-UN-sehen-Kriegsverbrechen-bestaetigt-auch-ohne-Gerichtsurteil-7275551.html, 26.9.2022, 26.9.2022.[20] Vgl. hierzu den Artikel von Andreas Zumach in: https://www.infosperber.ch/politik/welt/uno-cassis-und-scholz-hinterlassen-wenig-glaubhaften-eindruck/, 22.9.2022, 22.9.2022.
[21] Vgl. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg): Vereinte Nationen, Heft 5/1966, 159ff., in: https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_1966/Heft_5_1966/05_Beitrag_5-1966.pdf, 1.10.1966, 28.9.2022.
[22] Vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/vereinte-nationen-kofi-annan-nennt-irak-krieg-illegal-1176615.html, 16.9.2004, 28.9.2022.
[23] Die Forderung nach einem ‚Einfrieren‘ des Kriegs in der Ukraine vertritt insbesondere der Politikwissenschaftler Johannes Varwick (Universität Halle-Wittenberg), der hierbei auch der Auffassung ist, obwohl völkerrechtlich die Lage eindeutig sei, müsse man zunächst einige Tatsachen des Status Quo akzeptieren, um eine nukleare Eskalation zu verhindern. Zumal man nicht mit Maximalforderungen an Russland, wie z.B. die Rückgabe der Krim, einen Verhandlungserfolg erzielen kann. Anderes wäre dann nachzuverhandeln. Vgl. u.a. Varwick, Johannes (im Interview mit Alexander Graf Lambsdorff) (2022): Sollte Deutschland auch die Rückeroberung der Krim unterstützen?, Interviewer: Jochen Bitter und Martin Macowecz, in: Die Zeit, 29.9.2022, 12.
[24] Vgl. zum mexikanischen Vermittlungsvorschlag: https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/mexiko-schl%C3%A4gt-die-einrichtung-einer-hochrangigen-diplomatischen-delegation-vor-die-zwischen-russland-und-der-ukraine-vermitteln-soll/ar-AA1294kT , 25.9.2022, 26.9.2022.
[25] Vgl. zur Drohung Putins, Atomwaffen einzusetzen: https://www.fr.de/politik/drohung-usa-ukraine-krieg-putin-russland-atomwaffen-atombombe-nuklear-zr-91817393.html, 30.9.2022, 30.9.2022.