Ingar Solty – Grüne u Liberale als Sprachrohr für Waffenlieferungen, Ukrainekrieg, Doppelmoral

Können Nato und Pentagon einen diplomatischen Ausweg in der Ukraine finden?

Quelle: Telepolis

Können Nato und Pentagon einen diplomatischen Ausweg in der Ukraine finden?

  1. Januar 2023 Medea Benjamin, Nicolas J.S. Davies

Die US-Politik in der Ukraine befindet sich in der Sackgasse. Man befürchtet, nicht mehr ernst genommen zu werden. Daher die Logik: Gegner einschüchtern, trotz der unvorstellbar realen Gefahr einer Eskalation. Was tun?

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der für seine entschiedene Unterstützung der Ukraine bekannt ist, hat kürzlich in einem Fernsehinterview in seinem Heimatland Norwegen seine größte Befürchtung für diesen Winter geäußert: dass die Kämpfe in der Ukraine außer Kontrolle geraten und zu einem großen Krieg zwischen der Nato und Russland führen könnten. „Wenn die Dinge schief gehen“, warnte er gravitätisch, „können sie furchtbar schief gehen“. Das war ein seltenes Eingeständnis von jemandem, der sehr stark in den Krieg involviert ist. Es spiegelt den Zwiespalt wider zwischen den jüngsten Erklärungen der politischen Führer der USA und der Nato auf der einen und denen der Militärs auf der anderen Seite.

Die politisch Verantwortlichen scheinen immer noch an einem langen, unbefristeten Krieg in der Ukraine festhalten zu wollen, während militärische Führer wie der Stabschef der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, General Mark Milley, sich zu Wort gemeldet und die Ukraine aufgefordert haben, „die Gunst der Stunde zu nutzen“ und Friedensgespräche zu führen. Admiral im Ruhestand Michael Mullen, ein ehemaliger Stabschef, meldete sich als erster zu Wort, vielleicht um Milley auf die Sprünge zu helfen, indem er dem Sender ABC News sagte, die Vereinigten Staaten sollten „alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu versuchen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, um diese Sache zu lösen“.

Die Asia Times berichtete, dass andere führende Militärs der Nato Milleys Ansicht teilen, dass weder Russland noch die Ukraine einen eindeutigen militärischen Sieg erringen können, während französische und deutsche Militärs zu dem Schluss kommen, dass die stärkere Verhandlungsposition, die die Ukraine durch ihre jüngsten militärischen Erfolge erlangt habe, nur von kurzer Dauer sein werde, wenn man Milleys Rat nicht beherzigt.

Warum also sprechen sich die militärischen Spitzen der USA und der Nato so eindringlich gegen die Aufrechterhaltung ihrer eigenen zentralen Rolle im Krieg in der Ukraine aus? Und warum sehen sie eine solche Gefahr auf sich zukommen, wenn ihre politischen Vorgesetzten ihre Hinweise, auf Diplomatie zu setzen, ignorieren?

Eine vom Pentagon in Auftrag gegebene Studie der Rand Corporation mit dem Titel „Responding to a Russian Attack on Nato During the Ukraine War“ („Wie auf einen russischen Angriff auf die Nato während des Ukraine-Krieges geantwortet werden könne“) gibt Aufschluss darüber, was Milley und seine Militärkollegen so alarmierend finden. In der Studie werden die Möglichkeiten der USA untersucht, auf vier Szenarien zu reagieren, in denen Russland eine Reihe von Nato-Zielen angreift. Das reicht von Angriffen auf US-Geheimdienstsatelliten oder einem Nato-Waffendepot in Polen bis hin zu größeren Raketenangriffen auf Nato-Luftwaffenstützpunkte und Häfen, darunter der US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland und der Hafen von Rotterdam.

Diese vier Szenarien sind allesamt hypothetisch und setzen eine russische Eskalation über die Grenzen der Ukraine voraus. Die Analyse der Autoren zeigt jedoch, wie schmal und brüchig der Grat ist zwischen begrenzten sowie angemessenen militärischen Reaktionen auf eine russische Eskalation und einer Eskalationsspirale, die außer Kontrolle geraten und zu einem Atomkrieg führen kann.

Der letzte Satz der Schlussfolgerung der Studie lautet: Der mögliche Einsatz von Atomwaffen verleiht dem Ziel der USA zusätzliche Dringlichkeit, eine weitere Eskalation zu vermeiden – ein Ziel, das nach einem begrenzten konventionellen Angriff Russlands immer wichtiger erscheint.

Andere Teile der Studie sprechen sich jedoch gegen eine Deeskalation oder gemäßigte Reaktionen auf russische Eskalationen aus. Sie stützen sich dabei auf dieselben Bedenken hinsichtlich der „Glaubwürdigkeit“ der USA, die für verheerende und letztlich sinnlose Eskalationsrunden in Vietnam, Irak, Afghanistan und anderen Kriegen, die verloren wurden, verantwortlich gewesen sind. Die politische Führung der USA fürchtet stets, dass ihre Feinde (zu denen inzwischen auch China gehört) zu dem Schluss kommen könnten, dass es möglich sei, mit militärischen Mitteln die US-Politik entscheidend zu beeinflussen und die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zum Rückzug zu zwingen, wenn sie nicht energisch genug auf sie reagieren.

Eskalationen, die von solchen Befürchtungen angetrieben werden, haben jedoch stets nur zu noch weitergehenden und demütigenden Niederlagen der USA geführt.

In der Ukraine werden die Bedenken Washingtons hinsichtlich der „Glaubwürdigkeit“ dadurch noch verstärkt, dass die USA ihren Verbündeten beweisen müssen, dass der Artikel 5 der Nato – der besagt, dass ein Angriff auf ein Nato-Mitglied als ein Angriff auf alle angesehen wird – eine wirklich wasserdichte Verteidigungspflicht darstellt.

Die US-Politik in der Ukraine befindet sich also in einem Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Feind-Einschüchterung sowie Unterstützung von Verbündeten einerseits und den unvorstellbaren realen Gefahren einer Eskalation andererseits. Wenn die US-Führung weiterhin so handelt wie in der Vergangenheit und auf Eskalation setzt, um nicht an „Glaubwürdigkeit“ zu verlieren, wird sie weiter mit dem Atomkrieg flirten. Die Gefahr wird mit jeder Drehung der Eskalationsspirale zunehmen.

Biden und Johnson haben westliche Ukraine-Politik verpfuscht

Während den Kriegsherren und -damen in Washington und den Nato-Hauptstädten langsam dämmert, dass es keine „militärische Lösung“ gibt, fließen still und heimlich versöhnlichere Äußerungen in ihre öffentlichen Statements ein. Insbesondere ersetzen sie ihr früheres Beharren darauf, dass in der Ukraine die Grenzen von vor 2014 wiederhergestellt werden müssen – würde eine Rückgabe des gesamten Donbass und der Krim bedeuten –, durch die Aufforderung an Russland, sich nur noch auf die Positionen zurückzuziehen, die vor dem 24. Februar 2022 eingenommen wurden. Dem hatte Russland bei Verhandlungen in der Türkei bereits im März zugestimmt.

US-Außenminister Antony Blinken erklärte am 5. Dezember gegenüber dem Wall Street Journal, dass das Ziel des Krieges nun darin bestehe, „Territorium zurückzuerobern, das seit dem 24. Februar von der [Ukraine] beschlagnahmt worden ist“. Das Wall Street Journal berichtete, dass „zwei europäische Diplomaten… sagten, dass [der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake] Sullivan dem Team von Selenskyj empfohlen habe, über realistische Forderungen und Prioritäten für die Verhandlungen nachzudenken, einschließlich eines Überdenkens des erklärten Ziels, dass die Ukraine die 2014 annektierte Krim zurückerobert.“

In einem anderen Artikel zitierte das Wall Street Journal deutsche Beamte mit den Worten: „Sie halten es für unrealistisch zu erwarten, dass die russischen Truppen vollständig aus allen besetzten Gebieten abgezogen werden“, während britische Beamte als Mindestgrundlage für Verhandlungen die Bereitschaft Russlands definierten, „sich auf die Positionen zurückzuziehen, die es am 23. Februar besetzt hatte.“

Eine der ersten Handlungen von Rishi Sunak als britischer Premierminister Ende Oktober bestand darin, dass sein Verteidigungsminister Ben Wallace den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu zum ersten Mal seit der russischen Invasion im Februar anrief. Wallace teilte Shoigu mit, dass Großbritannien eine Deeskalation des Konflikts anstrebe – eine deutliche Abkehr von der Politik der früheren Premierminister Boris Johnson und Liz Truss.

Ein wichtiger Stolperstein, der westliche Diplomaten vom Friedenstisch fernhält, ist die maximalistische Rhetorik und Verhandlungsposition von Präsident Selenskyj und der ukrainischen Regierung, die seit April darauf besteht, dass sie sich mit nichts zufriedengeben wird, was nicht die volle Souveränität über jeden Zentimeter des Territoriums beinhaltet, das die Ukraine vor 2014 besaß.

Diese maximalistische Position ist jedoch eine bemerkenswerte Abkehr von der Position, die die Ukraine bei den Waffenstillstandsgesprächen in der Türkei im März einnahm, als sie sich bereit erklärte, im Gegenzug für einen russischen Rückzug auf Positionen vor der Invasion ihre Ambitionen auf einen Nato-Beitritt aufzugeben und keine ausländischen Militärstützpunkte zu unterhalten. Bei den Gesprächen erklärte sich die Ukraine bereit, über die Zukunft des Donbass zu verhandeln und eine endgültige Entscheidung über die Zukunft der Krim um bis zu 15 Jahre zu verschieben.

Die Financial Times berichtete am 16. März über diesen 15-Punkte-Friedensplan. Selenskyj erläuterte seinem Volk in einer landesweiten Fernsehsendung am 27. März das „Neutralitätsabkommen“ und versprach, es einem nationalen Referendum zu unterziehen, bevor es in Kraft treten könne.

Der britische Premierminister Boris Johnson intervenierte jedoch am 9. April und hob das Abkommen auf. Er erklärte Selenskyj, dass das Vereinigte Königreich und der „kollektive Westen“ „auf lange Sicht“ hinter der Ukraine stünden und sie in einem langen Krieg unterstützen würden, aber keine Vereinbarungen zwischen der Ukraine und Russland unterzeichnen würden.

Das erklärt, warum Selenskyj jetzt so beleidigt ist über westliche Vorschläge, er solle an den Verhandlungstisch zurückkehren. Der in Ungnade gefallene Johnson ist inzwischen zurückgetreten. Er lässt nun Selenskyj und das ukrainische Volk zurück, die sich beide weiter an Johnsons Versprechen hängen.

Im April letzten Jahres behauptete Johnson, er spreche im Namen des „kollektiven Westens“, aber nur die Vereinigten Staaten vertraten öffentlich eine ähnliche Position, während Frankreich, Deutschland und Italien im Mai zu neuen Waffenstillstandsverhandlungen aufriefen.

Jetzt hat Johnson selbst eine Kehrtwende vollzogen und schrieb in einem Leitartikel für das Wall Street Journal am 9. Dezember nur noch, dass „die russischen Streitkräfte auf die De-facto-Grenze vom 24. Februar zurückgedrängt werden müssen“. Johnson und Biden haben die westliche Ukraine-Politik verpfuscht, indem sie sich auf eine Politik des bedingungslosen, endlosen Krieges versteift haben, die von den Militärberatern der Nato aus guten Gründen abgelehnt wird: um einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden, den Biden selbst zu verhindern versprochen hat.

Die Staats- und Regierungschefs der USA und der Nato machen nun endlich kleine Schritte in Richtung Verhandlungen, aber die entscheidende Frage, mit der die Welt im Jahr 2023 konfrontiert sein wird, ist, ob sich die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch setzen werden, bevor die Spirale der Eskalation katastrophal außer Kontrolle gerät.

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Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Nachrichtenmedium Common Dreams. Dort findet er sich im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Medea Benjamin ist die Mitbegründerin von CODEPINK https://www.codepink.org/ukraine  und der Menschenrechtsgruppe Global Exchange. Seit mehr als 40 Jahren setzt sie sich für soziale Gerechtigkeit ein. Sie ist Autorin von zehn Büchern, darunter „Drone Warfare: Killing by Remote Control“, „Kingdom of the Unjust: Behind the US-Saudi Connection“ und „Inside Iran: The Real History and Politics of the Islamic Republic of Iran“. Ihre Artikel erscheinen regelmäßig in Medien wie Znet, The Guardian, The Huffington Post, CommonDreams, Alternet und The Hill.

Nicolas J. S. Davies recherchiert für „CODEPINK: Women for Peace“ und ist Buchautor, u.a. von „Blood On Our Hands: the American Invasion and Destruction of Iraq. Zusammen mit Medea Benjamin hat er gerade „War in Ukraine: Making Sense of a Senseless Conflict“ veröffentlicht.

„Mir wäre lieber, die Letzte Generation wäre nur eine Sekte“

Quelle: Krautreporter https://krautreporter.de/4721-mir-ware-lieber-die-letzte-generation-ware-nur-eine-sekte?utm_campaign=pocket-visitor

Politik und Macht – „Mir wäre lieber, die Letzte Generation wäre nur eine Sekte“

Wolfgang Metzeler-Kick saß schon mehrmals im Gefängnis, weil er Straßen blockierte. Ich habe ihn in der JVA Stadelheim getroffen. Mir hat er erzählt, was er wirklich denkt.

03.01.2023

Protokoll von Rico Grimm

Ich bin 48 Jahre alt und sitze in diesem Gefängnis, seit 15 Tagen. Warum? Weil ich als Umweltschutzingenieur zu viel weiß. Mir fällt es wahnsinnig schwer, nur zuzugucken. Sich ohnmächtig zu fühlen und nichts verändern zu können.

Als ich 18 Jahre alt war, hätte ich nicht gedacht, dass ich mal im Gefängnis lande. Das war kein Gedanke, der besonders naheliegend war. Aber jetzt sitze ich zum dritten Mal in der JVA Stadelheim. Als ich das erste Mal reinkam in die Zelle, dachte ich: „Uh. Klein, eng.“

Ich gehe schon länger auf Demos, aber erst 2015 wurde mir die Dringlichkeit der Klimakatastrophe richtig bewusst. Damals brach vom Larsen-C-Schelfeis ein Tafeleisberg ab, zweimal so groß wie das Saarland. Und mir wurde klar, dass wir keine Zeit mehr haben. Vielleicht war es schon 1990 zu spät. Ich habe ein Kind, das zwölf Jahre alt ist. Es ist beschissen zu wissen, dass man seinem Kind keine Zukunft geben kann.

Wir müssten längst CO2 aus der Luft herausziehen. Wir haben jetzt einen Gehalt von 0,42 Promille CO2 in der Luft. Das ist das letzte Mal vor über fünf Millionen Jahren so gewesen. Da war der Meeresspiegel 15 Meter höher. Wir müssen aber auf 0,35 Promille runter. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird meine Generation noch erleben, wie Bangladesch von der Erdkarte durch den Meeresspiegelanstieg verschwunden sein wird. Genauso wie Florida.

Als Desperado machst du ohne Hoffnung weiter

Im Mai 2022 band ich mich bei einem Bundesligaspiel zwischen Eintracht Frankfurt und dem SC Freiburg am Pfosten des Frankfurter Torwarts Kevin Trapp fest. Als ich ihm etwas von CO2-Leveln sagte, wies er nur darauf hin, was die Fans im Stadion riefen. Sie riefen: „Auf die Fresse, auf die Fresse!“ Sie meinten mich.

FFF, Extinction Rebellion, Letzte Generation – wie die Klimabewegung funktoniert

Ich bin ein Desperado, ein Verzweifelter. Ich weiß genau, wie die Situation ist. Alleine im Jahr 2100 müssen 16 Gigatonnen CO2 aus der Atmosphäre entnommen werden. Das entspricht der jährlichen Entnahmeleistung eines Hartholzwaldes auf der 1,3-fachen Fläche Europas. Und dabei könnten wir diesen Wald nicht sich selbst überlassen. Denn was umfällt und verrottet, setzt ja auch wieder CO2 frei. Die Menschheit ist drauf und dran, sich selbst umzubringen.

Aber als Desperado machst du ohne Hoffnung weiter. Als Desperado sagst du: Ja, die Situation ist aussichtslos, aber was ist noch zu verlieren? Da landen wir bei Professor Schellnhuber, der in einem Interview mit Tilo Jung sagte: „Die Chancen, noch zu gewinnen, sind so schlecht, dass ich bei einer Sportveranstaltung gar nicht mehr antreten würde. Aber es ist keine Sportveranstaltung. Es geht wirklich um das Leben und die Zukunft unserer Kinder.“

Ich stehe im Gefängnis früh auf und schreibe viele Briefe

Ich kam zu Nikolaus in die JVA, also am 6. Dezember 2022. Wir hatten am Morgen die Abfahrt zur A 96 am Mittleren Ring blockiert. Der Moment, in dem du auf die Straße trittst, ist ein Lampenfieber-Moment. Die Aufgeregtheit kommt daher, dass es nicht klappen könnte, dass wir vorher abgefangen werden, dass es scheitert irgendwie. Aber an diesem Morgen hatten wir Glück, weil die Ampel gerade rot war, als wir kamen und wir Gelegenheit hatten, uns auf der Straße festzukleben. In diesem Moment war ich erleichtert, dass es nun losgeht. Und anders als in der Nacht zuvor schenkte uns dieses Mal die Polizei auch Aufmerksamkeit. Bei der Aktion am Stachus einen Tag vorher hatten sie versucht, uns zu ignorieren. Es war ihnen auch zum Teil gelungen. Es waren nicht viele Autos gefahren und da dachte ich mir schon: „Mist.“ Nun aber, bei der Aktion am 6. Dezember, standen so viele Autos im morgendlichen Berufsverkehr, dass die Polizei einfach eingreifen musste. Sie lösten uns von der Straße und es folgte Präventivgewahrsam.

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Es war schon sehr skurril. Ich hatte bei der Anhörung vor Gericht ausgesagt, dass ich bis zum 21. Dezember in Aktion gehen werde. Der Richter hat mich dann bis zum 5. Januar in Haft geschickt und mir Freigang über Weihnachten gegeben. Das war bemerkenswert, weil die Polizei mich nur bis zum 12. Dezember in Gewahrsam schicken wollte. Das war dann schon eine gewisse Überraschung. Interessanterweise war aber mein Beschluss auf den 5. Dezember datiert und während der Anhörung wurde nichts weiter Nennenswertes protokolliert in dem Beschluss. Das Polizeiaufgabengesetz verschafft dem Richter die Möglichkeit, mich einen Monat wegzusperren. Aber im Vergleich zu dem, was auf uns zukommt, ist dieser Gefängnisaufenthalt sowieso Pillepalle.

Wir stehen hier drinnen früh auf, wir gehen aber auch früh ins Bett. Ich habe diesmal keinen Fernseher und auch keinen beantragt. Ich schreibe viele Briefe. Die Wärter lesen diese Briefe. Es dauert ewig, bis die Briefe von hier nach draußen gehen. Ich lese aber auch viel und mache Liegestütze. Gerade lese ich Jorge Semprún „Was für ein schöner Sonntag!“ Es ist ein Hammerbuch! Es spielt vorgeblich an einen Sonntag im KZ Buchenwald, aber eigentlich geht es um die ganze Geschichte dieser Zeit.

Die Situation hier ist nicht so schlimm, und ich habe noch andere Strategien als Lesen und Liegestütze. Meditieren zum Beispiel. Und Yoga. Aber ich muss im Moment gar nicht meditieren. Es passt schon. Prinzipiell werde ich hier gut behandelt, vor allem im Vergleich zu dem, wie es anderen Menschen geht, in anderen Ländern. Schau nur nach Russland. Was da mit Menschen passiert, die ein Schild hochhalten, auf dem nichts draufsteht. Wir hier in Deutschland sind unglaublich privilegiert. Wenn wir jetzt nicht aktiv sind und sagen: „Hey Regierung, so geht es nicht weiter, ihr bringt uns alle um!“, dann wird es keiner machen.

Die Diskussion um die tote Radfahrerin ging in eine völlig falsche Richtung

Ich erwarte von den Menschen draußen, dass sie anfangen, sich mit den Fakten zu beschäftigen. Sie müssen wirklich mal den Fakt an sich heranlassen, dass es zu spät ist und das 1,5-Grad-Ziel wirklich tot ist. Was das heißt? Ein Blick nach Indien, nach Pakistan und man weiß, was auf uns zukommt. Das ist ein Blick in unsere Zukunft.

Seit meinem ersten Aufenthalt hier in der JVA vom 28. Oktober bis 1. November hat sich tatsächlich viel getan, was die öffentliche Wahrnehmung des Klima-Themas angeht. Es wird natürlich immer noch viel über die Aktionen selbst diskutiert. Und ob die Methoden der „Letzten Generation“ für die Situation angemessen sind oder nicht. Aber bei dieser Frage muss eben immer die Situation, sprich, das Klima thematisiert werden.

Wir, also die Aktivisti der „Letzten Generation“, sind ein Feueralarm. Und wer kann schon einen Feueralarm ausstehen? Das ist auch bei unseren Blockaden so. Aber als im Herbst über den Unfalltod einer Frau diskutiert wurde, die in Berlin von einem LKW überrollt worden war, ging die Diskussion in eine völlig falsche Richtung. Uns wurde vorgeworfen, wir, also unsere Aktion an einer Schilderbrücke sei schuld am Tod der Frau gewesen. Weil das Bergefahrzeug nicht schnell genug zu ihr durchgekommen sei. Aber der LKW ist von der Frau heruntergefahren, noch bevor das Sonderfahrzeug zum Hochheben des LKWs überhaupt in der Nähe sein konnte. Wir lernen in der Fahrschule, dass wir eine Rettungsgasse bilden müssen, wenn irgendwo Stau ist. Und genau das passiert immer wieder nicht. Bei allen möglichen Staus kriegen die Autofahrer*innen es nicht gebacken, eine Rettungsgasse zu bilden. Aber nur bei den Staus, bei denen die „Letzte Generation“ auftaucht, wird das statistisch erfasst.

Ich werde irgendwann richtig in Haft sitzen, wenn es so weitergeht

Selbstverständlich gibt es auch für mich Grenzen des Protests. Die verlaufen dort, wo Gewalt gegenüber anderen Menschen ausgeübt wird. Im Jahr 2006 oder so, bei der „Kriegskonferenz“ in München. Dort war ich Demo-Clown und habe mir auf dem Marienplatz einen Faustschlag von einem Polizisten eingefangen – dummerweise für diesen – vor laufender Kamera des Bayerischen Rundfunks. Er wurde viel später wegen Körperverletzung verurteilt. Die Presse hat auf den Vorfall stark reagiert. Sie hat eindeutig Stellung zur Polizeigewalt bezogen. Auch wenn andere der „Letzten Generation“ das eloquenter ausdrücken würden, ich denke: Die Gandhi-Nummer hat Macht.

Ich kenne das Gefühl der völligen Depression. Es gibt wirklich ein Tal der Tränen. Wenn man das einmal durchschritten und die ganzen Erkenntnisse der Klimawissenschaft über unsere Zukunft verarbeitet hat, dann findet man manchmal: Oh, an der Stelle ist es doch ein kleines bisschen weniger schlimm als ich dachte! Aber ich möchte und werde das auch nicht noch zehn Jahre weiter machen. Also die ganzen Blockaden. Denn der Point of No Return ist irgendwann da. Der ehemalige wissenschaftliche Chef-Berater der britischen Regierung meinte vor fast zwei Jahren, dass die Menschheit noch drei bis vier Jahre Zeit hätte, um eine Kehrtwende einzuleiten, also massiv die Emissionen herunterzufahren. Wenn es nicht passiert, haben wir den Kipppunkt in die Heißzeit überschritten. Das heißt, ich würde noch weiter machen, bis meine Gerichtsverfahren um sind. Aber dann ist Schluss. Denn es gibt es, dieses „ZU SPÄT!“

Mein Sohn und ich sind uns einig

Wenn es so weitergeht wie jetzt, sitze ich so in vier bis fünf Jahren nicht nur in Präventivgewahrsam, sondern richtig in Haft. Und wenn ich die Haftstrafen hinter mir hätte und es offensichtlich ist, dass die Menschheit keine Chance mehr hat, dann muss ich mir den Untergang genauso anschauen wie jeder andere von uns auch. Wir Menschen leben in dem Bewusstsein, dass wir sterben. Das ist sowieso klar. Da ist auch die Frage der Schuld total albern, wenn sich die Leute der Generation vor uns angegriffen fühlen. Die Schuldfrage stellt sich erst, wenn einem klar wird, dass das, was man macht, mörderisch ist, dass es den Tod bringt. Wenn einem klar wird, dass das eigene Handeln dazu führt, dass unsere Kinder keine Zukunft mehr haben. Bei Robert Habeck zum Beispiel muss ich die Schuldfrage bejahen.

Mein Sohn und ich sind uns übrigens einig: Wir hätten es am liebsten, wenn die „Letzte Generation“ nur eine komische Sekte wäre. Wenn sie nur auf Hirngespinsten basieren würde.

ADFC-Zukunftsstrategie: 2030 ist Deutschland Fahrradland

2030 ist Deutschland Fahrradland: So steht es im Nationalen Radverkehrsplan der Bundesregierung. Der ADFC nimmt die Regierung beim Wort. Der Verband hat sich deshalb auf eine Strategie verständigt, mit der in den kommenden fünf Jahren darauf hinwirken will, dass dieses Ziel erreicht wird.

Die Zukunftsstrategie des ADFC beschreibt die inhaltlichen Ziele, die sich der ADFC in den Bereichen Verkehrspolitik und Fahrradtourismus gesetzt hat. Sie formuliert zudem strukturelle Ziele in den Bereichen Verband, Kommunikation, finanzielle Ressourcen, Digitalisierung sowie Verbraucherberatung, Technik und Recht. Durch die gesetzten Ziele wird in Zeiten begrenzter Ressourcen auch eine Priorisierung der Aufgaben möglich.

„Ostdeutsch sein ist ein Erfahrungsraum.“ | Ilko-Sascha Kowalczuk erforscht den Prozess der Deutschen Wiedervereinigung

hr2-kultur : „Ostdeutsch sein ist ein Erfahrungsraum.“ | Ilko-Sascha Kowalczuk erforscht den Prozess der Deutschen Wiedervereinigung – hr2 Doppelkopf · 02.10.2022 · 53 Min.

Vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung verging weniger als ein Jahr – 11 Monate, in denen die letzten Reste eines Systems der Unterdrückung abgetragen wurden und in denen die kühnsten Hoffnungen zum Greifen nah schienen. In denen aber auch für viele Menschen eine Lebensform unterging, viele alte Sicherheiten verschwanden und manche Hoffnungen bald enttäuscht werden sollten.

Wie die Geschichte der DDR mit der Gegenwart Ostdeutschlands zusammenhängt, untersucht der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch „Die Übernahme“ (2019).