Quelle: Wirtschaftswoche, 24.2.23
Russlands Kriegswirtschaft „Der Wohlstand der Russen ist deutlich stärker gesunken, als das BIP-Minus suggeriert“
Interview von Bert Losse mit Richard Grieveson
Ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine hält sich Putins Wirtschaft besser als erwartet. Doch Wachstumspotenzial und Wohlstand dürften immer stärker erodieren, glaubt der britische Ökonom und Osteuropa-Experte Richard Grieveson – auch weil der Fachkräftemangel in Russland eskaliert. Richard Grieveson, 38, ist Vizechef des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) und Experte für Osteuropa.
WirtschaftsWoche: Herr Grieveson, in welchem Zustand befindet sich die russische Wirtschaft ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine?
Richard Grieveson: Auf den ersten Blick ist die ökonomische Lage besser als erwartet. Nach Kriegsbeginn hatten wir einen Einbruch der Wirtschaftsleistung von acht Prozent erwartet, manche Ökonomen hielten sogar einen Absturz um 15 Prozent für denkbar. Am Ende dürfte das Minus 2022 bei rund drei Prozent gelegen haben. Allerdings sind rein quantitative Wachstumszahlen in Kriegszeiten mit Vorsicht zu genießen.
Wie meinen Sie das?
Die hochgefahrene Produktion für militärische Güter ist zunächst einmal positiv für das Bruttoinlandsprodukt. Diese Ausgaben haben aber keine produktive Wirkung. Der Wohlstand der Russen ist deutlich stärker gesunken als das moderate BIP-Minus suggeriert. Der Konsum dürfte seit Anfang des Krieges um acht bis zehn Prozent eingebrochen sein. Ein klares Konjunkturbild zu bekommen ist schwierig, da die Russen manche Zahlen nicht mehr veröffentlichen. Bei anderen offiziellen Statistiken weiß man nicht, ob sie stimmen.
Wagen Sie dennoch eine Prognose für 2023? Der Internationale Währungsfonds hält in Russland mittlerweile sogar ein kleines Wachstum von 0,3 Prozent für möglich.
Da sind wir pessimistischer. Die russische Wirtschaft dürfte auch 2023 schrumpfen, womöglich erneut um rund drei Prozent. Der Preisdeckel für russisches Öl funktioniert erstaunlich gut, viele der beschlossenen Sanktionen wirken schleichend und zeitverzögert. Der erschwerte Zugang zu High-Tech-Gütern wird zunehmend auf die russische Industrie durchschlagen. Nicht alles lässt sich über China und die Türkei beschaffen. Es wird immer schwieriger, an verlässliche Wirtschaftsdaten aus Russland zu kommen.
Es fehlt den Betrieben nicht nur Technik, sondern auch Personal. Viele Russen haben nach Kriegsausbruch das Land verlassen, viele sind eingezogen worden. Wie nachhaltig ist der Fachkräftemangel?
Er ist mittlerweile eine der größten Wachstumsbremsen für Russland, auch wenn nicht alle Regionen und Sektoren gleich betroffen sind. Schätzungen zufolge haben mindestens 700.000 Menschen das Land verlassen, vielleicht sogar eine Million. 300.000 Männer sind eingezogen worden. Allein in der IT-Branche sind laut einigen Berichten gut zehn Prozent der Fachkräfte weg. Viele sind nach Georgien, Armenien, Türkei oder Serbien gegangen, wo sie kein Visum brauchen. Manche arbeiten von dort für ihre alten Arbeitgeber weiter, viele haben sich aber neue Jobs besorgt. Eine weitere Teilmobilisierung und neue Rekrutierungswellen in den Betrieben würden das Fachkräfteproblem dramatisch verschärfen.
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Was bedeutet der Brain Drain langfristig für die russische Volkswirtschaft?
Das Problem hat lange vor dem Krieg begonnen. Russland leidet bereits seit den Neunzigerjahren unter massiven demografischen Problemen. Verbunden ist dies mit einer schlechten Gesundheitsversorgung und einer im europäischen Vergleich niedrigen Lebenserwartung vor allem bei Männern. Während der Pandemie zählte Russland weltweit zu den Ländern mit der höchsten Übersterblichkeit. Das heißt, hier hat sich die Sterberate im Vergleich zu normalen Jahren durch Corona deutlicher erhöht als anderswo.
Die russische Regierung will jetzt abgewanderte Fachkräfte zurück ins Land locken. Kann das funktionieren?
Nicht solange der Krieg andauert. Dem Versprechen der russischen Führung, bei einer Rückkehr nicht zur Armee eingezogen zu werden, dürfte kaum jemand glauben.
Die russische Wirtschaft ist ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine nicht kollabiert. Doch der kriegsbedingte Arbeitskräftemangel lässt das Wachstumspotenzial schrumpfen. Die Reaktion des Regimes: mehr Zwangsarbeit.
Kann Russland sein eskalierendes Fachkräfteproblem durch verstärkte Zuwanderung lindern, etwa aus Kasachstan?
Schwer zu sagen. In den vergangenen Jahren hat es in der Tat eine starke Zuwanderung aus Zentralasien nach Russland gegeben. Davon haben vor allem Bauwirtschaft und Landwirtschaft profitiert. Unter den jetzigen Rahmenbedingen allerdings dürfte Russland weder politisch noch wirtschaftlich ein Traumziel für Arbeitskräfte aus dem Ausland darstellen.
Im Dezember sind aus Deutschland noch immer Waren im Wert von 800 Millionen Euro nach Russland exportiert worden. Ist ein Szenario denkbar, bei dem die Handelsbeziehungen mit Russland komplett gekappt werden – etwa bei einer weiteren Eskalation des Krieges?
Das halte ich für wenig wahrscheinlich. Eine Verschärfung der Sanktionen dürfte kommen, aber kein totaler Handelsstopp. Hier geht es ja nicht zuletzt um Lebensmittel, Düngemittel und Medikamente. Reißt hier der Warenaustausch ab, hätte dies enorme negative Folgen für die Bevölkerung und würde Kollateralschäden auch in vielen Entwicklungsländern verursachen.
Glauben Sie, dass sich Putin vom wirtschaftlichen Niedergang seines Landes beeindrucken lässt?
Nein. Putin wird nicht allzu besorgt sein, dass die Wirtschaft schrumpft. Der einzige ökonomische Hebel, der bei ihm Wirkung zeigt, ist der Staatshaushalt. Die Deckelung des Ölpreises hat sich bereits sehr negativ auf den Haushalt ausgewirkt, und wenn das so weitergeht, ist das definitiv ein Grund zur Sorge für ihn. Putin braucht Einnahmen, zur Aufrechterhaltung staatlicher Leistungen und zur Finanzierung des Krieges. Und er weiß, dass er bei stark steigenden Defiziten und eingeschränkter finanzieller Handlungsfähigkeit auch persönlich unter Druck gerät. Anders ausgedrückt: Innenpolitisch haben nur Haushaltsprobleme einen Effekt auf den Krieg – und selbst dann wahrscheinlich nur mittelfristig.
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