Auf den Spuren von Paul Grüninger – Judenverfolgung im 2. Weltkrieg | Reportage | SRF

Trumps Geheimnis – viele Wähler*innen sehen ihn als Mann der Mitte

Das IPG-Journal hat in seiner Ausgabe vom 28.12.23 einen Aufsatz von Schmitz publiziert, der ursprünglich in der New York Times erschien. Anne Emmert hat ihn übersetzt.

Wir geben ihn hier in Auszügen wieder, weil er eine andere Sicht auf Trump und seine mögliche zweite Präsidentschaft liefert.

Um den Text einordnen zu können, haben wir recherchiert, wie Matthew Schmitz einzuordnen ist:

Matthew Schmitz ist Gründer und Redakteur von Compact magazine https://compactmag.com/about/ . Das Compact magazine schreibt über sich selbst: „Jedes neue Magazin sollte ein Vorgeschmack auf eine mögliche Zukunft sein, ein Blick darauf, wie die Welt aussehen könnte. Unsere redaktionellen Entscheidungen sind von unserem Wunsch nach einem starken sozialdemokratischen Staat geprägt, der die Gemeinschaft – lokal und national, familiär und religiös – gegen eine freizügige Linke und eine libertäre Rechte verteidigt.

Unser Name erinnert an unseren Anspruch und definiert seine Grenzen. Ein Pakt ist eine politische Vereinigung, die verschiedene Menschen für ein gemeinsames Ziel zusammenbringt. Es handelt sich weder um einen Vertrag noch um einen Bund, weder um ein Marktverhältnis noch um eine religiöse Konfession. Es kommt nicht auf gemeinsames Blut an, sondern auf ein gemeinsames Ziel. Es geht uns darum, diese eigentlich politische Form der Solidarität voranzutreiben.

Wir glauben, dass die Ideologie des Liberalismus im Widerspruch zur Tugend der Liberalität steht. Wir sind teilweise gegen den Liberalismus, weil wir eine Gesellschaft anstreben, die toleranter gegenüber menschlichen Unterschieden und menschlichen Schwächen ist. Deshalb veröffentlichen wir Autoren, mit denen wir nicht einverstanden sind, obwohl wir eine bestimmte Meinung haben.

Compact wird die herrschende Klasse herausfordern, die Regierung, Kultur und Kapital kontrolliert. Wer das tut, wird zwangsläufig als radikal bezeichnet. Wir scheuen uns nicht vor dem Etikett, bestehen aber auf der richtigen Bedeutung. Radikal zu sein bedeutet, richtig verstanden, nicht, in Extreme zu verfallen. Es bedeutet, den Dingen auf den Grund zu gehen. Dazu ist es erforderlich, sowohl über Klasse als auch über Kultur, materielle Realitäten und Ideologien zu sprechen.

Compact ist eine von Mitgliedern unterstützte Publikation. Im Gegensatz zu vielen Magazinen, die auf Stiftungen und Spender angewiesen sind, ist Compact auf Leser wie Sie angewiesen. Bitte unterstützen Sie uns bei dieser Arbeit, indem Sie sich noch heute anmelden.“

Zuvor war Schmitz leitender Redakteur von First Things https://www.firstthings.com/article/2023/08/the-pope-of-peace . Seine Texte erschienen auch in der New York Times, dem Wall Street Journal, der Washington Post, Tablet und The American Conservative, für die er Kolumnist ist. Er ist Inhaber einer Lincoln Fellowship des Claremont Institute und einer Robert Novak Journalism Fellowship des Fund for American Studies.

https://www.ipg-journal.de/regionen/nordamerika/artikel/trumps-geheimnis-7215/?utm_campaign=de_40_20231228&utm_medium=email&utm_source=newsletter

28.12.2023 | Matthew Schmitz*

Trumps Geheimnis (Auszüge)

Der Erfolg des Ex-Präsidenten basiert nicht auf seinem Autoritarismus. Viele Wähler unterstützen ihn, weil sie ihn als Mann der Mitte sehen.

Von linksliberaler Seite hört man oft, Trumps anhaltender Erfolg belege, dass sich viele Menschen in den USA von der Demokratie entfremdet haben und für extreme Ideologien empfänglich sind. Auf Seiten der Rechten sehen sie Trumps Erfolg als Hinweis darauf, dass die Menschen für radikalere Politikformen offen sind. Nach Trumps Wahlsieg 2016 posaunte der russische Philosoph Alexander Dugin, das amerikanische Volk habe eine „Revolution“ gegen den politischen Liberalismus losgetreten. Der ultrarechte Rassist Richard Spencer erklärte sich und seine weißen Mitstreiter zur „neuen Trump-Vorhut“. Doch beide Seiten interpretieren Trumps Erfolg grundfalsch.

Trump liegt in den Swing States nicht vor Biden, weil sich die Amerikaner dem Autoritarismus unterwerfen wollen, und er hat auch nicht den Rückhalt eines maßgeblichen Anteils der schwarzen und hispanischen Wählerschaft, weil diese seine rassistische Ideologie gut fände. Aus seinem Erfolg lässt sich nicht ableiten, dass Amerika sich die Vorstellungen der extremen Rechten zu eigen machen möchte. Vielmehr erfreut sich Trump dauerhafter Unterstützung, weil ihn viele Wählerinnen und Wähler – oft aus gutem Grund – als zwar unberechenbaren, aber pragmatisch-gemäßigten Politiker wahrnehmen.

Trumps ungezügelte Phrasendrescherei, seine ständigen Protokollverstöße und sein Hang, Fachwissen in Frage zu stellen, empfinden Anhänger beider politischer Parteien als zutiefst beunruhigend. Seine Präsidentschaft war häufig von Chaos geprägt und fand im Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 in diesem Sinne seinen „Höhepunkt“. Im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf hat Trump angekündigt, Biden einen Sonderstaatsanwalt auf den Hals zu hetzen. Nach wie vor behauptet er, man habe ihm die Wahl 2020 gestohlen, und Amerika sei derzeit „keine großartige Demokratie“. Auch seine Vorliebe für aufrührerische Reden hat er sich bewahrt.

Aber man sollte nicht vergessen, dass es in Trumps Präsidentschaft neben oft maßlosen Tiraden und unberechenbarem Verhalten auch eine Vielzahl moderater politischer Entscheidungen gab. Vom Gesundheitssystem bis hin zu Außenpolitik und Handel verwarf Trump ein aufs andere Mal besonders unpopuläre Konzepte beider politischer Parteien.

Eine solche Einschätzung mag Trump-Kritiker verblüffen. Aber auch seine provokantesten Äußerungen seit seinem Ausscheiden aus dem Amt  wiegen für viele Wählerinnen und Wähler nicht so schwer wie sein Regierungsstil in der ersten Amtszeit. Man hat sich an seine großspurigen Sprüche gewöhnt und sieht ihn heute, wie er damals war: kein ideologischer Kämpfer, sondern ein geschmeidiger Geschäftsmann mit einem Faible für Verhandlungen und Kompromisse. Diese Sichtweise könnte mehr als jeder andere Faktor erklären, warum so viele Menschen zu ihm halten und warum uns womöglich eine zweite Amtszeit Trumps erwartet.

Trumps moderate Ausrichtung ist leicht zu übersehen, weil er vom Stil her kein gemäßigter Politiker ist. Doch er ähnelt mit seiner Haltung Richard Nixon, der ein kampflustiges Temperament und ausgeprägte Ressentiments mit einem Gespür für politische Realität und einer Bereitschaft zu Verhandlungen mit ideologischen Gegnern verband.

Ähnlich verhält es sich mit Trump. Betrachten wir zunächst seine Haltung in der Gesundheitspolitik, die den Vorstellungen der Demokraten ebenso widerspricht wie denen der Republikaner. Auf die Frage, ob er ein Gesundheitssystem für alle unterstütze, antwortete er 2015: „Jeder muss versichert sein“ und „Der Staat wird das bezahlen“. Im Amt schlug er eine Alternative zu Obamacare vor, die konservative Kongressabgeordnete als „republikanischen Sozialhilfeanspruch“ geißelten. Als er vor einem Monat erneut Obamacare kritisierte, betonte er, er wolle das Programm nicht „einstellen“, sondern „durch ein viel besseres Gesundheitssystem ersetzen“.

Mit seinen Ansichten zu Medicare, der Krankenversicherung für Senioren, und Social Security, der gesetzlichen Rentenversicherung, vertritt Trump eine ähnlich gemäßigte Position. Im derzeitigen Vorwahlkampf der Republikaner wirft Trump dem Gouverneur von Florida Ron DeSantis vor, „Rollstühle über die Klippe“ schieben zu wollen, und beruft sich dabei auf das Abstimmungsverhalten von DeSantis als Kongressabgeordneter in Gesetzgebungsverfahren, in denen Medicare durch Gutscheine für private Versicherungen ersetzt und das Mindestalter für den staatlichen Rentenbezug angehoben werden sollte.

In Sachen Handel brach Trump mit der bei demokratischen und republikanischen Eliten beliebten reinen Lehre des freien Marktes, die jedoch in weiten Teilen des ländlichen Amerika höchst unbeliebt ist. Er warf China unfaire Handelspraktiken vor und verhängte Zölle auf chinesische Waren im Wert von mehr als 300 Milliarden US-Dollar. Joe Biden behielt diese Zölle bei und legitimierte so über die Parteigrenzen hinweg Trumps Entscheidung.

In der Außenpolitik legte Trump eine Besonnenheit und Verhandlungsbereitschaft an den Tag, die im Widerspruch zu der aggressiven Politik beider Parteien nach dem 11. September 2001 standen. So behauptete er sich 2019 gegen Kriegstreiber wie seinen Außenminister Mike Pompeo und seinen Nationalen Sicherheitsberater John Bolton, als er nach der Zerstörung einer US-Drohne durch den Iran einen geplanten Gegenschlag absagte. Trump fand, ein Raketenangriff, der 150 Menschen das Leben kosten könnte, sei „im Verhältnis zum Abschuss einer unbemannten Drohne unverhältnismäßig“.

Bei Demokraten wie auch bei Republikanern hatte das Gebot, Gegner als Kriegsverbrecher und Terroristen zu verurteilen, die konventionelle Kunst der Diplomatie zunehmend abgelöst. Mit seiner Vorliebe für Deals stemmte sich Trump gegen diesen Trend. Im Juli wies er Forderungen zurück, Wladimir Putin als Kriegsverbrecher strafrechtlich zu verfolgen, und warnte, wer ein solches Vorgehen befürworte, gehe das Risiko einer Eskalation ein, weil dadurch „Friedensverhandlungen unmöglich wären“.

Auch in gesellschaftlichen Fragen hat sich Trump als eine Art Gemäßigter positioniert. Zwar sprach er sich für die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade aus und warf den Demokraten vor, sie befürworteten Gesetze, die es erlauben, das Ungeborene im neunten Schwangerschaftsmonat „aus dem Mutterleib zu reißen“, aber er hat sich auch mit Abtreibungsgegnern angelegt.

Als Ron DeSantis in Florida das Gesetz für ein Abtreibungsverbot nach der sechsten Woche unterschrieb, bezeichnete Trump das als „einen schrecklichen Fehler“. Trumps rechte Kritiker werfen ihm oft vor, nicht ausreichend hinter konservativen gesellschaftlichen Positionen zu stehen. Das könnte stimmen – aber es dürfte für die Wahl kein Nachteil sein. Indem sich Trump sowohl gegen Spätabbrüche als auch gegen besonders weitgehende Abtreibungsverbote ausspricht, nimmt er die konfuse Stimmung im Großteil seiner Wählerschaft auf.

Auf beiden Seiten des politischen Spektrums vertreten viele, die Trumps gemäßigte Position übersehen, fälschlicherweise die Ansicht, er habe seinen Aufstieg randständigen Ideologien zu verdanken. Natürlich pflegt Trump Kontakte zu Mitgliedern des bizarren rechten Randes. Doch Trump unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von den Extremisten, mit denen er manchmal gleichgesetzt wird. So hat er sich zum Beispiel mit der Unterzeichnung des First Step Act – eines parteiübergreifenden Gesetzes, das Ron DeSantis als „Gefängnisausbruchsgesetz“ anprangerte – für eine Strafjustizreform eingesetzt. Eine Position, mit der er sich ausdrücklich an schwarze Amerikaner wandte.

Behauptungen aus Trumps Wahlkampfteam, die ehrgeizigsten seiner Wahlversprechen seien „rein spekulativ“ und „nur als Vorschläge“ zu verstehen, könnten dem Versuch dienen, Trumps Bestrebungen in ihrem ganzen Ausmaß zu verschleiern. Vielleicht spiegelt sich darin auch seine langjährige Verhandlungsstrategie wider, große Töne zu spucken, um anschließend bescheidenere Deals abzuschließen. Eine zweite Amtszeit Trumps könnte durchaus radikaler und weniger pragmatisch ablaufen als die erste. Das Wahlvolk sollte diese Möglichkeit in Erwägung ziehen. Seine erste Amtszeit gibt jedoch Anlass zu glauben, dass es nicht so kommen wird.

Am Thema Migration entscheidet sich, was man von Trumps Spielart gemäßigter Politik tatsächlich erwarten kann. Er verspricht nun, umfassender und effektiver gegen illegale Einwanderung vorzugehen als in seiner ersten Amtszeit, was auch den Bau von Internierungslagern einschließt. In der Einwanderungsfrage vertrauen laut einer aktuellen Umfrage 53 Prozent der registrierten Wählerinnen und Wähler Trump mehr als Biden, nur 41 Prozent geben Biden den Vorzug.

Vielleicht spiegelt sich in diesen Zahlen mangelnde Kenntnis über das Ausmaß von Trumps Plänen. Vielleicht verweisen sie aber auch auf eine verbreitete Unzufriedenheit mit dem Status quo. Im Oktober hatte es die US-Zoll- und Grenzschutzbehörde an der Südgrenze mit mehr als 240 000 Menschen zu tun, die versuchten, in die Vereinigten Staaten einzureisen, und zwischen Oktober 2022 und September 2023 wurden 169 Personen, deren Namen auf der Terrorliste standen, bei dem Versuch verhaftet, die Grenze zu überqueren.

Tatsächlich wird die Radikalität von Trumps Vorgehen beim Thema Einwanderung gern überzeichnet. Biden behielt die aus der Covid-Zeit stammende Title 42-Regelung bei, mit der Trump Abschiebungen beschleunigt hatte, und er weitete sie sogar noch aus, bevor er sie in diesem Jahr auslaufen ließ. Obwohl Biden 2021 erklärte, „der Bau einer massiven Mauer, die die gesamte Südgrenze abdeckt, ist keine ernsthafte politische Lösung“, verlängerte er die Trump-typischen Maßnahmen.

Bidens Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas räumte im Oktober ein, es sei „akut und unmittelbar notwendig, physische Barrieren zu errichten“, um „illegale Einreisen zu verhindern“. Nicht einmal Trumps Wahlversprechen, Internierungslager zu errichten, steht in völligem Widerspruch zur derzeitigen Politik: In diesem Herbst hat die Biden-Regierung zwei Lager wiedereröffnet, um minderjährige Migranten unterzubringen.

Schicksalsjahr 2024 – Putin, Hamas, Trump und die Logik der Zerstörung

Schicksalsjahr 2024 – Putin, Hamas, Trump und die Logik der Zerstörung

von Albrecht von Lucke

Zwei Kriegsschauplätze haben das vergangene Jahr – jedenfalls aus westlicher Sicht – entscheidend geprägt: die Ukraine und Israel/Palästina. In beiden Fällen bestreiten die Angreifer, Russland wie die Hamas, das Existenzrecht ihrer Gegner. Gemeinsam ist beiden zudem absolute Menschenverachtung, die selbst vor der eigenen Bevölkerung nicht Halt macht – ob als massenhaft verheizte Soldaten im Falle Putins oder gar als ganz bewusst geopferte Zivilisten im Falle der Hamas. Beide Akteure verbindet schließlich, trotz aller Unterschiede zwischen der Terrormiliz und der imperialistischen Diktatur, ein zentrales Moment: die Logik der Zerstörung als Basis eines stetig wachsenden strategischen Vorteils gegenüber dem Westen.

2024 könnte damit zu einem Schicksalsjahr werden. Beide Kriege sind blutig festgefahren. Doch während der Krieg in Gaza immer mehr Zivilisten das Leben kostet, droht das aktuelle Patt in Putins Krieg spätestens dann in eine Niederlage der Ukraine umzukippen, wenn am Ende des Jahres tatsächlich Donald Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt werden sollte und er mit seiner Ankündigung ernst machen könnte, den Krieg binnen eines Tages zu beenden, sprich: die Ukraine im Stich zu lassen. Bereits jetzt gaben die Republikaner einen Vorschein dieser möglichen neuen Lage, indem sie im Senat eine weitere Unterstützung der Ukraine blockierten.

Damit droht das Pendel in den nächsten Monaten zugunsten der Aggressoren auszuschlagen. Putin und die Hamas eint ein strategischer Grundansatz: Da eine Überwindung des Gegners durch eigene Attraktivität oder die Eroberung des gegnerischen Territoriums (bisher jedenfalls) nicht möglich ist, setzen sie auf ein anderes Mittel – das der reinen Destruktion. Im Falle Russlands ist diese Strategie evident: Seit Moskau an der schnellen Eroberung Kiews gescheitert ist, hält es sich an der Zerstörung der Ukraine „schadlos“. Die Strategie der Hamas dagegen ist komplexer und perfider: Sie zielte mit ihrem brutalen Massaker an israelischen Zivilisten von Anfang an darauf ab, den Gegner zu einer massiven Reaktion zu provozieren, was Israel mit der flächendeckenden Zerstörung Gazas prompt erfüllte.

Die Regierung von Benjamin Netanjahu unterliegt dabei einem fatalen Irrtum, falls sie annimmt, dass sich die Wut der Palästinenser primär gegen die eigene Führung richten werde. Das Gegenteil ist der Fall: Indem Israel die Verbrechen der Hamas mit eigener massiver Zerstörung beantwortet, geht die Rechnung der Terrormiliz auf – die Wut auf Israel immer größer werden zu lassen und dadurch wenn möglich genau jenen „dauerhaften Kriegszustand an allen Grenzen Israels“ zu erzeugen, auf den die Terroristen letztlich abzielen.[1] Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Hamas jederzeit bereit, die eigenen Untertanen im Dschihad, im „heiligen Krieg“, zu opfern, ob als Terroristen oder auch als hilflose Zivilisten.

Somit haben wir es heute mit einer Form des heißen Krieges zu tun, in dem die Aggressoren weniger auf die Eroberung als vor allem auf die Zerstörung ihres Gegners abzielen und dabei strategisch zu gewinnen drohen.

Vom Wettstreit der Systeme zur Vernichtung des Feindes

In dieser Logik der Zerstörung liegt der zentrale Unterschied zum alten Systemkonflikt des Kalten Krieges. Dieser war letztlich, trotz seiner Möglichkeit zu atomarer Vielfachzerstörung (overkill), paradoxerweise immer auch ein konstruktiver Konflikt, bei dem die beiden Kontrahenten versuchten, im Wettstreit die je andere Seite zu übertrumpfen.

Die kompetitive Logik begann spätestens dann, als die Sowjetunion 1957 mit dem „Sputnik“-Schock – ausgelöst durch die erste Raumsonde in einer Erdumlaufbahn – den Westen ins Hintertreffen geraten ließ. Es war John F. Kennedy, der 1963 in seiner Rede vor den Vereinten Nationen einerseits das andere System anerkannte, auch um den Frieden zu sichern, aber andererseits klarstellte, dass man im Sinne einer friedlichen Koexistenz den Wettbewerb aufnehmen werde, auch um auf diesem Wege das möglichst beste Ergebnis zu erzielen: „Im Wettstreit um ein besseres Leben wird die gesamte Welt der Sieger sein.“ Dieser Wettkampf fand auf fast allen Gebieten statt, von der Raumfahrt über die Wirtschaft bis zum Sport.[2] Und er endete erst mit der großen Rede Michail Gorbatschows 1988 an gleicher Stelle, mit der der sowjetische Staats- und Parteichef aus der Ära der Konkurrenz in eine Ära der produktiven Zusammenarbeit unter dem Dach der Vereinten Nationen eintreten wollte[3] – durchaus auch der Einsicht folgend, dass das starre Sowjetsystem der Dynamik des Kapitalismus nicht gewachsen war.

Heute hingegen ist das Verhältnis zwischen Ost und West aus Sicht des Kremls wieder ein radikal antagonistisches, fundamental feindliches, und damit ist diese Position exemplarisch für viele radikal anti-westliche, anti-liberale Bewegungen, wie etwa die islamistische Hamas.

Die einzige Chance für Russland, so die Lehre Putins aus dem Scheitern der Sowjetunion und angesichts der Attraktivität der westlichen Lebensweise für die russischen Anrainerstaaten, besteht darin, das andere System so stark wie möglich zu schwächen. Wenn wir den Westen angesichts eines russischen Bruttosozialprodukts, das unterhalb des italienischen liegt, nicht auf konstruktive Weise herausfordern können, müssen wir ihn mit den Waffen der Destruktion bekämpfen, sprich: von außen wie innen heraus zerstören, so die Putin‘sche Konsequenz aus dem wirtschaftlichen Niedergang Russlands. Deshalb gehen die russischen Truppen in der Ukraine ohne jede Hemmung vor, wenn sie weite Teile des Landes verminen und sie so auf viele Jahre faktisch unbewohnbar machen. Derartige Zerstörung ist ein Kinderspiel, aber der Wiederaufbau dauert lang und ist immens teuer. Und Putin weiß genau, dass der Westen letztlich dafür aufkommen wird. Auf diese Weise betreibt er ganz gezielt die systematische Chaotisierung jener Staaten, die (noch) über eine rechtstaatlich-demokratische Ordnung verfügen.

Und während Putin auf die maximale Zerstörung der kritischen Infrastruktur des Feindes setzt, sucht er zugleich nach möglichen Alliierten in den Demokratien. Das beste Beispiel dafür ist sein instrumentelles, aber auch ideologisch grundiertes Verhältnis zu Rechtsradikalen wie Marine Le Pen oder der AfD. Indem er diese auch finanziell unterstützt, sichert er sich willige Gehilfen in den demokratischen Systemen, um diese von innen zu unterwandern und auszuhöhlen.

Bei dieser Strategie spielt die zynische Instrumentalisierung von Menschen eine zentrale Rolle. Dass Putin gezielt und massenhaft ukrainische Flüchtlinge erzeugt, erfüllt für ihn einen doppelten Zweck: Es destabilisiert die Ukraine, aber zugleich die Aufnahmeländer, also die Staaten der Europäischen Union. Ganz ähnlich das Kalkül der Hamas: Man nimmt die palästinensischen Toten und Binnenflüchtlinge bewusst in Kauf, um den Protest gegen Israel zu schüren. Und die Zerstörung des äußeren Feindes korrespondiert mit der des inneren Gegners. Seit ihrer Machterlangung im Jahr 2007 hat die Hamas jede weitere Wahl unterbunden und ist mit aller Brutalität gegen die konkurrierende Fatah von Mahmud Abbas vorgegangen. Derweil werden in Russland die Restbestände von Rechtsstaatlichkeit insbesondere gegenüber kritischen Journalisten systematisch zerstört. Am Ende herrscht reine Willkür, wodurch die nächsten Präsidentschaftswahlen im März zur reinen Putin-Show verkommen werden.

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Cicero Buchpräsentation – „Der Selbstbetrug – Wenn Migrationspolitik die Realität ignoriert“

Israelische Historiker/Journalisten/Friedensaktivisten zum Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern