Friedensethik soll ein normatives Fundament für gerechtes Handeln und Orientierung bieten. Infolge des russischen Angriffskriegs wird dazu kontrovers diskutiert. Im Transcript-Verlag erschien ein Sammelband, der friedensethische Fragen anhand aktueller Brennpunkte diskutiert. Die Botschaft: Eine Ethik, die auf einem positiven, umfassenden Friedensverständnis gründet, ist nötig und möglich.
Der Band mit dem Titel „Friedensethik der Zukunft“, herausgegeben von den österreichischen Theologen Alois Halbmayr und Joseph P. Mautner, erschien Ende März als Buch und im kostenlosen Online-Format. Friedensethische Konzepte gerieten immer mehr unter Rechtfertigungsdruck, so schreiben die beiden katholischen Hochschullehrer im Vorwort. Der völkerrechtswidrige Überfall Russlands auf die Ukraine markierte „einen tiefen Einschnitt (…) in Bezug auf die europäische Sicherheitsarchitektur und Nachkriegsordnung“ und habe „zu einer Infragestellung vieler der bisher breit geteilten Überzeugungen in Bezug auf Krieg und Frieden geführt“. Das gängige Wort von der „Zeitenwende“ verdeutliche, dass sich in Politik und Ökonomie, sowie im gesellschaftlichen Diskurs grundlegende Parameter verschieben. Doch habe die Gewalt schon mit der Annexion der Krim im März 2014 begonnen, und neben der Gewalteskalation in Europa verstetigten sich in vielen anderen weltweiten Krisenherden bewaffnete Konflikte und Gewaltkulturen, zum Beispiel in Ländern, in denen sich staatliche Strukturen auflösen. All dies erfordere fundierte Analyse und eine „kritische Ausdifferenzierung überkommener Wahrnehmungsmuster von Krieg und Frieden.“
Vorzüge und Defizite friedensethischer Konzepte
Die Autor:innen des Sammelbands geben einen Überblick über bisherige friedensethische Denkansätze, stellen dann konkrete Brennpunkte und Herausforderungen in den Fokus, um Perspektiven für eine zukünftige Friedensethik zu erörtern. Beiträge aus theologischer und philosophischer Sicht beleuchten die Entwicklung von der klassischen Lehre vom „gerechten Krieg“ hin zur Ethik eines „Friedens durch Gerechtigkeit“. Sie diskutieren Vorzüge und Defizite der Ansätze und benennen offene Fragen. Joseph P. Mautner widmet sich in seinem Beitrag („Wege aus dem Dunkel des Krieges?“) der Ästhetik von Krieg und Frieden. Alois Halbmayr verdeutlicht: wer den Frieden will, muss diesen aktiv vorbereiten („Er muss also gestiftet werden… Frieden als ein denkerisches Projekt und eine praktische Aufgabe“). Werner Wolbert untersucht Diskurse über Menschenrechte in der christlichen Theologie und kirchlichen Praxis. Dazu passt der Beitrag von Heiner Bielefeldt im zweiten Teil des Bandes: er definiert „Frieden als Menschenrecht.“ Annemarie Sancar analysiert die Potenziale Feministischer Politikansätze „in Zeiten von Krieg und darüber hinaus.“ Regina Elsner untersucht das Verhältnis von „Orthodoxie und Friedensethik in Russlands Krieg“.
Aktuelle Brennpunkte: Dilemmata und Herausforderungen
Der dritte und letzte Teil des Buches widmet sich aktuellen Brennpunkten und Herausforderungen, die eine Weiterentwicklung von Friedensethik erfordern. Martina Fischer analysiert friedensethische Dilemmata vor dem Hintergrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Sie beschreibt Debatten in den christlichen Kirchen in Deutschland, wo Fragen der militärischen Unterstützung für die Ukraine mindestens so kontrovers diskutiert werden, wie die Forderung nach Verhandlungen. Dorthe Siegmund geht der Wahrnehmung des Israel-Palästina-Konflikts nach. Ursula Liebing erläutert die friedenspolitische Bedeutung von „Flüchtlingsaufnahme und Asylgewährung“ und Ute Finckh-Krämer betrachtet die zivilgesellschaftlichen Potenziale für Friedensaufbau und Konfliktbearbeitung.
Perspektiven: Weg der kleinen Schritte
Die Beiträge verdeutlichen, dass ein Friedensverständnis, das umfassende Sicherheit (also „menschliche“ Sicherheit im Sinne der UN-Definition), Gewaltverbot, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechtsschutz, Asylrecht, Gendergerechtigkeit, fairen wirtschaftlichen Austausch und die Weiterentwicklung internationalen Rechts und internationaler Institutionen beinhaltet, keineswegs obsolet, sondern mehr denn je erforderlich ist. Klar ist jedoch auch, dass Frieden nicht als Endziel, sondern als Prozess zu verstehen ist. Ein solches Friedensverständnis sei „getragen von langfristigen Perspektiven sowie einem Weg der kleinen Schritte“, so die Herausgeber.
Raum für konstruktive Diskurse schaffen
Halbmayr und Mautner fassen zusammen: „Die vielen friedensethisch inspirierten Initiativen und Institutionen, im Großen wie im Kleinen, die verschiedenen Stiftungen, Thinktanks, die intellektuellen Debatten auf medialer wie akademischer Ebene und die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Bewegungen zeigen auf eindrückliche Weise, wie lebendig und produktiv das friedensethische Denken nach wie vor ist. Neue Herausforderungen verlangen nach einem konstruktiven Diskurs, der zu Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung führt. Und es zeigt sich: Eskalierende Konfrontation und generalisierende (Vor-)Urteile werden dem Anspruch einer friedensethischen Grundorientierung praktischen Handelns nicht gerecht.“ Trotz aller Rückschläge bleibe die Sehnsucht nach einem fairen und gerechten Frieden unvermindert bestehen.
Der Sammelband umfasst 240 Seiten und ist im Transkript-Verlag als Printpublikation für 35 Euro erhältlich und kann auch als pdf (kostenlos) heruntergeladen werden.
Die Autorin des Blogs hat für dieses Buch den Beitrag „Der Krieg gegen die Ukraine: Friedensethische Orientierung und Dilemmata“ verfasst.