Breites Bündnis kritisiert Sondervermögen für Aufrüstung der Bundeswehr

Breites Bündnis kritisiert Sondervermögen für Aufrüstung der Bundeswehr veröffentlicht am 2. März 2022

Gemeinsame Erklärung von Forum DL21, Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken, Institut Solidarische Moderne, Jusos Rheinland-Pfalz, Attac Deutschland, NaturFreunde Deutschlands, Naturfreundejugend Deutschlands, Hashomer Hatzair Deutschland e.V., European Alternatives Berlin, Klaus Barthel, Bundesvorsitzender Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerfragen (AfA),  Friedhelm Hilgers, Mitglied im Bundesvorstand AG60plus.

Das Forum Demokratische Linke 21 e.V., Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken, Institut Solidarische Moderne, Jusos Rheinland-Pfalz, Attac Deutschland, NaturFreunde Deutschlands, Naturfreundejugend Deutschlands, Hashomer Hatzair Deutschland e.V., European Alternatives Berlin, Klaus Barthel, Bundesvorsitzender Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerfragen (AfA),  Friedhelm Hilgers, Mitglied im Bundesvorstand AG60plus verurteilen Putins Angriffskrieg auf das Schärfste. Die russische Regierung muss sofort alle Angriffe stoppen, sich vollständig aus der Ukraine zurückzuziehen und die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine achten. Unsere größte Sorge gilt derzeit den Menschen in der Ukraine. Gerade jetzt bekennen wir uns, mehr denn je, zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Deshalb haben wir am vergangenen Sonntag in Berlin gemeinsam mit Hundertausenden Anderen für den Frieden demonstriert. Den Aufruf der am Bündnis beteiligten Organisationen und Gewerkschaften für ein Europa der Abrüstung, der Entspannung und der Verständigung teilen wir ganz ausdrücklich.

Wir lehnen das von Bundeskanzler Scholz am Sonntag vorgeschlagene Sondervermögen für Aufrüstung in Höhe von 100 Milliarden Euro und dauerhafte Rüstungsausgaben von über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ab. Das ist ein beispielloser Paradigmenwechsel, dem wir uns vehement entgegenstellen. Stattdessen sollte darüber diskutiert werden, wie wir den Menschen in der Ukraine schnellstmöglich helfen können.

Für eine gut ausgestattete Bundeswehr braucht es weder Sondervermögen noch weitere Milliarden. Die Bundeswehr ist nicht von einer Unterfinanzierung geplagt, sondern von strukturellen Problemen beim Management und der Beschaffung von Materialien. Die Bundeswehr muss reformiert, nicht aufgerüstet werden.

Darüber hinaus sollten jegliche Ausgaben für die Bundeswehr über den Weg des Verteidigungshaushalts gehen, inklusive eines Parlamentsvorbehalts, nicht über einen Sonderfonds – und erst recht nicht über einen  im Grundgesetz verankerten Sonderstatus für militärische Aufrüstung.

Was die Ankündigung eines Sonderfonds auch klar macht: Statt hektisch angekündigter Grundgesetzänderungen, sollte die Schuldenbremse abgeschafft werden. Sie ist nicht zeitgemäß und führt zu immer absurderen Finanzposten-Konstruktionen.

Es darf zudem keine militärische Aufrüstung auf Kosten von sozialen Leistungen geben. Wir stehen vor großen Herausforderungen, deren Bewältigung all unsere Kraft braucht.

Unser Gesundheitssystem steht weiterhin unter immenser Belastung und muss auskömmlich finanziert werden. Eine Reform der Renten- und Sozialleistungen benötigt viel Geld. Die Umgestaltung unserer Wirtschaft bringt enorme Kosten mit sich. Das Überleben der Menschheit hängt davon ab, ob es uns gemeinsam gelingt, die Klimakrise und die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu bekämpfen.

Für die Lösung dieser Menschheitsaufgaben müssen wir alle unsere Kraft aufwenden. Wir können es uns nicht leisten, die dafür dringend benötigten Ressourcen für Kriegsgerät auszugeben. Dies muss unsere gemeinsame Verantwortung sein, das sind wir nachfolgenden Generationen schuldig.

Klaus Barthel, Bundesvorsitzender Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerfragen (AfA)

Friedhelm Hilgers, Mitglied im Bundesvorstand AG60plus

Generaldebatte im Bundestag am 23. März 2022 – auch Diskussion des Einzeletats des Verteidigungministeriums

#Bundestag #Generaldebatte #Livestream  GENERALDEBATTE im BUNDESTAG: Ampel-Koalition auf dem Prüfstand | LIVE DABEI –119.694 Aufrufe – Live übertragen am 23.03.2022 – WELT Nachrichtensender – 

In der ersten Generaldebatte des Bundestags seit dem Regierungswechsel steht am Mittwoch die Politik der Ampel-Koalition auf dem Prüfstand (ab 09.00 Uhr). Die auf vier Stunden angesetzte Debatte über den Etat des Kanzleramts hat traditionell den Charakter einer Generalaussprache über die Politik der Regierung. Als Chef der größten Oppositionsfraktion wird der CDU-Politiker Friedrich Merz die Debatte eröffnen. Nach ihm spricht Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Auch alle anderen Fraktionsvorsitzenden wollen das Wort ergreifen.

Der Etat des Kanzleramtes sieht in diesem Jahr Ausgaben von 3,7 Milliarden Euro vor, das ist im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang um 14,3 Prozent.

Ebenfalls diskutiert werden am 23. März 2022 die Einzeletats für das Auswärtige Amt (13.00 Uhr), das Verteidigungsministerium (14.45 Uhr, ab 5:58:04) und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (16.30 Uhr). 

Bundeshaushaushalt 2022 Protokoll Erste Lesung 23.3.22, Aussprache über den Etat des Verteidungsministeriums von Seite 1986 bis Seite 2006

Sondervermögen Bundeswehr: Panikpolitik

Quelle: IPG-Journal

Außen- und Sicherheitspolitik 15.03.2022 | Herbert Wulf

Panikpolitik

Die Modernisierung der Bundeswehr ist überfällig. Wir dürfen das Pferd jedoch nicht von hinten aufzäumen. Es braucht eine nüchterne Bedarfsanalyse.

Zuerst Finanzen bereit zu stellen und dann zu fragen, was damit geschehen soll, ist die falsche Reihenfolge. Als Reaktion auf Russlands Aggression kündigte Bundeskanzler Scholz ein „Sondervermögen Bundeswehr“ von 100 Milliarden Euro an. So verständlich der Wunsch zur raschen Modernisierung der Bundeswehr sein mag, so wenig ist er Ergebnis einer nüchternen Analyse. Es ist Panikpolitik, die der Bundeswehr kaum nützt.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist durch den Krieg Russlands eine dringende Notwendigkeit. Auch die Bundeswehr, als Rückgrat unserer Verteidigung, bedarf der Reform und neuer strategischer Ausrichtung. Doch dies vor allem durch mehr Geld in Angriff zu nehmen, führt zur Verschwendung knapper Ressourcen. Vorrangig ist eine strategische Debatte über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr nötig, nicht aber eine riesige Geldspritze.

Natürlich kann die Bundeswehr mehr finanzielle Mittel gebrauchen, um Panzer, Hubschrauber, Schiffe, Kampfflugzeuge oder Drohnen zu beschaffen. Aber für welchen Zweck? Um weiterhin Auslandseinsätze zu ermöglichen oder sie effizienter zu gestalten? Um bei Staatsversagen irgendwo auf der Welt eingreifen zu können? Um den in unserer Verfassung niedergelegten Auftrag zur Landesverteidigung durchführen zu können? Um den baltischen Ländern bei einer Aggression Russlands beizustehen? Um die Ostflanke der NATO zu stärken? Und soll dies im Rahmen einer auch militärisch unterfütterten Rolle der EU passieren, wie dies schon länger vom französischen Präsidenten Macron gefordert wird? Oder geht es sogar – gemeinsam mit den USA – um den Stopp der chinesischen Marineaktivitäten im Südchinesischen Meer? Oder gegen die Iraner in der Straße von Hormus, wenn unsere Ölversorgung bedroht werden sollte? Angesichts der völlig neuen sicherheitspolitischen Lage sind dies ernsthafte Fragen, die zunächst einmal geklärt sein müssen, bevor mit vollen Händen Geld ausgegeben wird.

Es gibt keinen Grund, überstürzt ein so riesiges Sondervermögen für die Bundeswehr anzukündigen. Der Krieg in der Ukraine wird dadurch keinen Tag früher enden und die Neuausrichtung der Bundeswehr geschieht ebenso wenig kurzfristig.

Aber, so heißt es, die Bundeswehr ist unterfinanziert. Sie wurde kaputtgespart. Kampfflugzeuge sind nur bedingt einsatzfähig, U-Boote tauchen nicht, die schon lange avisierten Fregatten werden nicht ausgeliefert, Hubschrauber und Lufttransportkapazitäten sind Mangelware. Ersatzteile fehlen an allen Ecken und Enden. Die Maschinengewehre taugen nicht bei den hohen Temperaturen in Mali. Es fehlt an warmer Kleidung und Zelten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es sei daran erinnert, dass die Ausgaben für Verteidigung (nach NATO-Kriterien) in Deutschland seit 2014 von knapp 34 Milliarden Euro auf über 53 Milliarden im Jahr 2021 erhöht wurden. Es ist ein Mythos, dass die Bundeswehr schlecht ausgerüstet ist, weil sie zu wenig Geld bekommt. Mangelnde Finanzen sind nicht das eigentliche Problem, sondern verkrustete Strukturen bei der Beschaffung, strukturelle Defizite bei Entwicklung, Produktion und Beschaffung und erhebliche zeitliche Verzögerungen bei der Auslieferung der bestellten Waffen.

Belege dieser miserablen Lage gibt es allenthalben. Die Probleme des Lufttransportflugzeugs A 400 sind ein Paradebeispiel für eine verzögerte und überteuerte Lieferung – zudem unterhalb der zugesagten Leistungen. Schon 2018 bemängelte der Wehrbeauftragte, dass nur 50 Prozent der Flotte einsatzbereit seien. Seit der ersten parlamentarischen Befassung mit dem Transportflugzeug hat sich das Vorhaben um mehr als zwölf Jahre verzögert. Noch immer sind die Flugzeuge nicht ausgereift, ein Armutszeugnis für den Hersteller. Dies ist nicht das einzige Gerät, mit dem sich die Luftfahrtindustrie verhoben hat und damit die Bundeswehr in Schwierigkeiten bringt. Deutliche Parallelen zeigen sich auch beim deutsch-französischen Transporthubschrauber NH90. Das Verteidigungsministerium bezifferte 2018 die durchschnittlichen zeitlichen Verzögerungen bei Großprojekten auf fünf Jahre und drei Monate.

Zweifellos bedarf also die Bundeswehrbeschaffung dringend einer gründlichen Reform. Sie ist auch schon mehrfach angekündigt worden. Doch die bisherigen Reformvorhaben wurden nur kümmerlich umgesetzt. Neben den viel zu bürokratischen Beschaffungsabläufen gibt es vor allem zwei Gründe für diese Misere.

Zwar hat es erstens immer Bekenntnisse zur Auswahl der besten Systeme für die Bundeswehr gegeben. Die Soldatinnen und Soldaten sollen schließlich vorbildlich ausgerüstet und geschützt sein. De facto wurde in der Praxis jedoch immer darauf geachtet, dass bei der Auftragsvergabe möglichst deutsche Firmen berücksichtigt werden. Auch wenn das hieß, dass bei der Leistungsfähigkeit der Systeme, bei den Terminen der Auslieferung und beim Preis Abstriche gemacht werden mussten. Bei der Beschaffung von Waffensystemen fehlt weitgehend der Wettbewerb.

Zweitens gibt es bei der Rüstung einen Hang zur Verwendung von Hochtechnologie – ein Trend, der in den USA und der dortigen Rüstungswirtschaft als „over engineering“ oder als „Rüstungsbarock“ beschrieben wird. Immer mehr Technologie wird in ein Waffensystem gepackt. Die Streitkräfte möchten auf dem neuesten Stand der Technik sein. Und die Rüstungsindustrie neigt nicht nur zur Selbstüberschätzung hinsichtlich der eigenen technologischen Leistungsfähigkeit, sondern „muss“ auch durch immer neue technologische Anforderungen den ursprünglich anvisierten Preis des Waffensystems anheben.

Fehlende Finanzen sind also nur ein Teil des Problems. Deshalb ist es auch falsch, jetzt den Schwur zu leisten, in Zukunft das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nicht nur einzuhalten, sondern zu übertreffen. Das ist Symbolpolitik. Diesem Zwei-Prozent-Ziel unterliegt die absurde Logik, dass es in einer florierenden Wirtschaft – also bei einem hohen BIP – schwer zu erreichen ist, bei wirtschaftlichem Niedergang aber fast automatisch erzielt wird. Es ist grundsätzlich falsch, eine volkswirtschaftliche Größe wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zum zentralen Kriterium verteidigungs- und sicherheitspolitischer Entscheidungen zu machen.

Der richtige Weg wäre, akute wie potenzielle Herausforderungen und Gefährdungen zu benennen und die zur Abwehr erforderlichen Kapazitäten der Bundeswehr, einschließlich der erforderlichen Ausrüstung, zu definieren. Zuerst muss jedoch die Debatte über die strategische Ausrichtung geführt werden. Hieraus ergibt sich der finanzielle Rahmen, der gegebenenfalls unter oder auch über zwei Prozent des BIP liegen kann.

Stattdessen wird das Pferd nun von hinten aufgezäumt. Jetzt werden zuerst Finanzmittel versprochen, um dann zu entscheiden, wozu die Mittel eingesetzt werden. Mit der Steigerung der Ausgaben geht nicht zwingend eine der militärischen Leistungsfähigkeit oder Effizienz einher. Die Höhe des Haushaltes oder der Anteil der Ausgaben am BIP sagen überhaupt nichts über die militärischen Fähigkeiten der Streitkräfte aus. Plakativ ausgedrückt: Mehr Geld ist nicht gleich mehr Sicherheit. Bei aller Dramatik der Ereignisse der letzten Wochen gilt es, nicht in Panik oder Schockstarre Entscheidungen zu treffen, sondern einen kühlen Kopf zu bewahren, eine sorgfältige Analyse durchzuführen, um dann sach- und situationsgerecht zu entscheiden. Man kann nur hoffen, dass die Bundestagsabgeordneten von ihrem Recht Gebrauch machen, über den Haushalt zu entscheiden, und zuerst die strategische Debatte einfordern, um danach über die Finanzen abzustimmen.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist ehemaliger Leiter des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC). Er ist heute Fellow am BICC und am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Essen/Duisburg.

Ein neues Zeitalter der Aufrüstung

Quelle t-online Christoph Coeln – 22.3.22

Russland setzt im Ukraine-Krieg bereits eine neue Generation Waffen ein. Weitere militärische Eskalationen werden befürchtet. Der Sicherheitsexperte Ulrich Kühn sieht ein neues Zeitalter der Aufrüstung gekommen. 

t-online: Herr Kühn, Russland hat im Ukraine-Krieg offenbar ein neues Waffensystem getestet, das als „Wunderwaffe“ gilt. Warum setzt Russland dieses System ausgerechnet jetzt ein?

Ulrich Kühn: Es kann sein, dass Wladimir Putin dem Westen damit seine Durchsetzungsfähigkeit und militärische Stärke demonstrieren will. Es kann aber auch etwas anderes sein, dass nämlich dem russischen Militär langsam die Hochpräzisionswaffen ausgehen und man deswegen solche Systeme einsetzt. Das wiederum wäre ein Zeichen der Schwäche, denn es würde bedeuten, dass sich die russischen Munitionsdepots leeren. Ganz genau wissen wir das noch nicht.

Handelt es sich denn wirklich um eine „Wunderwaffe“?

Die Idee ist so neu nicht, die gab es schon im Kalten Krieg. Das Neue an diesem System ist, dass die Kinschal wegen ihrer semiballistischen Flugkurve während der gesamten Zeit innerhalb der Atmosphäre fliegen kann. Zusammen mit der Manövrierfähigkeit, mit der die Kinschal angeblich ausgestattet ist, macht es das gegnerischen Abwehrsystemen sehr schwer, eine solche Rakete vom Himmel zu holen. Und wenn das Trägersystem dann noch mit Decoys ausgestattet ist, also mit Täuschobjekten, sinken die Abwehrchancen zusätzlich.

Hohe US-Militärs, wie der General John E. Hyte, sprechen davon, dass sich die Nato gegen diese Systeme nicht verteidigen kann. Das klingt einigermaßen beunruhigend.

Es ist nicht so, dass es auf westlicher Seite gar keine Abwehrmöglichkeiten gibt. Systeme wie die Patriot sind durchaus effektive Abwehrsysteme, die ausgelegt sind, um ballistische Raketen und ihre Flugkörper herunterzuholen. Ob das bei der Kinschal aber schon möglich ist, dafür gibt es derzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse.

Dennoch schleicht sich ein Gefühl der Verwundbarkeit ein.

Der Krieg in der Ukraine wird unabhängig vom Einsatz dieser neuen strategischen Waffen zu einem Wiederaufflammen der Sicherheitsdebatte führen. Dabei geht es um die Frage, in welcher Form wir die Länder an der Ostflanke der Nato unterstützen, denn wir dürfen eines nicht vergessen: Durch den Ukraine-Krieg verschiebt sich die Karte. Bisher hatte die Nato eine Grenze mit Russland im Baltikum und in Polen. Jetzt verläuft die Grenze auch entlang von Ländern wie der Slowakei, Ungarn, Rumänien und, wenn man die Seegrenze im Schwarzen Meer dazuzählt, auch Bulgarien. Diese Länder werden mit gutem Recht fragen: Tut die Nato militärisch genug für unsere Sicherheit?

Welche Antwort sollten wir ihnen geben?

Wir werden sehr bald eine neue Stationierungsdebatte führen, wie man diese Länder konventionell rückversichern kann. Ganz konkret: Was müssen da für Verbände hingesetzt werden, wie viele Soldaten müssen dort stehen, welche Luftabwehrsysteme können und wollen wir dahin setzen? Das ist auch eine Kostenfrage, denn Luftabwehrsysteme sind kostspielig.

Es droht uns also eine neue Aufrüstungsspirale?

Ja, ich sehe leider eine klare Remilitarisierung auf Europa zukommen. Ob das Ganze einen Rüstungswettlauf bedeutet, wissen wir noch nicht. Aber ich möchte es nicht ausschließen. Und ich würde auch nicht ausschließen, dass die Nato irgendwann eine neue Debatte beginnt über die mögliche Stationierung nuklearer oder zumindest von Dual-Use-Systemen in Osteuropa, also solcher Systeme, die konventionelle und nukleare Sprengköpfe tragen können.

Putin wirft uns also in die Zeit des Kalten Krieges zurück?

Man muss das leider so sagen. Ich würde sogar sagen, dass wir uns in einer längeren Krise befinden, die unter Umständen schwerer sein wird als die Kuba-Krise 1962 und die eine klare nukleare Dimension besitzt.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass Putin den Konflikt auch auf Nato-Gebiet ausweitet?

Momentan gibt es keine Anzeichen dafür, dass Putin oder sein Militär eine weitere Eskalation gegen die Nato forciert. Was ich aber sehe, ist die Gefahr unbeabsichtigter Eskalation. Beispielsweise an der Grenze der Ukraine zur Slowakei. Dort gibt es einen Flugplatz, der sehr nah an der Grenze liegt. Wenn Russland diesen Flugplatz mit Hochpräzisionslenkwaffen bombardieren sollte, kann es durchaus passieren, dass ein oder zwei davon auf Nato-Gebiet landen. Das passiert in einem heißen Krieg schon mal.

Dann würde der Bündnisfall nach Artikel 5 eintreten. Das würde aber nicht zwangsläufig eine nukleare Eskalation bedeuten.

Das ist richtig. Es gibt eine Hotline zwischen hochrangigen russischen und amerikanischen Militärs, um etwa ein solches Szenario wie mit der verirrten Rakete schnell aufzuklären. Die Chance einer nuklearen Eskalation ist momentan sehr gering, aber sie ist eben auch nicht bei null, und ich könnte mir vorstellen, dass sie in den kommenden Wochen noch steigt, je mehr Putin mit dem Rücken zur Wand steht. Er muss Nuklearwaffen ja nicht unbedingt gegen die Nato einsetzen, er könnte sie auch gegen die Ukraine einsetzen.

Mit taktischen Nuklearwaffen?

Nuklearwaffen mit einer kürzeren Reichweite und unter Umständen auch einem kleineren Gefechtskopf, der eine geringere Sprengkraft hat. Aber was heißt in diesem Fall schon „klein“?

Es gibt keinen „kleinen“ Atomkrieg.

Ein Einsatz von Nuklearwaffen zum jetzigen Zeitpunkt würde bedeuten, dass wir ein 77 Jahre lang bestehendes Tabu gebrochen sehen würden. Das wäre das Schlimmste, was wir erleben könnten. Und ich hoffe sehr, dass das nicht passieren wird.

Wie sieht es mit einer Eskalationsstufe darunter aus, dem Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen?

Nachdem der Krieg für Putin gar nicht nach Plan verläuft, Russland sich jetzt auf den Beschuss durch klassische Artillerie verlegt und dabei anscheinend auch thermobarische Systeme einsetzt, wäre das natürlich die nächste Eskalationsstufe. Was wir bislang noch nicht gesehen haben, ist der Einsatz chemischer Waffen, wie Russland es im Syrienkrieg gemacht hat. Aber es gibt zu denken, dass es von russischer Seite diese öffentlich vorgebrachten Lügen gibt, dass es angeblich B- und C-Waffenprogramme in der Ukraine gebe. Das sind klare Lügen. Die Uno hat sich dazu ja auch schon entsprechend geäußert. So was lässt natürlich die Möglichkeit offen, dass Russland False-Flag-Aktionen und möglicherweise C-Waffen einsetzt, um es dann der ukrainischen Seite in die Schuhe zu schieben. Auch das haben wir bereits in Syrien gesehen. Das wäre extrem schlimm. Natürlich zuerst für die Zivilbevölkerung. Es würde aber auch den Druck auf den Westen erhöhen, irgendetwas zu tun. Vor diesem Irgendetwas warne ich als jemand, der sich seit Jahren mit solchen Eskalationsdynamiken beschäftigt.

Weil?

Weil das in der Konsequenz bedeutete, dass die Nato mit Truppen in die Ukraine hineingehen, russische Stellungen beschießen und Präzisionsschläge gegen russisches Territorium vornehmen müsste. Und da wäre es dann angebracht, die Worte von Joe Biden zu wiederholen: Dann wären wir mitten im Dritten Weltkrieg.

Dr. Ulrich Kühn ist Leiter des Forschungsbereichs „Rüstungskontrolle und Neue Technologien“ am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Er ist außerdem ein Non-Resident Scholar des Nuclear Policy Program, Carnegie Endowment for International Peace, sowie Gründer und Ständiges Mitglied der trilateralen Deep-Cuts-Kommission. Vor seinem Wechsel zum IFSH arbeitete Ulrich Kühn für das Vienna Center for Disarmament and Non-Proliferation, die Helmut-Schmidt-Universität und das Auswärtige Amt.