Putins Krieg – Geschichte als Waffe

Putins Krieg – Geschichte als Waffe | Terra X

115.161 Aufrufe . 13.03.2022 –Terra X – 

Kreml-Chef Putin nutzt Russlands Geschichte und imperiale Tradition zur Rechtfertigung für den Krieg gegen die Ukraine. Sind seine Begründungen historisch fundiert oder deutet er die Vergangenheit um?

Vor seinem Angriff auf die Ukraine hält der russische Präsident zwei Fernsehansprachen, in denen er die Geschichte zum propagandistischen Waffenarsenal macht. In diesem Video blicken wir auf Momente, Personen und Wendepunkte aus 1000 Jahren russischer Geschichte, auf die Putin sich bezieht. Renommierte Expertinnen und Experten ordnen das Geschichtsbild des russischen Präsidenten kritisch ein.

Auf dem Prüfstand steht zum Beispiel Putins Glaubenssatz von der „historischen Einheit der Russen und Ukrainer“ oder auch die Behauptung, die Ukraine verdanke ihre Existenz dem Sowjetführer Lenin. Der Film fragt: Was hat es mit der historischen Wirklichkeit zu tun, wenn der Sieg über Hitler vor allem für Russland verbucht wird und die Ukrainer eher als Nazi-Kollaborateure abgestempelt werden? Was ist dran am Vorwurf gegen die NATO, dass sie mit ihrer Osterweiterung Russland belogen, betrogen und bedroht habe?

/Kapitel// 00:23 Intro 02:01 Putins Sicht auf die Geschichte 05:22 Gemeinsame Wurzeln von Russen, Belarussen und Ukrainern 08:58 Putins historische Vorbilder 12:58 Erster Weltkrieg & Februarrevolution 17:00 Stalin, Holodomor & Zweiter Weltkrieg 23:21 Von Chruschtschow bis Gorbatschow 28:54 Putin und die NATO-Osterweiterung 33:19 Die „Orangene Revolution“ 38:00 Der Krieg in der Ukraine

Team// Autoren: Stefan Brauburger, Stefan Gierer Schnitt: Christian Herold

Prof. Dr. Horst Teltschik – Russland und der Westen

Horst Teltschik | Unsichere Welt – Wie bedrohlich ist Putins Russland? (NZZ Standpunkte 2007) 

7.858 Aufrufe – 11.10.2015 – NZZ Standpunkte –  

Russlands Präsident Putin hat jüngst die Tonalität gegenüber dem Westen deutlich verschärft, sei es im Umgang mit Estland, sei gegenüber Europa am EU-Russland-Gipfel in Samara, sei es gegenüber den USA im Fall der Raketenabwehr. Das weckt Erinnerungen an die Zeit der bipolaren Konfrontation vor 1989. – Wie bedrohlich ist Russland wirklich? Was ist aus der neuen Weltordnung geworden, die Präsident George Bush nach 1989 proklamierte? Leben wir nicht vielmehr in einer Welt der Unordnung – hervorgerufen durch ein wiedererstarkendes Russland, den islamistischen Terrorismus, die Atomaspirationen Irans, den Krieg in Irak, den Energiehunger Chinas? –

Seit Jahren ein profunder Beobachter der internationalen Sicherheitspolitik ist Prof. Dr. Horst Teltschik. Er hat als Vorsitzender der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar Präsident Putin die Plattform geboten, auf der dieser zum ersten Mal öffentlich die kompromisslosere Aussenpolitik Russlands ankündigte. Teltschik war während Jahren der engste aussenpolitischer Berater von Bundeskanzler Kohl und hat an dessen Seite die Ereignisse von 1989 und deren Folgen aus allernächster Nähe miterlebt. Mit ihm unterhalten sich Markus Spillmann und Marco Färber in der Sendung NZZ Standpunkte. Sendung vom 2. Juni 2007


Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007

43. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik vom 9. bis 11. Februar 2007, Bayerischer Hof Motto: „Frieden durch Dialog: Globale Krisen – Globale Verantwortung“ Redetext auf deutsch: http://www.ag-friedensforschung.de/th…

Redetext und Video auf russisch: http://www.kremlin.ru/events/presiden… Redetext auf englisch: http://en.kremlin.ru/events/president…

Presseecho: https://www.spiegel.de/politik/auslan… „Wenn Putin die Welt tatsächlich als unipolar erlebt, dann wollte er wohl heute darauf aufmerksam machen, dass sich sein Russland dem nicht beugen will.“ https://www.zeit.de/online/2007/07/Pu… „Nach dem Auftritt Putins besteht für den Westen nicht der geringste Anlass zur Beruhigung.“ https://www.welt.de/politik/article69… „Viele Konferenzteilnehmer sind sich einig, dass Putins scharfe Rede in erster Linie für den heimischen Markt in Russland bestimmt ist. Amerikaner und Russen hätten viel zu viele gemeinsame Interessen, als dass sie sich auf einen neuen „Cold War“ einlassen könnten.“ https://www.reuters.com/article/us-ru… „NATO Secretary-General Jaap de Hoop Scheffer said he was disappointed by Putin’s statement that alliance enlargement was “a serious factor provoking reduced mutual trust”. “I see a disconnection between NATO’s partnership with Russia as it has developed and Putin’s speech,” he said. Kremlin spokesman Dmitry Peskov, however, denied the Russian president was trying to provoke Washington. “This is not about confrontation. It’s an invitation to think,” he told reporters.“


Russisches Roulette – Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Horst Teltschik und Stefan Kornelius

1.309 Aufrufe  – 31.05.2019 –

Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. Ein Gespräch mit Horst Teltschik und Stefan Kornelius/SZ

Die NATO und Russland befinden sich in einer Eskalationsspirale, die nicht selten an Sandkastenspiele trotziger Kinder erinnert: Truppen werden an die Grenze verlegt, die Militärs führen Manöver durch, die jeweils klar gegen den anderen gerichtet sind, es wird aufgerüstet und von gegenseitigem Vertrauen ist nichts mehr zu spüren. Wie konnte es so weit kommen?

Horst Teltschik zeigt in seinem Buch, wie die Chancen von 1989/90 auf eine stabile internationale Friedensordnung verspielt wurden und warum die heutige Konfrontation zwischen NATO und Russland durch eine neue Entspannungspolitik entschärft werden muss.

Horst Teltschik war unter Helmut Kohl stellvertretender Leiter des Kanzleramtes und Chef der Abteilung für auswärtige Beziehungen. Als Sonderbeauftragter spielte er eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit 1989/90. Von 1999 bis 2008 leitete Horst Teltschik die Münchner Sicherheitskonferenz. Stefan Kornelius ist Ressortleiter Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung


Horst Teltschik im Telepolis Salon 25.06.2019

1.945 Aufrufe – 04.07.2019

Telepolis-Salon am 25. Juni auf der Alten Utting mit unserem Gast Prof. Dr. Horst Teltschik

Vor 70 Jahren, am 4. April 1949, wurde die Nato als Verteidigungsbündnis gegründet, der Gegner hieß damals Sowjetunion.

Im selben Jahr, am 29. August, wurde die erste sowjetische Atombombe erfolgreich gezündet. Stalin hatte das sowjetische Atomwaffenprogramm nach dem Abwurf amerikanischer Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki beschleunigt.

Wir befinden uns wieder in einer ähnlichen Eskalationsspirale zwischen der von den USA dominierten Nato und Russland wie im Kalten Krieg vor 60 Jahren. Nach einer kurzen Phase der Wiederannäherung und der Möglichkeit einer neuen Friedensordnung nach der Auflösung der Sowjetunion begann mit der fortschreitenden Osterweiterung der Nato und den Plänen zur Stationierung des US-Raketenabwehrsystem in osteuropäischen Ländern nach der Aufkündigung des ABM-Vertrags erneut eine Phase der Eskalation, die schon längst wieder zu einem nuklearen Wettrüsten geführt hat, das mit Cyberwar-Szenarien, Hyperschallraketen oder -drohnen und autonomen (Waffen)Systemen noch gefährlich ist als im „alten“ Kalten Krieg, zumal neben der Nato und Russland auch China und weitere Staaten mitspielen und die Lage explosiver machen.

Horst Teltschick hat gerade ein Buch mit dem Titel „Russisches Roulette“ veröffentlicht, in dem er erörtert, warum die Chance nach dem Ende des Kalten Krieges nicht ergriffen wurde oder werden sollte, eine Annäherung zwischen Nato und Russland als Partner zu erwirken. Eine politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland in einem Gemeinsamen Wirtschaftsraum und damit auch eine neue Friedensordnung wäre in Aussicht gestanden, da mit der KSZE und später der OSZE schon etwas in Gang gebracht wurde.

Nach einigen Schritten in diese Richtung wurden aber nach und nach die Verbindungen durchschnitten und Verträge gekündigt. Teltschik beschreibt, wie die Chancen verspielt wurden und die Konfrontationspolitik vor allem der Nato zu der gefährlichen militärischen Eskalationsspirale geführt haben, in wir uns befinden. Teltschik hat wie kaum ein anderer die Zeit vom Ende des Kalten Kriegs über die Friedensbemühungen und bis zur neuen Eskalation politisch als Akteur und in Kenntnis von vielen der beteiligten Politiker mitverfolgt.

Der Politikwissenschaftler war ab 1970 für die CDU tätig und wurde 1972 vom damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl in die Staatskanzlei geholt. 1982 wurde er unter Kohl Leiter der Abteilung „Auswärtige und innerdeutsche Beziehungen, Entwicklungspolitik, Äußere Sicherheit“ und stellvertretender Leiter im Bundeskanzleramt in Bonn, er war als außenpolitischer Berater von Kohl und 1989/1990 an den Verhandlungen zur deutschen Einheit beteiligt.

Danach ging er in die Wirtschaft und war u.a. für Bertelsmann, BMW und Boeing tätig. Von 1999 bis 2008 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz, wo sich jährlich internationale Spitzen- und Sicherheitspolitiker, hohe Militärs, Vertreter der Rüstungsindustrie und internationalen Organisationen treffen. Teltschik spricht von einem „Kalten Frieden“ und wirbt für eine neue Entspannungspolitik.

Moderator: Florian Rötzer Das Buch: https://www.chbeck.de/teltschik-russi…

Ulrich Schmid | 100 Jahre Einsamkeit – Russland seit 1917 (NZZ Standpunkte 2017)

Ulrich Schmid | 100 Jahre Einsamkeit – Russland seit 1917 (NZZ Standpunkte 2017) – 9.643 Aufrufe – 02.10.2017 NZZ Standpunkte – 

„Die russische Oktoberrevolution von 1917 gehört zu den wichtigsten politischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Aus dem Staatsstreich einer radikalen linken Avantgarde entwickelte sich ein totalitäres Macht- und Gewaltsystem, das die Welt jahrzehntelang in Atem hielt. Mit dem Sturz der Sowjetunion 1991 schien der Spuk ein Ende zu haben. Doch zerschlugen sich unter Putin die Hoffnungen auf Eintracht in einem gemeinsamen europäischen Haus.

Mit dem St. Galler Slawisten und Russlandkenner Prof. Dr. Ulrich Schmid unterhalten sich NZZ Chefredaktor Eric Gujer und die Politikphilosophin Katja Gentinetta über die Oktoberrevolution und ihre Folgen bis heute.“

Sendung vom 23.9.2017

Ulrich Schmid: Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015.

Gekürzte Rezension, Quelle: Blog Litteratur.ch

Schmid analysiert den – vor allem seit der Krimannexion – neuen Traum vom russischen Imperium anhand der künstlerischen Aktivitäten in den unterschiedlichsten Medien (bis hin zum Computerspiel) und zeigt die sich mehr und mehr verstärkenden Versuche einer Gleichschaltung der öffentlichen Meinung. Und Putin trifft in diesem seinem Großmachtstreben offenbar den Nerv des russischen Bürgers, der über den Verlust seines Weltmachtstatus noch nicht hinweggekommen ist. …

Was sich anfangs sehr gut und eingängig liest (Schmid untersucht die Funktion der “Wahrheit” in totalitären Systemen und insbesondere den durch das Sowjetsystem geprägten Zugang Russlands), verkommt allerdings mit Fortdauer des Buches zu einer wenig erquicklichen Aufzählung der verschiedensten kulturellen Aktivitäten, die sich für oder gegen das herrschende Regime stellen, ohne dass deren tatsächliche Relevanz und Einfluss genauer dargestellt werden.

Schmid erzählt seitenlang den Inhalt belletristischer Werke (es ist die schiere Menge, die dabei ermüdet) …Trotzdem bekommt man einen Eindruck dieses für die meisten im Westen nicht wirklich fassbaren Landes: Der Traum von einem neuen Imperium resultiert nicht unwesentlich aus dem nie aufgearbeiteten Untergang des Sowjetreiches, der eine Art Minderwertigkeitsgefühl zurückgelassen hat. Genau dieses Gefühl in einem nationalistischen Großmachttraum zu bündeln ist Putin – vor allem durch Krim-Annexion und den Ukrainekonflikt – hervorragend gelungen.

Eine der wenigen im Buch referierten Zahlen einer Umfrage dokumentiert dies: 80 % der Russen würden einer solchen Großmachtphantasie auch persönliche (wirtschaftliche) Opfer bringen, das imaginierte Imperium ist wichtiger als der Lebensstandard. Humanistische Ideale haben wenig Platz: Sie gelten als Zeichen der Schwäche, als dekadent – und man hat den Eindruck, als ob Russland eine archaisch-nationalistische und pubertär anmutende Entwicklung nachzuholen sich anschickt.

Worüber man lachen könnte, wenn dies nicht einerseits ein höchst gefährliches Spiel wäre und wenn diese Dummheiten nicht auch in fast allen westlichen Ländern wieder Fuß zu fassen begännen (make America great again – Deutschland den Deutschen usf.). Es ist dieses im Grunde primitive, antizivilisatorische Denken, das etwa in Österreich die Rechtspartei veranlasst, Verständnis für das russische Tun zu äußern; ein überwunden geglaubtes Denken, das sein unheilvolles Potential im 20. Jahrhundert mehrfach entfaltete. Und das zumindest kurzfristig …wieder salonfähig geworden zu sein scheint. Insofern ist das Buch denn auch lesenswert: Es erlaubt einen Einblick in jene nationalistische Seele, die man schon auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgt glaubte.

Cornelia Klinger, Philosophin, über Care-Arbeit: „Es bleibt ein schlüpf­riger Rest“

Quelle: taz, 8.3.22

Cornelia Klinger, Philosophin, über Care-Arbeit: „Es bleibt ein schlüpf­riger Rest“

Was meinen wir eigentlich genau, wenn wir von Care-Arbeit sprechen? Die Philosophin Cornelia Klinger über Klassenverhältnisse und Lebenssorge.

taz: Frau Klinger, seit der Pandemie sprechen wir immer wieder von einer Care-Krise. Sehen Sie diese Krise auch?

Cornelia Klinger: Pflegeaufgaben hat es immer gegeben, und diese Art von informeller Arbeit bleibt seit jeher an den Frauen hängen. Ich würde deshalb sagen, Krise war immer.

Wäre es nicht sinnvoller, von Reproduktionsarbeit anstatt von Care zu sprechen? Um Arbeitsverhältnisse nicht auszublenden?

Ich verwende lieber den Begriff der Lebenssorge. Reproduktion wirkt wie ein Anhängsel von Produktion. Und „Re-“ wird auch leicht mit Unproduktivität in Verbindung gebracht. Der Begriff ist erklärungsbedürftig und deshalb nicht gut. Care hat ab den 1980er Jahren den Begriff der Reproduktion beiseitegeschoben. Das war zunächst einmal positiv, weil er eigenständig ist. Im englischsprachigen Umfeld ist Care alternativlos. Mir erscheint der Sorgebegriff im deutschsprachigen Raum aber vielfältiger, differenzierter und zutreffender als der zernudelte Care-Begriff, der sich in Car-Care, Skincare, Eyecare oder schlicht Customer Care ins Beliebige aufgelöst hat.

Lebenssorge statt Sorgearbeit – warum ist Ihnen genau diese Bezeichnung wichtig?

Ich möchte betonen, dass Sorge sehr viel mehr ist als Arbeit. Es ist ein Habitus, eine Haltung und Einstellung. Sorge hört auch nicht auf, wenn die Arbeit zu Ende ist. Sie sorgen sich um Sachen, die Sie nicht ändern können, die Ihnen Kummer bereiten. Wenn Sie etwa an den Begriff der Seelsorge denken, dann ist das – ohne Kirche in Betracht zu ziehen – in etwa das, was ich mit dem Lebenssorgebegriff zum Ausdruck bringen will.

Sie unterscheiden zwischen für sich selbst sorgen und für andere sorgen. Inwiefern?

Wir kommen nicht als selbstständige, handelnde und leistungsfähige Personen auf die Welt, die sofort ans Fließband gestellt werden oder übers Fließband befehlen können. Wir bedürfen erst einmal der Sorge anderer, die sich um uns kümmern. Das Ziel der Pflege und Erziehung durch andere Menschen ist unsere Selbstständigkeit. Wenn wir die erlangt haben, haben wir Verantwortung zu übernehmen für andere, bekommen Kinder oder sind für unsere alten Menschen zuständig. Und so dreht sich gewissermaßen der Kreislauf im Leben weiter vom Versorgt-Werden zum Für-sich-selbst-Sorgen, um für andere sorgen zu können, bis wir am Ende des Lebens auch wieder von anderen abhängig sein werden.

Immer mehr Menschen sprechen zwar über Care, gleichzeitig beobachten wir eine zunehmende Privatisierung von Care-Arbeit.

Seit den 2000er Jahren ist das Sorgen für alle, die nicht für sich selbst sorgen können, in den öffentlichen Fokus gerückt. Nicht zuletzt durch Veränderungen in den Versicherungssystemen ist Sorge zum Geschäft geworden. Hinzu kommt die Verwissenschaftlichung des Sorgewissens und die Technologisierung der Lebenssorge.

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?

In meinem Haus gibt es eine Psychotherapiepraxis für Kinder. Die wird von einigen Frauen geführt, die das übernehmen, was früher in der Familie recht oder schlecht abgehandelt wurde. Damit sind einerseits Familien von diesen Pflichten entlastet, die Leistung wird quantifiziert und besser qualifiziert, aber gleichzeitig strukturiert sich die Lebensaufgabe Kindererziehung um.

Ist es das, was Sie an anderer Stelle mit der „Vercareung“ aller Wirtschaftszweige gemeint haben?

Ja. Care-Aspekte dringen in Industrien ein, in denen wir Vermittlung brauchen. Denken Sie an Computertechnik, das kann niemand mehr alleine. Wir brauchen immer mehr erklärende, vermittelnde Instanzen. Je höher diese angesiedelt sind, desto mehr Wissen ist nötig. Die Teilung in schlecht bezahlte Hands-on-Jobs geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft wird immer mehr formales Wissen gebraucht, oft auf der Grundlage einer akademischen Ausbildung mit überprüften Qualifikationen und Abschlüssen. Sie benötigen Ingenieurwissen, technisches Know-how, um ablesen zu können, was da auf der Herz-Lungen-Maschine steht. Die Verhältnisse werden komplizierter, wenn das, was da bearbeitet wird, kein Ding ist, sondern ein anderer Mensch. Das ist ein Unterschied ums Ganze.

Einige haben von der Humanisierung und Emotionalisierung der neoliberalen Wirtschaft gesprochen, Prozesse, mit denen die Menschen in Unternehmer ihrer selbst verwandelt werden. Was heißt das für die konkrete Fürsorgearbeit, wird sie dadurch letztlich unsichtbar?

Das ist richtig. Je weiter diese Arbeit auf das Niveau von Ingenieur- oder Fachwissen gehoben wird, desto sichtbarer wird sie. Aber es bleibt ein schlüpfriger Rest im Dunkeln. Alles, was mit dem Leben von Lebewesen zu tun hat, hat jenen schlüpfrigen Rest, den die Arbeit an Dingen nicht hat. Natürlich verrotten auch Autos und Motoren stinken. Aber der Gestank von Lebewesen ist nicht nur unangenehmer, sondern problematischer. Diese Arbeit wird ausgeblendet, weil sie mit unseren eigenen dunklen Ecken zu tun hat, mit Gebürtlichkeit und Sterblichkeit, mit Generativität und Sexualität. Ich würde zur halbdunklen, informellen Lebenssorgearbeit übrigens auch Pornografie und Prostitution rechnen.

Wo kollidieren Lebenssorge als bezahlte Arbeit und Kapitalismus?

Die Frage ist, ob das Leben von Menschen profitabel gemacht werden kann. Ich glaube, da verzocken wir uns. Ja, solange die menschliche Arbeitskraft vermachtet und vermarktet wird, kann und soll auch Sorgearbeit – gut – bezahlt werden. Aber die Sache geht schief, wenn Profit zum einzigen Motiv der Lebenstätigkeit wird. Dieses Leben, das so ins Einzelne geht, und das so am Einzelnen hängt, das gepflegt und versorgt werden muss, das können wir der ökonomischen Rationalität nicht unterwerfen. Und jetzt ist die Frage: Ändern wir unsere Rationalität so, dass sie für unser Leben passt? Oder ändern wir unser Leben so, dass es in die rationalen Prozesse von Markt und Staat passt?

Im Herbst erscheint Ihr Buch „Die andere Seite der Liebe“ zum Thema Lebenssorge. Was ist die andere Seite?

Das Gegenteil von Liebe ist Hass. Und mit Ambivalenzen zwischen Liebe und Hass hat Sorge tatsächlich zu tun. Wenn´s gut geht, wird Sorge zu Liebe. Wenn es schlecht läuft, dann ist Sorge ein Verhältnis von wechselseitiger Abhängigkeit, das von allen Seiten gehasst werden kann. Ich hasse meine Mama, weil sie mir ständig vorschreibt, was ich zu tun habe, und meine Mama hasst mich, weil sie jetzt gern mal allein ausgehen würde. Eine Vergesellschaftlichung von Lebenssorgeaufgaben dämpft das ab und regelt das durch eine rationale Beziehung. Gegenüber den fast feudalen privaten Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Geschlechtern und Generationen hat das durchaus Vorteile. Und um diese Verhältnisse und die Veränderungen, die sie gegenwärtig erfahren, geht es in dem Buch.

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im Interview:  Cornelia Klinger ist außerplanmäßige Professorin für Philosophie an der Uni Tübingen. Sie arbeitet in den Bereichen politische Philosophie, Gender Studies, Ästhetik und Theoriegeschichte der Moderne. Ihr Buch „Die andere Seite der Liebe“ erscheint im Herbst bei Campus.

Erziehen, Zuhören, Pflegen – die einen nennen es Liebe, die anderen unbezahlte Arbeit. Nach wie vor sind es vor allem Frauen, die sie übernehmen, selbst da, wo sie bezahlt wird. In unserem Schwerpunkt „Frauentag“ fragen wir pünktlich zum feministischen Kampftag: Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die das Kümmern revolutioniert?

Weshalb Waffenlieferungen ein falscher Weg sind

IMI-Standpunkt 2022/010 (Update: 11.3.2022)

Ukraine-Krieg

Weshalb Waffenlieferungen ein falscher Weg sind

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 7. März 2022

Angesichts des russischen Angriffes auf die Ukraine nicht tatenlos zusehen zu wollen, ist sicher bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Westliche Waffenlieferungen sind aber ein grundfalscher Weg, der nur zu mehr Opfern und einer weiteren Eskalation führt, wofür im Folgenden einig Argumente zur Diskussion gestellt werden sollen.

Tabubruch Waffenlieferungen

Die deutschen wie auch die europäischen Rüstungsexportrichtlinien sind – eigentlich – völlig eindeutig: Sie untersagen Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete (siehe IMI-Analyse 2019/29). Natürlich wurde diese Regel immer wieder umgangen, sicher handelt es sich aber im Falle der Ukraine – wo dies nun in großem Umfang, offen und erklärtermaßen geschieht – um einen Präzedenzfall.

Mit dem Tabu, keine Waffen in Kriegsgebiete zu schicken, wurde in Etappen gebrochen: Vergleichsweise harmlos war noch die Zusage für 5.000 Gefechtshelme, die bereits vor dem russischen Einmarsch gegeben wurde. Dann wurde den Niederländern die Zustimmung erteilt, 400 Panzerfäuste aus deutscher Produktion an die Ukraine zu liefern und parallel dazu 14 gepanzerte Fahrzeuge genehmigt. Kurz darauf wurde die Lieferung von 1.000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen des Typs „Stinger“ beschlossen. Zuletzt genehmigte das Wirtschaftsministerium dann die Abgabe von 2.700 Flugabwehrraketen (Typ ‚Strela‘) aus ehemaligen NVA-Beständen.

Auf EU-Ebene wurde bereits im März 2021 die Einrichtung einer Europäischen Friedensfazilität (EFF) beschlossen (siehe IMI-Analyse 2021/17). Sie wurde für 2021 bis 2027 ursprünglich mit 5,7 Mrd. Euro befüllt und dient der Finanzierung von EU-Militäreinsätzen sowie von Rüstungsgütern für verbündete Akteure (der sog. „Ertüchtigung“). Obwohl darüber im Vorfeld lange gestritten worden war, können über die Fazilität auch letale Waffen – oder Rüstungsgüter, „die dazu konzipiert sind, tödliche Gewalt anzuwenden, wie es im EU-EFF-Ratsbeschluss heißt – finanziert werden. Die Friedensfazilität kommt nun in der Ukraine erstmals im großen Stil zum Einsatz – schon am 27. Februar 2022 wurde gemeldet: „Die Ukraine soll nach einem Vorschlag des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell für 500 Millionen Euro Waffen und Ausrüstung aus der Europäischen Union bekommen. […] Das Geld soll aus der sogenannten „Europäischen Friedensfazilität“ kommen. […] 450 Millionen Euro sind nach dem Vorschlag für Waffen vorgesehen, 50 Millionen Euro für andere Ausrüstung.“

Was genau geliefert werden soll, ist noch unklar. Klar ist aber bereits jetzt, dass damit eine zentrale Säule der deutschen und europäischen Rüstungsexportrichtlinien zum Einsturz gebracht wurde. Es ist fast unvermeidlich, dass künftig bei der Frage von Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete unter Verweis auf den Ukraine-Präzedenzfall eine Einzelfallprüfung die kategorische Ablehnung ersetzen und damit die Lieferung solcher Waffen vereinfachen wird. Doch auch abseits solcher eher grundsätzlichen Erwägungen ist die Lieferungen von Waffen auch in diesem konkreten Fall falsch.

Beitrag zur Eskalation

Das gewöhnlich bestens informierte und eng mit dem EU-Apparat vernetzte Nachrichtenportal Bruxelles2 analysierte Anfang März 2022 die Optionen angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine. Der Autor Nicolas Gros Verheyde argumentierte dabei, es stünden nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Entweder die NATO werde direkt mit umfassenden Truppen in den Krieg eingreifen, ein Schritt, der sich aufgrund des immensen Eskalationspotenzials ausschließe (und auch ausgeschlossen wird). Oder es würden ernsthafte Verhandlungen mit dem Ausgangsangebot einer Neutralität der Ukraine aufgenommen – das sei zwar vor allem für die Ukraine eine schwer zu schluckende Pille, aber allemal besser als die Alterative: „Für die Ukrainer wäre es zweifellos bitter, aber viel weniger, als zu sehen, wie ihr Land von einer russischen Besatzungstruppe in Feuer und Blut verwandelt wird. Oder ständig unter der Bedrohung einer neuen Intervention leben zu müssen (vorausgesetzt, dass diese beendet wird). […] An sich ist die Neutralität angesichts des Krieges das geringere Übel.“

Diese bedachte Bewertung völlig missachtend scheinen sich NATO und EU für eine dritte Option entschieden zu haben, nämlich mit umfassenden Waffenlieferungen die Kampfkraft der ukrainischen Armee stärken zu wollen.

Allerdings geht trotz vereinzelter Berichte über Sabotageakte und schlechte Moral innerhalb der russischen Truppen kaum ein Beobachter davon aus, dass die Ukraine den Angreifer wird besiegen können. So äußerte sich etwa der ehemalige deutsche Spitzendiplomat Rüdiger Lüdeking im konservativen Magazin Cicero: „Will man zynisch sein, so muss man feststellen, dass die Ukraine verloren ist. Eine solche Feststellung mag schmerzen, entspricht jedoch der Lage, wie sie sich aktuell darstellt. Dies gilt auch, als sich die Nato die realpolitische Einsicht zu eigen gemacht hat, dass mit einem eigenen militärischen Eingreifen das Risiko eines großen Kriegs in Europa und gar eines Nuklearkriegs verbunden ist.“

Was sollen die Waffenlieferungen dann also bezwecken?

Die hilflose Antwort wäre, damit man den Eindruck erwecken kann, man würde die Ukraine nicht alleinstehen lassen. Eine zynische Antwort lautet, dass man Russland schwächen und in ein zweites Afghanistan verwickeln will. Und die häufigste Antwort dürfte wohl sein, dass man den Blutzoll hochtreiben möchte, um eine möglichst günstige Verhandlungsposition zu bekommen.

Alle Antworten sind eigentlich indiskutabel, öffentlich dürfte lediglich die letzte Variante erwähnt werden. Ihr lässt sich entgegenhalten, dass der Blutzoll, um den es hier geht, nicht von denjenigen zu entrichten sein wird, die jetzt diese Waffen schicken, auch nicht primär von Russland, sondern vor allem von den Menschen in der Ukraine. Übereinstimmende Analysen aus dem Militär besagen, dass sich Russland für ein – überaus hartes – aber skaliertes Vorgehen entschieden hat. Je größer der Widerstand ist, desto weiter wird der Krieg in der Ukraine demzufolge eskalieren und die Opfer zunehmen. Jakob Augstein etwa schreibt im Freitag: „Der Westen verlängert mit seinen Waffenlieferungen den Krieg. Sobald unsere Waffen dort zum Einsatz kommen, sind es nicht mehr nur Putins Tote, es sind dann auch unsere.“

Ganz ähnlich argumentiert der Politikprofessor Johannes Varwick, der bis kürzlich eher für eine konfrontative Politik gegenüber Russland eingetreten war: „Wir müssen uns überlegen, ob wir weiter die Ukraine in ihrem helden­haften aber aussichtslosen Kampf unterstützen wollen oder ob nicht jetzt die Stunde für Nüchternheit und Real­politik ist. Konkret bedeutet das, wir müssen Putin Verhandlungen anbieten, damit er sein Ziel auch ohne einen Krieg erreichen kann. Die Entscheidung über die Zukunft der Ukraine müssen natürlich die Ukrainer selbst treffen. Aber der Westen hat einen maßgeblichen Einfluss, indem er die Waffen­lieferungen einstellt. Das ist nicht kalt­herzig, sondern vom Ende her gedacht.“

Alternativen zum Krieg

Auch wenn sich neuere Berichte ob eines raschen russischen Sieges deutlich skeptischer zeigen als zu Kriegsbeginn und sich Einschätzungen über schwere Fehlkalkulationen auf russischer Seite häufen, dies erhöht nur die Wahrscheinlichkeit eines immer blutiger und länger andauerndes Krieges. Zur für die Ukraine sicherlich bitteren Pille einer Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ausgangspunkt einer Neutralität besteht keine sinnvolle Alternative. Gleichzeitig müssen diese Verhandlungen vom ernsthaften Bestreben geprägt sein, eine Sicherheitsarchitektur aufzubauen, die es verhindert, dass große Länder künftig nicht nach Gutdünken kleinere Staaten überfallen können – und das muss für alle gelten, für Russland, aber auch für die NATO-Länder.

Schenkt man westlichen Medienberichten Glauben, soll die Ukraine bei den jüngsten Verhandlungen am 10. März 2022 in einigen wesentlichen Punkten – unter anderem in der Frage einer möglichen Neutralität – zu Zugeständnissen bereit gewesen sein, eine Kapitulation aber zum Beispiel abgelehnt haben. Was hinter den Kulissen tatsächlich angeboten und verhandelt wird, lässt sich kaum sagen.

Doch selbst falls Russland auf Maximalforderungen bestehen sollte, gibt es zur Fortsetzung des Krieges dennoch eine Alternative. Letztlich kann und darf den Menschen in der Ukraine niemand vorschreiben, wie sie sich wehren sollen. Aber es gibt gleichzeitig auch keine Pflicht zu einer militärischen Unterstützung mit all ihren Folgen, auch deshalb nicht, weil sich große Teile der männlichen ukrainischen Bevölkerung dieser Entscheidung nicht einmal entziehen können.

Es ist somit durchaus fragwürdig, wenn aktuell die militärische Unterstützung der Ukraine zu einer moralischen Frage hochstilisiert wird, schreibt doch der Herausgeber der Zeitung gegen den Krieg, Winfried Wolf: „Es ist nach meinem politischen Verständnis in der heutigen Gesellschaft grundsätzlich fragwürdig, anderen Menschen zu empfehlen oder diese gar zu bedrängen, den Weg des Heldentods zu beschreiten. […] Naheliegender wäre es, […] auf einen weiteren militärischen Widerstand zu verzichten und zu einem landesweiten passiven Widerstand gegen die Besatzungsmacht mit dem Ziel der Zersetzung des Besatzungsregimes und einer demokratischen Wende in Russland selbst aufzufordern.“