„Für die russische Armee wird es langsam knapp“

Quelle: t-online

Von Patrick Diekmann 09.03.2022,

INTERVIEW Krieg in der Ukraine  

„Für die russische Armee wird es langsam knapp“

Die russische Armee beißt sich in der Ukraine die Zähne aus. Die ukrainischen Streitkräfte greifen Konvois an, auch russische Flugzeuge werden abgeschossen. Hat Präsident Putin noch genug Kräfte für den Sturm auf Kiew?

Es ist eine Aussage aus Moskau, die zumindest etwas Hoffnung auf einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg weckt: Russland wolle keine Absetzung der ukrainischen Regierung, erklärte der Kreml am Mittwoch. Das steht im Widerspruch zu früheren Aussagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der den Angriff auf das Nachbarland mit einer „Entnazifizierung“ rechtfertigte und die Regierung stürzen wollte. Ist die russische Regierung wirklich zu ernst gemeinten Verhandlungen bereit oder ist es der nächste Bluff? Das lässt sich aktuell noch nicht sagen.

Fest steht, dass Putin immer mehr unter Druck gerät. Die Invasion in der Ukraine ist mit viel höheren Kosten verbunden, als Russland offenbar eingerechnet hatte. Es gibt mehr tote russische Soldaten, mehr zerstörtes militärisches Gerät, scharfe Sanktionen und es ist auch noch keine Strategie in Sicht, wie Russland die Ukraine kontrollieren will, selbst wenn die Eroberung irgendwann erfolgreich sein sollte. Trotzdem finden in der Ukraine weiterhin schwere Kämpfe statt, die Zivilbevölkerung leidet unter dem russischen Bombenhagel. Aber hat Putin überhaupt noch genügend Kräfte, um seine Kriegsziele zu erreichen?

Gustav Gressel, Russland– und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik „European Council on Foreign Relations“, gibt im Interview mit t-online einen Überblick zur aktuellen Lage. Seine Schwerpunkte sind Russland, Osteuropa und bewaffnete Konflikte.

t-online: Herr Gressel, Russland hat überraschend angekündigt, die ukrainische Regierung nicht stürzen zu wollen. Woher kommt der plötzliche Strategiewechsel?

Gustav Gressel: Russland bahnt sich damit den Weg zu offiziellen Gesprächen auf Ministerebene. Vorher hatte man immer gesagt, dass die ukrainische Regierung kein Ansprechpartner sei. Putin rückt damit von einer Maximalforderung ab.

Ist es das Eingeständnis, dass sich die politischen Ziele Putins in seinem Ukraine-Krieg nicht mehr erfüllen lassen?

Putin hat sich den Realitäten in der Ukraine ergeben und das war ein wichtiger Schritt. Aber wir müssen abwarten, wie die Gespräche in der Substanz laufen – viele Schweinereien passieren im Detail.

Ist mittlerweile eine Einnahme der ganzen Ukraine vom Tisch?

Zumindest diskutiert man wahrscheinlich in Moskau, die unrealistischen Kriegsziele herunterzuschrauben. Sie wollten eine Marionettenregierung einsetzen, aber selbst die Opposition in der Ukraine hat den Krieg verurteilt. Die Amerikaner haben im Irak immerhin die Kurden und schiitische Gruppen gehabt, die ihnen zugejubelt haben. Aber die Russen haben in der Ukraine niemanden. Mit wem wollen sie das Land beherrschen?

Es gibt auf jeden Fall schon viele Proteste der ukrainischen Bevölkerung.

Die ukrainische Bevölkerung protestiert und will keine russische Herrschaft. In Cherson und anderen Gebieten mehren sich die Berichte, dass der russische Geheimdienst FSB die Organisatoren der Demonstrationen verhaften und erschießen lässt. Aber das wird die Menschen auch nicht ruhiger stimmen. Man kann den Terror bis zum Äußersten treiben, aber dann herrscht Putin über einen Friedhof.

Hängt das mögliche Umdenken in Russland auch damit zusammen, dass die russische Armee in der Ukraine kaum vorankommt? 

Der schnelle Sieg ist ausgeblieben und jetzt geht es für die russische Armee sehr langsam voran. Die Lage ist insgesamt sehr unübersichtlich. Die Ukraine reagiert auf russische Vorstöße und versucht beispielsweise eine Einkesselung von Kiew zu verhindern. Die russische Armee will Verteidigungspositionen der Ukrainer umgehen und das bringt die ukrainische Armee teilweise in Bedrängnis.

Warum?

Die Ukraine ist ein großes Land und sie hat zu wenig Verteidiger für das ganze Territorium. Die mechanisierten Reserven der ukrainischen Armee sind knapp und wenn sich die Verbände bewegen müssen, dann sind sie einfach von der russischen Luftwaffe zu attackieren. Trotzdem schaffen es die Ukrainer, das ganz gut zu managen und beispielsweise russische Versorgungslinien anzugreifen.

Im Donbass gab es zumindest keine großen Geländegewinne der russischen Armee.

Dort muss die ukrainische Armee langsam zurückgehen. Die Russen versuchen sie einzukesseln und einzelne Verbände abzuschneiden. Bisher gab es im Donbass für die Ukraine keine großen militärischen Katastrophen.

Das russische Hauptkriegsziel scheint immer noch Kiew zu sein. Wie ist die Lage um die ukrainische Hauptstadt?

Vom Westen her hat die russische Armee versucht, Kiew zu umschließen. Im Norden wird sehr zäh um Vororte gekämpft und im Osten muss die russische Armee erst mal über den Fluss Dnipro drüber. An beiden Fronten hat die Ukraine gutes Gelände und starke Verteidigungslinien. Es kann sich noch lange hinziehen, bis es zu einer Einkesselung Kiews kommen könnte.

Hat Russland denn überhaupt genug Soldaten, um Kiew anzugreifen?

Die russische Armee will nun neue Kräfte für den Krieg mobilisieren, weil sie nicht mehr so viele haben. Deshalb läuft in Russland eine große Propagandakampagne an und es gibt das Gerücht, dass in ländlichen Gegenden schon Mobilmachungen ausgerufen wurden. Ohne eine Mobilisierung und mehr Soldaten wird es für die russische Armee langsam knapp in der Ukraine.

Die russischen Kräfte reichen bislang aber nicht einmal aus, um eine ukrainische Großstadt im Norden zu erobern. 

Ja, sie haben auch nicht die Kräfte, um ihre Nachschublinien zu sichern. Da kommt es ständig zu ukrainischen Überfällen auf russische Konvois. Wenn die russische Armee das wirklich sichern wollen würde, dann bräuchte man noch einmal mehr Kräfte. Solange Städte wie Sumy – ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt – nicht gefallen sind, wird es für Russland nicht einfacher. Das erklärt, warum russische Vorstöße stecken bleiben.

Wie könnte die russische Armee vorgehen, um mit den vorhandenen Kräften die Städte anzugreifen, wenn diese eingekesselt sind?

Das würde sehr viel Zeit kosten, denn die Russen müssten Schwerpunkte auf eine Stadt legen und wenn diese erobert ist, die Kräfte zur nächsten Stadt verlagern. Gleichzeitig würde das nicht funktionieren. Bei den Städten wie Kiew oder Charkiw, die nicht eingekesselt sind, ist Zeit auch für den Angreifer ein kritischer Faktor. Denn so hat der Verteidiger immer mehr Zeit, sich einzurichten und bessere Stellungen auszuheben. Aus russischer Sicht ist der aktuelle Zeitverlust ein großes Problem.

Warum hat Russland den riesigen Konvoi überhaupt schon in die Ukraine fahren lassen? Das ist doch ein gewaltiges Ziel für ukrainische Partisanenkämpfer. 

Das ist eine gute Frage. Ich kann nicht wirklich sagen, warum dieser Konvoi nicht vorankommt – es gibt zerstörte Brücken und immer wieder Angriffe auf diesen Konvoi, auch mit Drohnen. Klar ist: Es ist auf jeden Fall kein großes Ruhmesblatt für die russische Armee. Der Konvoi ist ein stehendes Ziel und durch die Ausdehnung auch schwer zu verteidigen.

Wir sind auch eigentlich davon ausgegangen, dass Russland die Lufthoheit über der Ukraine hat. Trotzdem wurden in den vergangenen Tagen immer wieder russische Kampfjets und Hubschrauber abgeschossen. Wie passt das zusammen?

Die russische Luftwaffe schlägt sich schlechter als erwartet. Sie bekommt es nicht hin, die ukrainischen Luftabwehrsysteme zu stören und auszuschalten. Wir haben gestern wieder den Einsatz eines ukrainischen Buk-Systems gesehen, was bemerkenswert ist. Hinzu kommt, dass Russland relativ wenig Präzisions- und Abstandswaffen einsetzt, selbst teure Kampfflugzeuge werden mit herkömmlichen Bomben bestückt, die im Tiefflug eingesetzt werden müssen. Da sind sie verwundbar, auch gegen schultergestützte Flugabwehr.

Hat denn die russische Armee noch viele Waffensysteme in der Hinterhand, die noch nicht eingesetzt wurden?

Es ist unklar, ob sich Russland seine Präzisionswaffen aufspart oder ob man schlichtweg zu wenig davon hatte. Drohnen und elektronische Kampfmittel wurden bislang von russischer Seite auch kaum eingesetzt. Das verwundert mich, besonders wenn man sich anschaut, wie die russische Armee in Syrien gekämpft hat.

Eigentlich sollten auch Soldaten aus Belarus bei der Invasion helfen. Doch auch das ging offenbar schief, weil belarussische Offiziere zuvor desertiert sind?

Sogar der Chef des Generalstabs ist deshalb zurückgetreten. Die belarussische Armee hat generell ein Mannschaftsproblem. Bei den Protesten gegen Alexander Lukaschenko haben sich auch viele Soldaten angeschlossen und bei den Manövern mit Russland waren die belarussischen Verbände stets unterbesetzt. Lukaschenko steht unter dem Druck Putins, von Brest aus eine weitere Front in der Ukraine zu eröffnen. Aber das kann er sich eigentlich kaum leisten, weil die eigenen Soldaten den Einsatz infrage stellen.

Zu wenig Truppen, schlechte Versorgung und nicht ausreichend Material: Das kann ja alles damit zusammenhängen, dass der Kreml dachte, dass ein Krieg in der Ukraine in zwei Wochen vorbei wäre. 

Absolut. Russland wäre nicht das erste Land, das immer mehr Material in einen Krieg schickt, der nicht zu gewinnen ist. Das kann man eine Zeit lang machen, aber die langfristige Beherrschbarkeit der Ukraine ist noch immer eine Frage, auf die ich von russischer Seite keine Antwort sehe.

Nein, Putin hat keinen Plan B. Erst jetzt fängt er wahrscheinlich an, darüber nachzudenken. Vergangenen Sonntag war im orthodoxen Kalender der „Sonntag der Versöhnung“ und Russland wollte bis zu diesem Tag die Besetzung der Ukraine abgeschlossen haben. Da sind wir nun weit von entfernt.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel. 

Ukraine/Russland: Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede – Jung & Naiv: Folge 562

Ukraine/Russland: Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede – Jung & Naiv: Folge 562112.469 Aufrufe – Live übertragen am 07.03.2022 –Jung & Naiv – 

Gast im Studio: Wolfgang Eichwede, Historiker und Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.

Mit der Gründung der Forschungsstelle Osteuropa 1982 übernahm er die Leitung des Instituts, die er bis 2008 innehatte. Er engagiert sich bis heute für die Sozial-, Bürgerrechts- und Freiheitsbewegungen in Osteuropa. Das Bemühen um Freundschaft mit Russland, so Eichwede, müsse der Machtpolitik Putins „auch seine Grenzen zeigen – Grenzen, die sich aus dem Völkerrecht und den Rechten der kleineren, eben nicht so mächtigen Staaten ergeben“.

Tilo Jung spricht mit Wolfgang über seinen Werdegang, sein Interesse an Osteuropa, die Ukraine, Russland und die ehemalige Sowjetunion. Es geht um den Kalten Krieg, dessen Ende, die NATO-Osterweiterung, Jelzin, Putin, dessen Ziele, dessen Verstand und natürlich den russischen Überfall auf die Ukraine.

Link: – Wolfgangs Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen https://www.forschungsstelle.uni-brem…

Zeitenwende beim Rüstungshaushalt

IMI-Standpunkt 2022/008 (Update: 4.3.2022)

Zeitenwende beim Rüstungshaushalt

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 28. Februar 2022

Von einer „Zeitenwende“ sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg am 27. Februar 2022. Und in der Tat übersteigt das, was er darin angekündigt hat, alles, was bis kürzlich auch nur ansatzweise für möglich gehalten worden wäre. Der russische Angriff auf die Ukraine ebnet so auch den Weg für eine beispiellose Militarisierung Deutschlands, die eine Reihe von Bereichen betrifft, besonders aber die Rüstungsausgaben.

Chronisch unterfinanziert?

Dem angesichts der aktuellen Eskalation häufig und bewusst erweckten Eindruck, die Bundeswehr sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten systematisch kaputtgespart worden, muss entschieden entgegengetreten werden. Seit der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stieg das Budget der Bundeswehr von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. (2021) steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen (siehe IMI-Standpunkt 2019/058).

Wenn die Truppe nun etwa in Person von Heeresinspekteur Alfons Mais argumentiert, sie stehe „blank“ da, so ist das nicht auf eine mangelnde Finanzierung, sondern auf chronisch verschwenderische Strukturen zurückzuführen. Noch 2014 kritisierte die damalige Staatssekretärin für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung, Katrin Suder: „Waffensysteme kommen um Jahre zu spät, Milliarden teurer als geplant – und dann funktionieren sie oft nicht richtig oder haben Mängel.“

Im ersten Bericht über das Rüstungswesen aus dem Jahr 2015, dessen Aufgabe es ist, die Defizite im Beschaffungswesen offenzulegen, hieß es, die untersuchten Rüstungsgroßprojekte wiesen eine durchschnittliche Verspätung von 51 Monaten auf und lägen insgesamt 12,9 Mrd. Euro über dem ursprünglich geplanten Preis. Trotz aller Beteuerungen mehrerer folgender VerteidigungsministerInnen ist es offenbar nicht gelungen, hier eine „Verbesserung“ (sofern eine effizientere Beschaffung von Waffen als solche bezeichnet werden kann) zu erreichen.

Im nunmehr 14. Bericht zu Rüstungsangelegenheiten vom Dezember 2021 ist nachzulesen: „Aktuell beträgt die Verzögerung im Mittel 52 Monate gegenüber der ersten parlamentarischen Befassung und neun Monate gegenüber den aktuellen Verträgen. Die Veranschlagung der betrachteten Projekte im Haushalt 2021/54 […] liegt rund 13,8 Mrd. Euro über der Veranschlagung zu Projektbeginn.“

Vor Kriegsbeginn: Finanz- vs. Verteidigungsministerium

Noch unter Kanzlerin Angela Merkel gab die damalige Bundesregierung die ambitionierte Zusage, bis 2023 eine voll ausgestattete schwere Brigade (ca. 5.000 SoldatInnen), bis 2027 eine Division (15.000-20.000 SoldatInnen) und bis 2032 drei Divisionen in die NATO einzuspeisen. Die Ampel übernahm diese äußerst kostspielige Zusage in ihrem Koalitionsvertrag: „Die NATO-Fähigkeitsziele wollen wir in enger Abstimmung mit unseren Partnern erfüllen und entsprechend investieren.“

Noch Anfang Februar 2022 klaffte aber zwischen dem, was das Finanzministerium im Finanzplan bis 2026 für die Bundeswehr vorgesehen hatte und dem, was das Verteidigungsministerium zu benötigen meinte, um die NATO-Fähigkeitsziele umsetzen zu können, eine gewaltige Lücke – eine rund 38 Mrd. Euro große Lücke, um genau zu sein. Während für 2022 noch einmal eine deutliche Erhöhung auf 50,33 Mrd. Euro vorgesehen ist, gingen anschließend die Vorstellungen von Finanz- und Verteidigungsministerium ganz erheblich auseinander, wie die Oldenburger Zeitung am 12. Februar 2022 berichtete: „Danach benötigt die Bundeswehr im Jahr 2023 statt der vom Finanzministerium bislang in der mittelfristigen Planung vorgesehenen 47,3 Milliarden Euro 53,7 Milliarden Euro. Dieses Delta wächst jährlich: 2024 werden statt 47,1 Milliarden Euro 55,4 gebraucht, 2025 57,2 statt 46,7 Milliarden. Und 2026 beträgt der Bedarf statt 46,7 stolze 59,1 Milliarden Euro. Der Fehlbetrag summiert sich insgesamt auf 37,6 Milliarden Euro. […] In einer ersten Reaktion hatte das Finanzministerium die Forderungen zurückgewiesen.“

Noch Anfang Februar 2022 stand die Bundeswehr unter erheblichem Druck – schließlich ermahnte der Staatssekretär im Finanzressort, Werner Gatzer, das Verteidigungsministerium Anfang Februar 2022, es sei deutlich zu großzügig mit den sogenannten Verpflichtungsermächtigungen umgegangen worden. Was das hieß, erläuterte der Blog Augengeradeaus: „Mit den so genannten Verpflichtungsermächtigungen kann das Verteidigungsministerium Verträge für Rüstungsgüter abschließen, deren Kosten erst in den nächsten Jahren fällig werden. […] Die Forderung nach realistischer Planung enthält den dezenten Hinweis, dass das Wehrressort in den vergangenen Jahren, laienhaft gesprochen, ungedeckte Schecks auf die Zukunft erhalten hat.“

Damit diese ungedeckten Schecks nicht platzen, nahm der Druck auf eine Erhöhung des Rüstungshaushaltes bereits vor dem russischen Angriff deutlich zu. Doch was nun angekündigt wurde, übersteigt alle Erwartungen bzw. Befürchtungen.

Nach Kriegsbeginn: Scholz öffnet die Geldschleuse

In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 kündigte Kanzler Olaf Scholz eine Reihe von Maßnahmen an, besonders drastisch sind die Aussagen zu den künftigen Militärausgaben, die die Einrichtung eines einmaligen „Sondervermögens“ sowie dauerhaft deutlich höhere Militärausgaben betreffen.

Während die Bundeswehr selbst vorrechnete, zur Erreichung der NATO-Planziele würden ihr in den Jahren 2022 bis 2026 rund 38 Mrd. Euro fehlen, soll sie nun deutlich mehr als das erhalten: „Wir werden dafür ein Sondervermögen ‚Bundeswehr‘ einrichten“, kündigte Scholz in seiner Regierungserklärung an. „Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen.“

Das Geld werde mit dem Bundeshaushalt 2022 bereitgestellt, der am 9. März 2022 vorgelegt werden soll. Dies schaffe die Möglichkeit, ab 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten zu können, heißt es dazu in der FAZ. Die Dimension dieses Sondervermögens wird beispielsweise in der Europäischen Sicherheit und Technik erläutert: „Mit den beabsichtigten 100 Milliarden Euro verdoppelt der Bund seine Sondervermögen, zu denen unter anderem der Energie- und Klimafonds und die Rücklagen für die Flüchtlingshilfe gehören.“

Doch damit nicht genug: „Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, so Scholz ebenfalls in seiner Regierungserklärung. Unklar ist, ob diese Erhöhungen mit dem Sondervermögen verrechnet werden, der Bundeswehrverband jedenfalls geht davon aus, dass sie zusätzlich hinzukommen werden: „Bundesvermögen werden außerhalb des Bundeshaushaltes bewirtschaftet – für die Bundeswehr heißt das, dass die nun angekündigten 100 Milliarden Euro nicht mit dem Verteidigungsetat für das laufende Jahr verrechnet werden, sondern tatsächlich „on top“ kommen.“

Laut Statista belief sich das deutsche Bruttosozialprodukt im Jahr 2021 auf 3.570 Mrd. Euro, wäre für ihn bereits die Scholzsche Formel angewandt worden, hätte sich der Militärhaushalt statt der tatsächlich eingestellten 46,9 Mrd. Euro auf mindestens 71,4 Mrd. Euro belaufen müssen. Unklar ist gegenwärtig noch, ob die Erhöhungen bereits 2022 oder 2023 bzw. 2024 umgesetzt werden. Klar ist aber, dass mit einem sprunghaften Anstieg der Ausgaben zu rechnen sein wird, der sich durch eine Kopplung ans Bruttoinlandsprodukt bei fortgesetztem Wirtschaftswachstum auch verstetigen wird.

Wer von diesen Mehrausgaben profitieren wird, beschrieb die Welt: „Während vor kurzem die Lobbyisten der Rüstungskonzerne noch alles unternahmen, um bei einer sich abzeichnenden Lücke im Wehretat mit ihrem Projekt zum Zuge zu kommen, scheint die Geldfrage jetzt gelöst. Von einem neuen Super-Verteidigungsetat profitieren nicht nur größere deutsche Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, Krauss-Maffei Wegmann, Hensoldt, Diehl und Heckler & Koch oder europäische Hersteller wie Airbus und der Lenkwaffenkonzern MBDA. Milliardenbeträge werden auch an US-Rüstungskonzerne wie Lockheed Martin und Boeing fließen.“

Wieviel ist genug?

Mehr als fraglich ist, ob die Bundeswehr-Strukturen überhaupt „sinnvoll“ derartige Gelder verarbeiten könnten, was durchaus auch von BefürworterInnen höherer Ausgaben bezweifelt wird. Zudem hat die NATO als Ganzes ihre Militärausgaben in den letzten Jahren bereits deutlich erhöht: sie stiegen nach NATO-Angaben von 895 Mrd. Dollar (2015) auf 1106 Mrd. (2020) an. Demgegenüber sanken die russischen Ausgaben laut SIPRI von 85 Mrd. Dollar (2015) auf 61,7 Mrd. Dollar (2020).

Die NATO-Militärausgaben sind also heute bereits rund 18mal höher als die Russlands. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt, wie derzeit leider offensichtlich wird. Im Gegenteil, diese Ausgaben und die mit ihr zusammenhänge Politik sind sicher auch ein Teil des Problems und nicht der Lösung.

Politologe Sauer im Interview „Russland hat keine Hightech-Waffen in der Hinterhand“

Quelle: ntv  – 08.03.2022

Politologe Sauer im Interview „Russland hat keine Hightech-Waffen in der Hinterhand“

Der russische Überfall auf die Ukraine ist steckengeblieben, nun droht der Zivilbevölkerung noch größeres Leid. Zugleich laufen Verhandlungen. Aber kann Russland noch ein Partner sein? Und wie groß ist die Gefahr eines Angriffs auf NATO-Gebiet oder gar eines Atomschlags? Der Experte für Sicherheitspolitik von der Universität der Bundeswehr in München, Frank Sauer, antwortet darauf im Interview.

ntv.de: Der Krieg dauert schon fast zwei Wochen. Hat sich das russische Militär blamiert?

Frank Sauer: Mit vorschnellen Schlussfolgerungen muss man vorsichtig sein, weil wir nur einen Ausschnitt des Geschehens sehen. Wir sehen vor allen Dingen das ukrainische Narrativ. Aber ich kann inzwischen schon mit Bestimmtheit sagen, dass Russland in verschiedenen Bereichen, auch im Militärischen, deutlich schlechter abschneidet als erwartet.

Manche sagen ja, da wird jetzt erst mal das alte Material vorgeschickt und irgendwann kommen die neuen Panzer. Gibt es dafür aus Ihrer Sicht Anhaltspunkte?

Wir sehen überwiegend natürlich die Sachen, von denen Russland viel hat. Wir sehen T72-Panzer, den T80, wir sehen diese Schützenpanzer, die teils noch aus den 70er und 80er Jahren stammen. Von neuen Panzern wie dem T14 Armata hat Russland vielleicht zwanzig Stück – und ob davon überhaupt zehn fahren, geschweige denn gefechtsbereit sind, wage ich zu bezweifeln. Insofern überrascht mich das nicht, und es ist auch nicht so, dass da noch irgendwelche Hightech-Waffen in der Hinterhand gehalten werden.

Glauben Sie, dass es jetzt blutiger wird, dass Russland jetzt eine Taktik wie in Syrien anwendet?

Ich befürchte das, ja.

Kann man noch einschätzen, was Putin eigentlich erreichen will? Nüchtern betrachtet hat er nicht mehr viel zu gewinnen.

Ich sehe noch keinen Anlass, davon auszugehen, dass Putin etwas anderes will als das, was er von Anfang an kommuniziert hat. Ich gehe davon aus, dass er die territoriale Integrität der Ukraine, die Souveränität der Ukraine und die Ukraine als eigenständiges Land beseitigen will. Dazu muss er die Selenskyj-Regierung beseitigen und eine Regierung installieren, auf die er direkten Einfluss nehmen kann. Dass er dieses politische Ziel, selbst wenn er militärisch auf lange Sicht gewinnen sollte, auf keinen Fall mehr erreichen kann, scheint ihn bisher nicht weiter zu irritieren. Das ist zumindest das, was man von außen konstatieren kann.

Am Donnerstag sollen sich die Außenminister der Ukraine und Russlands treffen. Was erwarten Sie davon?

Nicht viel. Ich glaube, dass Russland weiterhin auf seiner Maximalforderung beharren wird. Im Prinzip verlangt Russland ja die vollständige Kapitulation der Ukraine und eine Verhandlung nach russischem Diktat. Dazu scheint mir Putin auf militärischem Wege die Verhandlungsbedingungen zu seinen Gunsten verändern zu wollen. Wenn das gelingt, muss die Ukraine unter Umständen irgendwann Konzessionen machen. Aktuell sieht es nicht so aus, als ob die Ukraine das möchte, und so bleiben diese Verhandlungen festgefahren. Russland verlangt im Prinzip die totale Selbstaufgabe. Nachvollziehbarerweise weigert sich die Ukraine und wehrt sich vehement.

Kann Russland überhaupt noch ein Verhandlungspartner sein? Man braucht doch eigentlich ein Mindestmaß an Vertrauen.

Ich komme ja eigentlich aus der Rüstungskontrolle und habe im Kleinklein so die Schwierigkeiten miterlebt, die Russland der internationalen Gemeinschaft oder zumindest westlichen Verhandlungspartnern in den letzten paar Jahren bereitet hat.

Das Vertrauen, das man über bestimmte Rüstungskontrollinstrumente nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat aufbauen können, ist mit dieser Invasion Putins nahezu vollständig verpufft. Wir werden über Jahre und Jahrzehnte vermutlich unter großer Mühe hoffentlich wieder an einen Punkt kommen, wo wir Vertrauen zurückgewinnen können, um Risiken für alle Beteiligten kollektiv zu reduzieren. Niemand will wieder in so eine ultra-angespannte Kalte-Kriegs-Situation zurück, wo sich zwei völlig unversöhnliche Blöcke gegenüberstehen und sich permanent mit der nuklearen Eskalation bedrohen.

Nur eins ist klar: Putin hat uns da um Jahrzehnte zurückgeworfen. Insbesondere Westeuropa entwickelt deswegen jetzt ganz andere Positionen und nimmt dafür zu Recht auch die eigene Wehrhaftigkeit viel stärker in den Blick.

Haben Sie eine Vorstellung, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte?

Es sind verschiedene Varianten denkbar. Etwa eine Konsolidierung der Spaltung der Ukraine. Über den Süden kommt Russland ja noch am besten voran. Und wenn Odessa unter russische Kontrolle gerät und ein oder zwei weitere Städte im Süden und es eine Landbrücke von der Krim in den Osten der Ukraine gibt, dann könnte man schon davon ausgehen, dass das schwer zurückzudrehen sein wird.

Wenn zusätzlich auch noch Kiew fällt, dann ist natürlich noch eine neue Variante möglich. Dann hätte man eine Teilung des Landes, die viel weiter westlich läge als an der Grenzlinie zu den Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Es ist aber auch möglich, dass das System Putin implodiert und der Krieg auf diese Weise endet. So könnte die Ukraine sich dann möglicherweise gänzlich vom russischen Einfluss befreien. Ich kann nicht in die Glaskugel gucken. Zurzeit rechne ich auf jeden Fall nicht damit, dass der Krieg sehr bald endet. Ich glaube, dass Putin an seinen militärischen Zielen festhält und diese langsam, deutlich langsamer als von ihm selbst erwartet, aber stoisch weiterverfolgen wird. Mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung in der Ukraine.

Halten Sie einen Angriff Russlands auf NATO-Gebiet für realistisch?

Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich es für wahrscheinlicher, dass Russland versucht, im Cyberraum Nadelstiche zu setzen. Denkbar ist aber ein versehentlicher Angriff. Dass ein Konvoi mit Waffenlieferungen beschossen wird. Oder dass ein russisches Flugzeug versehentlich in den Luftraum eines baltischen Staates eindringt. Diese Gefahr ist absolut real. Mit einem gezielten konventionellen Angriff auf NATO-Territorium rechne ich nicht, weil Putin keinerlei Geräusche in diese Richtung gemacht hat. Nachdem was ich weiß, zeichnet sich auch auf dem Boden dahingehend nichts ab. Vielleicht nicht zuletzt auch, weil die NATO ja sofort reagiert und ihre Kräfte in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten verstärkt hat.

Wie schätzen Sie das ein, dass Putin die „Abschreckungswaffen“ in Alarmbereitschaft versetzt hat? Ein Atomschlag wäre doch Selbstmord, oder?

Na ja, das hängt sehr davon ab. Seine Äußerung war eindeutig erstmal nur ein politisches Signal. Mit Blick auf die tatsächlichen Bewegungen im nuklearen Apparat in Russland gibt es keinerlei besonderen Vorkommnisse, die vermuten ließen, dass da etwas vorbereitet wird oder irgendwie eine Alarmstufe in nennenswerter Weise erhöht worden wäre. Es sind ein paar U-Boote ausgelaufen, aber auch wieder welche zurückgekommen. Es sind ein paar mobile ballistische Interkontinentalraketen in den Wald gefahren, aber das könnte durchaus eine normale Rotation sein. Nichts hat sich da zahlenmäßig dramatisch erhöht.

Es deutet nichts darauf hin, dass man da in einem überschaubaren Zeitraum mit irgendetwas Atomarem auf dem Gefechtsfeld rechnen müsste. Insofern kann man Putins Botschaft aktuell einfach nur zur Kenntnis nehmen. NATO und US-Administration haben das getan und ganz richtig reagiert, also es gelassen hingenommen und nicht etwa mit gleichen Mitteln erwidert. Putin hat eben auf sein Nukleararsenal gezeigt und gesagt: Das vergesst ihr bitte nicht bei all euren Sanktionen und bei den Waffenlieferungen an die Ukraine. Und von einem Schlagabtausch mit strategischen Atomwaffen sind wir sicher noch weiter entfernt. Auch Putin weiß: Wer als Erster schießt, ist als Zweiter tot. Gerade als jemand, der sich schwerpunktmäßig mit diesen Fragen beschäftigt, raubt mir das aktuell keinen Schlaf. Die Lage der Zivilbevölkerung macht mir die größeren Sorgen.

Viele Experten sagen, am Ende werde sich Russland durchsetzen. Ist der Widerstand der Ukrainer da überhaupt sinnvoll?

Das haben nicht wir zu entscheiden. Das entscheidet die Ukraine. Wir haben lange genug immer nur über deren Köpfe hinweggeredet. Wenn die Ukraine kämpfen will, und zur Selbstverteidigung hat sie jedes Recht, dann kann und muss man sie nach Kräften unterstützen. Aber das jetzt von außen zu beurteilen und nach dem Motto: „Ergebt euch doch lieber! Dann wird es auch nicht so schlimm.“ Nein, das ist nicht meine Haltung.

Mit Frank Sauer sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

Dr. Frank Sauer lehrt und forscht an der Universität der Bundeswehr in München und ist Experte für Sicherheitspolitik, über die er auch regelmäßig im Podcast „Sicherheitshalber“ diskutiert.

Angriffskrieg auf die Ukraine: Doch Putins Geschäfte mit dem Westen gehen weiter – MONITOR

Angriffskrieg auf die Ukraine: Doch Putins Geschäfte mit dem Westen gehen weiter – MONITOR – 10.958 Aufrufe – 07.03.2022 –

Nach dem Einmarsch Putins in die Ukraine gibt sich der Westen entschlossen: Russland soll mit schärfsten Sanktionen bestraft werden. Doch diese lassen Putins Machtzentrum unberührt: Die Energieexporte. Während Putin Völkerrecht bricht, lassen sich Europa und auch Deutschland weiter Öl, Gas und Kohle aus Russland liefern und auch die USA beziehen weiter russisches Öl. Milliarden aus dem Westen fließen so noch immer nach Russland. Geld, was Putins Krieg in der Ukraine Tag für Tag weiter finanziert. Und auch das Vermögen vieler Oligarch:innen, die Druck auf Putin ausüben könnten, liegt längst gut versteckt im Ausland.

Autor:innen: Jan Schmitt, Véronique Gantenberg, Jakob Faust. Der Beitrag gibt den Recherchestand vom 3. März 2022 wieder.