Fragen zum Verlauf des Krieges

Einen Guerilla-Krieg kann Putin sich nicht leisten“

Ex-General Erich Vad | heute-journal – 447.624 Aufrufe – 02.03.2022 –

Der ehemalige Bundeswehrgeneral Erich Vad sieht Russland der Ukraine militärisch weiterhin stark überlegen. Putin könne sich aber nicht leisten, in einen langen Krieg mit der Ukraine verwickelt zu werden: „Da ist jeder Tag ein Tag zu viel für ihn“. Bei der Unterstützung der Ukraine mit schweren Waffen warnt Vad vor der Gefahr, über einen Stellvertreterkrieg selbst zur Kiegspartei zu werden – das müsse man „politisch sehr, sehr gut steuern“.


Prof. Masala (Bundeswehrhochschule München): „Kapitale Fehler, die wir den Russen nicht zugetraut haben“ | heute-journal

353.490 Aufrufe  04.03.2022

Treibstoffmangel, unzureichende Verpflegung für die eigenen Soldaten – der Sicherheitsexperte Prof. Carlo Masala beobachtet beim Vorgehen der russichen Armee in der Ukraine eine „grottenschlechte Logistik“. Er spricht von kapitalen Fehlern, “die wir den Russen nicht zugetraut haben“: Die Armee sei in ihrer Operationsfähigkeit “nicht moderner geworden“. Zu deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine sagt Masala: Weitere Boden-Boden-Raketen aus Deutschland könnten den “Vormarsch verlangsamen“.


Ukraine: Alle im Widerstand | ARTE Reportage

73.069 Aufrufe –  07.03.2022 –

Überall in der Ukraine mobilisieren sich die Ukrainer im Widerstand gegen den Agressor aus Russland, in den Städten und auf dem Land.  Großmütter kochen Ravioli für die Männer an der Front, Metallarbeiter schweißen Panzersperren, und Studenten konstruieren Katapulte für Molotowcocktails. Mehrere Tage lang folgte unser Team den Menschen in den Dörfern der Region Lviv, die fest dazu entschlossen sind, ihr Land und ihre Freiheit zu verteidigen.

Gabriele Krone-Schmalz: „Ich bin verzweifelt, wütend und hilflos“

Berliner Zeitung, 27.2.2022

Putin-Kennerin Gabriele Krone-Schmalz: „Ich habe mich geirrt“

Die langjährige ARD-Korrespondentin glaubt, dass der Angriffskrieg eine einsame Entscheidung Putins gewesen sei, von dem auch sein Umfeld überrascht wurde.

Ich war fest davon überzeugt, dass der Aufbau dieser gigantischen russischen Drohkulisse in den letzten Wochen und Monaten, so riskant und überzogen er auch sein mochte, einem einzigen Zweck diente: nämlich ernstzunehmende Verhandlungen mit dem politischen Westen zu erzwingen, um Russlands Sicherheitsinteressen endlich zum Thema zu machen. Ich habe mich geirrt. Nicht nur mit Blick darauf, was jetzt an Leid und Verwüstung folgt, bin ich fassungslos, sondern auch angesichts dieses Schlags ins Gesicht all derjenigen, die sich – teilweise gegen große politische Widerstände im eigenen Lager – auf den Weg nach Moskau gemacht haben, um diplomatische Lösungen für die tatsächlich vorhandenen Probleme zu finden.

Es ist nicht so, als hätte ich keine Kriegsgefahr gesehen, aber dieses Risiko habe ich nicht mit einem russischen Angriff verbunden, der für mich ausgeschlossen schien, sondern mit Missverständnissen, technischen oder menschlichen Pannen zwischen Nachbarn, denen jegliches Vertrauen zueinander abhandengekommen ist. Diverse Szenarien waren denkbar auf der Grundlage von Provokationen oder Prozessen, die aus dem Ruder laufen, aber ein kalkulierter und geplanter Überfall auf die Ukraine – das habe ich nicht für möglich gehalten.

Habe ich mit meinen Positionen dazu beigetragen, diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu ermöglichen, wie jetzt manche behaupten? Bin ich für den russischen Einmarsch mitverantwortlich?

Es wäre schrecklich, wenn es so wäre. Doch überzeugend finde ich diesen Vorwurf nicht. Er setzt voraus, dass die Idee der Verständigung, der Entspannungspolitik grundverkehrt war, und dass eine Abschreckungspolitik Putin hätte im Zaum halten können.

Beide Punkte halte ich nicht für richtig.

Denn zum einen haben sich die Entspannungspolitiker in den letzten dreißig Jahren auf internationalem Parkett mit ihrer Politik eher nicht durchsetzen können. Ich möchte die Worte von George Kennan ins Gedächtnis rufen, dem Architekten amerikanischer Eindämmungspolitik. Der für seine scharfen Analysen bekannte Diplomat hat am 2. Mai 1998 – also noch bevor Polen, Tschechien und Ungarn 1999 in die NATO aufgenommen wurden – die NATO-Osterweiterung als tragischen Fehler bezeichnet, da es überhaupt keinen Grund dafür gebe. Niemand bedrohe irgendjemanden. „Natürlich wird es auch darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland geben“, so Kennan, „und dann werden sie (also die NATO-Erweiterer) sagen: So sind die Russen, wir haben es Euch immer gesagt, aber das ist komplett falsch.“

Und zum anderen scheint mir, dass jeder Versuch, die Ukraine nach 2014 in die NATO mit aufzunehmen, die jetzt erfolgte Intervention nur beschleunigt und nicht verhindert hätte. Ich denke nach wie vor, dass die NATO-Osterweiterung und die Missachtung russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen stark dazu beigetragen haben, dass wir uns heute einem Russland gegenübersehen, das uns als Feind betrachtet und sich auch so verhält. Ich teile nicht die These, dass Putin schon immer der gewesen sei, der er jetzt ist. Vielmehr gehe ich davon aus, dass wir diesen Putin mitgeschaffen haben.

Aber letztlich ist es müßig, noch über die Vergangenheit zu streiten. Die Verständigungspolitik, deren Sinnhaftigkeit ich mit meiner Arbeit immer versucht habe zu erklären und journalistisch zu begleiten, liegt in Trümmern. Putin hat die Hand verdorren lassen, die zwar reichlich später, aber dann doch ausgestreckt war.

Nach allem was man hört, waren selbst einige russische Regierungsmitglieder von der Entscheidung ihres Präsidenten überrascht, den Einmarschbefehl zu geben, noch dazu in dieser Situation: unmittelbar vor weiteren geplanten Gipfeltreffen. Das macht die Lage nicht einfacher.

Der russische Einmarsch in die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Jetzt kann es nur darum gehen, möglichst sichere Wege zu finden die aus dieser Katastrophe herausführen. „Diplomatische Anstrengungen müssen erneut beginnen.“ Das hat Klaus von Dohnanyi jetzt gefordert, wobei auch ihm die Zumutung klar ist, die darin besteht, mit einem Gegenüber zu verhandeln, das dreist gelogen hat. Aber Zumutung, Gesichtsverlust und ähnliches sind keine akzeptablen politischen Kategorien, wenn es darum geht, einen Krieg zu beenden.

Was entspannungspolitisch alles möglich ist, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Obwohl die Sowjetunion 1968 die Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei, den „Prager Frühling“, mit Panzern niedergewalzt hat, haben sich der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt und sein Berater Egon Bahr 1970 auf den Weg nach Moskau gemacht. Das war der Beginn der sogenannten Ostpolitik, die auf lange Sicht für alle Beteiligten nur Vorteile gebracht hat. Humanitär und wirtschaftlich.

An der grundsätzlichen Aufgabe hat sich nichts geändert: Wir brauchen eine umfassende Sicherheitsarchitektur, die den Bewohnern des europäischen Kontinents allen gleichermaßen Sicherheit bietet. Die war Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum Greifen nah. Es ist erschütternd, sich vor Augen zu führen, welche Chance verspielt worden ist.


Gabriele Krone_Schmalz „Ich bin verzweifelt,  wütend und hilflos“ Interview  Nürnberger Nachrichten 4. März 2022

Sanktionen: Putin stürzt Russland in Technologie-Steinzeit

Quelle: NTV

Christian Herrmann 04.03.2022

Sanktionen: Putin stürzt Russland in Technologie-Steinzeit

Egal in welcher Industrie, Halbleiter werden überall verbaut. Wer keine mehr hat, hat ein Problem.

Die Vereinigten Staaten und die EU überziehen Russland für den Krieg gegen die Ukraine mit einer Flut an Sanktionen. Erstmals setzt die US-Regierung auch ihre Technologie-Herrschaft als Waffe ein. Eine Strafe, die die russische Wirtschaft einer Expertin zufolge um Jahrzehnte zurückwirft.

Der russische Präsident Wladimir Putin bombardiert die Ukraine mit Raketen, die EU, die USA und andere Staaten feuern mit Sanktionen zurück. Mehrere russische Banken haben keinen Zugriff mehr auf das internationale Finanzsystem Swift. Die Zentralbank in Moskau kommt nicht an ihre milliardenschweren Reserven. Russische Flugzeuge dürfen den europäischen und amerikanischen Luftraum nicht benutzen. Oligarchen müssen um ihre Luxusjachten fürchten.

Aber über eine neue Art von Sanktion, die die USA das erste Mal als Waffe gegen ein anderes Land einsetzen, wird selten gesprochen: eine Exportkontrolle für wichtige Technologien. Davon sind neben Computerchips auch alle Arten von Sensoren und Lasern oder Sicherheitssoftware betroffen. Eine Bestrafung, die Russland im Endeffekt härter treffen könnte als alle anderen, vermutet Alena Epifanova. „Eine moderne Wirtschaft basiert natürlich auf Informationstechnologien, auch die russische“, sagt die Politikwissenschaftlerin im ntv-Podcast „Wieder was gelernt“ über die neuen Technologie-Sanktionen. „Russland hat aber keinen eigenen starken IT-Bereich und ist von ausländischen Schlüsseltechnologien abhängig.“

Keine eigene Halbleiterindustrie

Die Berliner Forscherin untersucht für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) die russische Internet- und Technologiepolitik und hat erst im Februar gemeinsam mit einem Wissenschaftskollegen eine Studie veröffentlicht, in der sie die IT-Ambitionen von Putin analysieren. Ihr Fazit ist aus Sicht des Kremls vernichtend: Zwar hat Russland wegen der seit Jahren andauernden Spannungen mit der EU und den USA in den vergangenen Jahren viel Geld investiert, um seine technische Infrastruktur auszurüsten und zu nationalisieren, aber anscheinend sehr eingleisig. Ein russisches Internet, das vom Rest der Welt abgetrennt ist, und das über Online-Schranken sowie Zensurmöglichkeiten verfügt – das scheint Putin wichtig gewesen zu sein.

Ausschluss von Waren und Kunden Immer mehr Firmen kehren Russland den Rücken

Aber bei seinem Fokus auf den Softwarebereich scheint der russische Präsident die Hardware aus den Augen verloren zu haben. Die Industrie, die die Bauteile für die Informationsgesellschaft und ihre wichtigsten Produkte liefert, Halbleiter, Prozessoren oder Mikrochips, seien in der nationalen IT-Strategie nicht mitgedacht worden, sagt Technologie-Expertin Epifanova. Russland habe eigene Hersteller von Prozessoren, sagt die Forscherin. „Mehrere sogar, Baikal und Elbrus sind die wichtigsten. Aber die sind auf die taiwanesische Produktion angewiesen und wir wissen schon, dass die ihre Halbleiterlieferungen nach dem Beschluss des amerikanischen Büros für Industrie und Sicherheit (BIS) einstellen werden. Russland hat aber keine eigene Halbleiterindustrie, also wird es auch andere Produktionsketten treffen.“

Konzerne meiden russischen Markt

Wie viele andere Länder auch, bezieht Russland seine Chips aus dem Ausland. Entweder die Halbleiter werden fertig bei Konzernen wie Intel eingekauft. Alternativ können sie von Unternehmen wie Baikal oder Elbrus entworfen und dann von Chipkonzernen wie TSMC in Taiwan, Samsung in Südkorea oder AMD in den USA auf Bestellung gefertigt werden. Die großen und bekannten Namen der Branche haben aber genauso wie die eher unbekannten bereits angekündigt, dass sie die Exportkontrolle der US-Regierung, die effektiv eigentlich ein Exportverbot darstellt, einhalten werden. Denn das zuständige BIS in Washington fasst den Begriff „amerikanisches Technologie-Produkt“ sehr weit. Logischerweise gehören alle Produkte dazu, die auf amerikanischem Boden oder von amerikanischen Unternehmen gefertigt werden. Die Kontrolle schließt auch Waren ein, die im Ausland mithilfe von amerikanischem Equipment hergestellt wurden. Und Produkte, bei denen Baupläne amerikanischer Firmen zum Einsatz kommen, also das geistige Eigentum amerikanischer Staatsbürger. Kurz gesagt, betrifft die Exportkontrolle so gut wie den gesamten Technologie-Sektor, auch im Ausland.

Denn die USA sind mit Unternehmen in dem Bereich weltweit derart führend, dass sie an irgendeiner Stelle der Wertschöpfungskette immer ihre Finger im Spiel haben. Und sie sind als Nation politisch und wirtschaftlich so mächtig, dass sich die Frage, ob man das Exportverbot einhält oder ignoriert, für Unternehmen wie TSMC gar nicht stellt. Natürlich hält man sich daran, weil die Konsequenz seinerseits neue Sanktionen sein könnten.

Keine Chips für kritische Infrastruktur

Für Russland bedeutet diese Strafe nichts anderes, als dass man in den wichtigsten Industriebranchen des 21. Jahrhunderts bis auf Weiteres keine modernen Bauteile mehr bekommt. Der heimischen Computerindustrie, der Luftfahrt, der Schifffahrt und der Raumfahrt droht, womit die Autoindustrie weltweit seit dem Beginn der Corona-Krise kämpft: ein akuter Chipmangel – und zwar auf Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte. „Ganz praktisch kann es einfach den Produktionsstopp russischer Prozessoren bedeuten“, erklärt DGAP-Forscherin Epifanova die möglichen Auswirkungen der Exportkontrollen. „In Russland werden die Chips von Baikal und Elbrus vor allem von staatlichen Behörden, aber auch in der kritischen Infrastruktur eingesetzt. Sie gelten als große Leistung. Natürlich haben sie noch einige Chips auf Lager eingekauft, aber wir können davon ausgehen, dass der Vorrat in den nächsten 12 bis 18 Monaten aufgebraucht sein wird.“

„Sanktionswalze rollt“ Ukraines Außenminister fordert „Entputinisierung“

Wozu diese Situation führen kann, zeigt das Beispiel Huawei. Das chinesische Unternehmen war weltweiter Marktführer beim 5G-Ausbau, hat mit seinen Smartphones Apple und Samsung Konkurrenz gemacht. Es gab aber auch immer den Verdacht, dass Huawei seine Technik nutzt, um in Europa und in den USA für den chinesischen Staat zu spionieren. Deshalb ist das Unternehmen vor wenigen Jahren zum ersten Ziel der neuen amerikanischen Technologie-Sanktionen geworden. Nur ein Jahr später war der Umsatz um 30 Prozent eingebrochen, das Smartphone-Geschäft ohne neue Halbleiter aus dem Ausland praktisch tot. „Unser Ziel ist es, zu überleben“, hat die Unternehmensführung die Pläne für die kommenden Jahre vor wenigen Monaten zusammengefasst.

Denn die chinesische Halbleiterindustrie hat das gleiche Problem wie die russische: Auch die Volksrepublik hat einen großen Rückstand bei Forschung und Fertigung auf die führenden Technologienationen. Auch chinesische Chipkonzerne setzen auf europäische Designs, amerikanisches Equipment oder ausländische Fertiger in Taiwan und Südkorea. Sollten sie überlegen, gegen die amerikanischen Exportkontrollen zu verstoßen, droht ihnen das Huawei-Schicksal – so, wie jetzt Russland.

„Es gibt keinen Plan“

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„Ich weiß von keinen Plänen, dass Russland eine eigene Halbleiterindustrie starten wird“, sagt Alena Epifanova über den womöglich einzigen Ausweg aus der Krise, der aber auch nur Wunschdenken zu sein scheint: „Realisten wissen, dass das selbst ohne Ukraine-Konflikt unmöglich wäre.“

Denn die Halbleiterindustrie ist die womöglich teuerste der Welt: Eine einzige moderne Fabrik kostet zwischen 10 und 25 Milliarden Euro. Das notwendige Equipment stellen nur wenige Unternehmen her, im Cutting-Edge-Bereich sogar nur ein einziges. Die Wartelisten der Spezialisten sind lang, fähiges Personal ist rar.

„Ich weiß nicht, was sie vorhaben“, sagt Technologie-Expertin Epifanova ratlos. „Ich weiß nicht, was sie gedacht haben, bevor sie in die Ukraine einmarschiert sind. Denn diese Diskussionen, dass Technologie-Sanktionen kommen könnten, wurden geführt. US-Präsident Joe Biden hatte das im Dezember angekündigt. Aber das ist das eigentliche Problem, es gibt keinen Plan.“ Die Technologie-Sanktionen der USA sorgen nicht dafür, dass die russische Bevölkerung stundenlang Schlange am Geldautomaten steht, dass der Rubel abstürzt oder ausländische Unternehmen das Land verlassen. Aber sie werfen Russland technologisch in die Steinzeit zurück. 30 Jahre, schätzt Alena Epifanova, müsste die russische Halbleiterbranche massiv investieren, um auf den heutigen Stand zu kommen. Und dann noch einmal 30 Jahre forschen und entwickeln, bis man zur Spitze aufgeschlossen hat.

„Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes“

Quelle Meduza

PolitikOriginal 27.02.2022 von Swetlana Reiter , Oleg Anissimow — Übersetzung 02.03.2022 von Ruth Altenhofer

„Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes“

„Diejenigen, die sehen, was passiert, können keine Rechtfertigung für diesen Angriff auf die Ukraine finden“ – so wurde ein Vertreter der russischen Delegation bei einem UN-Klimatreffen am 27. Februar zitiert. Oleg Anissimow sagte demnach in einer nicht-öffentlichen Online-Runde, er wolle „im Namen aller Russen für die Unfähigkeit, diesen Konflikt zu verhindern, um Entschuldigung bitten“, wie nach der Abschlusssitzung der 195 Mitgliedsstaaten des Weltklimarates berichtet wurde. Ein westlicher Journalist hatte Anissimows Worte öffentlich gemacht – die Nachricht ging um die Welt. Zuvor hatte seine ukrainische Kollegin Swetlana Krakowskaja in einer leidenschaftlichen Rede den Stopp „dieses wahnwitzigen Krieges“ gefordert. 

Wer sich öffentlich gegen Russlands Krieg in der Ukraine positioniert – oder einfach nur den Krieg als Krieg bezeichnet –, der begibt sich in Russland derzeit in Gefahr und muss mit Konsequenzen rechnen: Laut OWD-Info sind bei russlandweiten Anti-Kriegs-Protesten seit dem 24. Februar mehr als 7500 Menschen festgenommen worden. Und doch sind es nicht nur durch ihre Bekanntheit „geschützte“ Personen des öffentlichen Lebens wie der Musiker Boris Grebenschtschikow, die sich öffentlich gegen den Krieg aussprechen, sondern zunehmend auch Fach- und Berufsverbände, sowie Privatpersonen auf ihren Social-Media-Kanälen.
Und auch in den Hinterzimmern der Macht herrscht keineswegs allgemeine Kriegsbegeisterung. Zumindest legt das ein kürzlich erschienener Artikel der Journalistin Farida Rustamowa (zuvor bei Doshd und Meduza) nahe, in dem sich ranghohe Staatsbeamte hinter vorgehaltener Hand sehr kritisch und besorgt über die Lage äußern. Einige Oligarchen ließen auch öffentlich Kritik durchblicken, äußerten sich zum Teil sogar deutlich, darunter die Milliardäre Oleg Deripaska und Oleg Tinkow.

Oleg Anissimow sorgte mit seinen einfachen Worten und seiner Entschuldigung gegenüber der Ukraine für weltweite Aufmerksamkeit und Hoffnung. In einem Protokoll auf Meduza spricht er über die Geschichte hinter der Nachricht, über Schuld, Angst und Verantwortung.

Teil des Dossiers – Krieg in der Ukraine – HintergründeALLE DOSSIERS

Es war eine Klausur von Klimaexperten. Die gesamte interne Atmosphäre, alles, was wir dort besprechen, unterliegt absolutem Stillschweigen. Es gab einen Leak [über eine Diskussion des Kriegs], so was kommt vor. Aber damit Sie verstehen: Bei nicht-öffentlichen Veranstaltungen werden Dinge gesagt, die nicht nach außen dringen sollen.

Zweitens: Ich bin nicht der Leiter der russischen Delegation. Das hat der französische Journalist [berichtet hat die Nachrichtenagentur AFP – dek] erfunden, der als erster von meinem Redebeitrag berichtet hat. Der hatte irgendwo irgendwas gehört, was ihm dann irgendjemand bestätigt hat. Ein bisschen paparazzimäßig.

Ich habe absolut naheliegende Dinge gesagt. Wir hatten zwei Wochen lang intensiv gearbeitet, es tagte der UNO-Sicherheitsrat. Das ist ja eine ziemlich große Sache: der Bericht der UN-Klimaexpertengruppe. Alle Länder sind da, und die Vertreter der Delegationen verhandeln dort Zeile für Zeile die Kurzfassung für die Politik. Das war unsere Aufgabe, sie ist von enormer Bedeutung – bisweilen haben wir um Positionen, die für jedes Land wichtig sind, heftig gestritten.

Im Rahmen der UNO sprechen die Delegationen der jeweiligen Länder in ihrer Landessprache, auch die russische Delegation führt ihre offizielle Position auf Russisch aus – das habe ich auch getan. Momentan findet diese Konferenz nicht im Präsenzmodus statt, sondern über Zoom, und man kann nicht auf den Flur hinausgehen und mit jemandem ein paar Worte wechseln. Ich nehme seit 1995 an diesen Konferenzen teil, ich habe da viele Kollegen und Freunde aus der ganzen Welt.

Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt

Als mit der Ukraine passierte, was mit der Ukraine passiert ist, traten natürlich alle Delegationen mit irgendeinem Statement zur Unterstützung der Ukraine auf. Das tat ich zu dem Zeitpunkt nicht. Habe ich einfach nicht gemacht. Habe geschwiegen. Na ja, weil ich – ich weiß auch nicht, wahrscheinlich war ich zu kleinmütig.

Es ist auch so, dass am Dienstag [22. Februar] meine Mutter gestorben ist, sie war 97. Und am Donnerstag [24. Februar] wurde das alles diskutiert. Sie verstehen bestimmt, dass ich, obwohl ich meine Arbeit fortsetzte, mit meiner Aufmerksamkeit auch woanders war. Vielleicht habe ich es einfach überhört und nicht ganz mitbekommen, als sich alle geäußert haben. Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt – ich war ja dort nicht der einzige Experte aus Russland.

Später lesen

Wir setzten unsere Arbeit fort. Heute [27. Februar – dek] war der letzte Tag. Wissen Sie, normalerweise war bei diesen Sitzungen immer auch jemand leger gekleidet: Die Teilnehmer leben in verschiedenen Zeitzonen, bei den einen ist Tag, bei den anderen Nacht. Doch heute trugen die meisten Anzug und Krawatte. Und heute war auch Swetlana Krakowskaja wieder im Zoom – sie ist Mitglied der ukrainischen Delegation. Wir kennen uns schon lange, sie war bei unseren Antarktis-Expeditionen dabei und ist eine ziemlich bekannte Wissenschaftlerin. Sie machte eine Erklärung vornehmlich wissenschaftlicher Natur – was für ein großes Stück Arbeit wir alle geleistet hätten und dass die Ukraine aus bekannten Gründen in den letzten Tagen nicht an der Konferenz habe teilnehmen können – es kein Internet gebe und so weiter und so fort. Und sie hoffe, dass diese Arbeit einen Beitrag zum Frieden leiste.

Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören

Dann begann sie, über russische Themen zu sprechen – über den Krieg und all das. Dann verstummte sie, es trat eine Pause ein, das war jetzt der nicht-offizielle Teil. Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören.

Ich habe dann folgendes getan: Ich sagte den nächsten Satz auf Englisch. Gearbeitet hatten wir die ganze Zeit auf Russisch – wenn du als offizielle Person auftrittst, wirst du gedolmetscht. Ich sagte auf Englisch, dass ich jetzt nicht als Mitglied der russischen Delegation auftrete, sondern als Mensch, der in Russland lebt und sein Mitgefühl mit der Ukraine zum Ausdruck bringt sowie sein Bedauern, dass wir diesen Angriff nicht verhindern konnten.

Außerdem habe ich gesagt: „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes. Ich schäme mich, dass wir es nicht geschafft haben, in unserem Land zivilgesellschaftliche Institutionen aufzubauen, die auf Entscheidungen des Präsidenten und der Regierung Einfluss nehmen könnten. Dass wir einfach vor die Tatsache gestellt wurden – genauso wie die Bevölkerung der Ukraine. Wir wurden vor die Tatsache gestellt, dass wir, die Bürger Russlands, in einen militärischen Konflikt hineingezogen werden.“

Das ist alles, was ich gesagt habe. Ich wiederhole, in einer nicht-öffentlichen Sitzung. Es war davon auszugehen, dass das in diesem Plenum verbleibt, aber irgendjemand hat etwas nach außen dringen lassen, dann ist es leicht verzerrt in die Medien gelangt, und schon ging es um die ganze Welt. Jetzt sehe ich es.

Verstehen Sie, ich bin jetzt in den Medien bekannt, dabei bin ich einfach ein Wissenschaftler, der als russischer Bürger seine Meinung gesagt hat. Die sehr simpel ist: Erstens, nein zum Krieg. Und zweitens: Ich schäme mich für mich selbst und für meine Mitbürger dafür, dass wir in unserem Land keine Gesellschaft aufbauen konnten, die uns ein friedliches Leben ermöglichen würde – uns und unseren Nachbarländern. Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt

Ich befürchte, dass meine Aussage meine Karriere beeinträchtigen wird. Natürlich befürchte ich das. Aber hören Sie mir zu, ich bin 64, in zwei Wochen 65. Ich lebe in Russland und will nicht flüchten, meine Heimat verlassen, nur weil ich etwas befürchte. Aus Sicht eines Bürgers des Landes habe ich nichts gesagt, was diesem Land Schande bringen würde. Ja, ich habe nichts Derartiges gesagt. Und alle meine Befürchtungen sind nichts im Vergleich zu der Zufriedenheit, die ich verspürt habe, als ich meinen Standpunkt geäußert habe. Wissen Sie, es gelingt einem nicht jeden Tag, von allen Ländern der UNO gehört zu werden.

Vielleicht war das nicht auf besonders hohem politischen Niveau, vielleicht kann man mich mit Greta Thunberg auf eine Stufe stellen, die ja auch vor der UNO gesprochen hat. Man kann vielleicht auch sagen: „Der spinnt.“ Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt.

Ich gebe Ihnen einen Rat: Machen Sie keine Symbolfigur aus mir. Hören Sie, ich bin nicht der einzige im Land. Manche sprechen es aus, viele schweigen. Wer spricht, wird nicht immer gehört – weil es kein Sprachrohr gibt. Das war einfach eine Situation, in der ich eine Plattform hatte und somit ein Sprachrohr. Aber im ganzen Land gibt es solche Äußerungen, die davon zeugen, dass nicht alle Russen mit dem, was passiert, einverstanden sind. Dass das nicht alle unterstützen. Das ist auch ganz logisch – es wäre seltsam, wenn es anders wäre, dann würde ich meinen Respekt vor Russland verlieren.

Es ist sehr einfach, aus mir Greta Thunberg zu machen. Sie wissen ja, wie geschickt der Staat manipuliert: „Der Mann ist nicht ganz bei Trost, bei allem Respekt für seine Verdienste, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste, außerdem ist seine Mutter gerade gestorben.“ Dann sehe ich aus wie ein Psycho. Dabei ist alles ganz anders.