Corona-Pandemie: Eine Krise als Chance zur Beschreitung neuer Wege

Quelle: Frankfurter Rundschau online – Hans-Jürgen Urban – 19.4.20

Corona-Pandemie: Eine Krise als Chance zur Beschreitung neuer Wege

Nach Corona werden in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sicher wieder alte Mechanismen greifen. Wir sollten Kräfte bündeln und neue Wege beschreiten.

Die Krise ist die Stunde der Exekutive, heißt es. Mag sein. Durchgreifendes Krisenmanagement gegen Infektionsrisiken sowie den ökonomischen Niedergang ist wohl auch diesmal das Gebot der Stunde. Doch nach der Krise sollte die freie Hand der Exekutive enden.

Weichenstellungen für die Zukunft müssen Gegenstand gesellschaftlicher Debatten und legitimierter Entscheidungen sein. Nur so können dauerhafte Schäden an Demokratie und Rechtsstaat vermieden werden. Und nur so kann verhindert werden, dass sich die romantische Sehnsucht nach den Vorkrisenzuständen, die allenthalben anzutreffen ist, als Leitbild der Konsolidierungspolitik durchsetzt. Denn das wäre der Weg in die Sackgasse.

Die Überführung ganzer Ökonomien ins künstliche Koma ist historisch einzigartig. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kollateralschäden sind noch nicht abzusehen. Und das Ausmaß steigender häuslicher Gewalt gegen Frauen, Kinder und Pflegebedürftige ist nur zu erahnen.

Nach der Corona-Krise: Freie Hand der Exekutive beenden

Und wie agieren die politischen Entscheider? Besser als ihr Ruf. Die Koalition gibt sich handlungsfähig. Großzügigere Regelungen bei der Grundsicherung, erleichterter Zugang zu Kurzarbeit, finanzielle Zuwendungen und Bürgschaften für Unternehmen mögen verteilungspolitisch eine Schlagseite aufweisen. Als kurzfristige Ad-hoc-Krisenmaßnahmen sind sie grosso modo jedoch zu begrüßen. Pauschales Politikbashing wirkt hier eher schal.

Die Entwicklung gleicht einer konservativen Revolution. Konservativ, weil die Krisenmaßnahmen auf die Rettung vorhandener Strukturen zielen; revolutionär, weil sie mit radikalen Ideologiebrüchen einhergehen, die selbst in den kühnsten linken Träumen nicht vorhergedacht wurden.

Dreistellige Milliardenbeträge werden mit nie gekannter Großzügigkeit unter Kleinunternehmern und Soloselbstständigen verteilt. Und der Staat rüstet sich für freundliche Übernahmen systemrelevanter Großkonzerne. Der Krisensturm bläst hegemoniale Erzählungen wie die von der schwarzen Null oder von der Unantastbarkeit ökonomischen Privateigentums einfach hinweg.

Sicher bleiben Privilegien- und Klassenstrukturen wirkungsmächtig. Während zumeist Besserverdienende sich bei Erhalt der Bezüge ins Homeoffice zurückziehen können, müssen mitunter Normalverdienende und Niedriglöhner am Arbeitsplatz vor Infektionsgefahren geschützt werden. Vor allem aber fließt der Hauptstrom der Krisenmilliarden in die Kassen der Unternehmen. Und die Großvermögenden bleiben verschont. Bei Verteilungsfragen endet der revolutionäre Elan der Krisenpolitik.

Das nachhaltigste Problem: verklärter Blick auf und romantische Sehnsucht nach Vorkrisenzeit

Doch das vielleicht nachhaltigere Problem liegt woanders. Es reicht bis weit in die Gesellschaft hinein. Es ist die immer wieder durchbrechende Sehnsucht nach der Normalität der guten alten Vorkrisenzeiten.

Ob Vorhaben der Regierungen, ob Szenarien der Wirtschaftswissenschaften, ob Pläne von Theatern, Konzerthäusern oder anderen Einrichtungen, nahezu alle Entwürfe fragen nach Wegen zurück. Zurück zur wachsenden Wirtschaft, zum stabilen Arbeitsmarkt, zu verlässlichen Kultursubventionen, zum gewohnten Alltagsleben. Rückkehr wird geradezu zum Signum der Krisenpolitik. Doch die romantische Sehnsucht nach den alten Zuständen ist fatal. Offenbar verklärt der Blick aus dem Auge des Orkans die Vergangenheit. Der deutsche Vorkrisenkapitalismus taugt nicht als konkrete Utopie fortschrittlicher Politik. Soziale Ungleichheit, Klimakrise, Rechtspopulismus und andere Missstände sollten auch im Angesicht der Krise nicht so schnell in Vergessenheit geraten.

Zielführend wäre hingegen die Rückbesinnung auf die weitgehend verstummte Ökologiedebatte, insbesondere auf Plädoyers für ein neues Wachstumsmodell. Denn die Gesellschaften des Gegenwartskapitalismus sind Überfluss- und zugleich Defizitgesellschaften. Umweltschädlichem Luxuskonsum stehen Investitionsrückstände bei sozialer Sicherheit, im Gesundheits- und Sorgebereich, im Bildungs- und Kultursektor und bei der Mobilität gegenüber.

Erkannt wird zugleich, dass der profitgetriebene Wachstumszwang unseres Wirtschaftssystems die gesellschaftlich zu beantwortende Frage blockiert, was wachsen soll und was nicht. Anvisiert wird eine Wirtschaft, die wächst, wo sie wachsen soll, und auf Wachstum verzichtet, wo es die Gesellschaft spaltet oder die Natur überfordert. Daraus folgt: Nicht die Wiederherstellung alter Strukturen und Spielregeln, sondern Schritte in Richtung eines neuen Wachstumsmodells sind der historische Auftrag.

Corona-Krise als Chance um Reformwiderstände zu überwinden und neue Wege zu beschreiten

Hier könnte die Krise ein Zeitfenster öffnen. Die politikwissenschaftliche Theorie der Pfadabhängigkeit besagt, dass es Gesellschaften in der Regel schwerfällt, gewohnte Bahnen zu verlassen. Sie kennt aber auch Übergangsphasen („critical junctures“), in denen Krisenschocks helfen, Reformwiderstände zu überwinden und Pfadwechsel einzuleiten. Und ein solches Momentum könnte die Corona-Krise erzeugt haben.

Doch ein Problem schleppt sich aus der Vergangenheit in die Zukunft. Neue Weichenstellungen setzen handlungsmächtige Akteure voraus und Verschiebungen nach links eine starke Linke. Und die fehlt. Die Krise wird aus der politischen Mitte gemanagt. Die Linke analysiert und räsoniert, bleibt aber weitgehend wirkungslos. Wieder einmal schwächelt der neoliberale Kapitalismus, und wieder einmal fehlt eine Kraft, die die Gunst der Stunde nutzen und die Gesellschaft auf einen progressiven Pfad drängen könnte.

Doch Fatalismus ist keine Option. Die Konflikte um die Entwicklung von Ökonomie, Gesellschaft und Politik werden die Nachkrisenphase prägen. Sie werden intensiv ausfallen und alle Reformkräfte werden sich aufrappeln müssen. Vor allem Gewerkschaften sowie Akteure aus der Ökologiebewegung und dem fortschrittlichen Spektrum der Parteien sind gefragt. Annäherungen in Fragen von Umweltstandards, Verteilungsgerechtigkeit und Schutz prekärer Arbeit, die vor der Corona-Krise sichtbar wurden, sollten fortentwickelt und zu Konzepten einer solidarischen Nachkrisenpolitik aktualisiert werden.

Nach der Corona-Krise: Transformationskonflikt um zukünftige Gesundheits- und Sozialpolitik

Ein zentraler Transformationskonflikt wird sich um die zukünftige Gesundheits- und Sozialpolitik drehen. Die großzügigeren Sozialleistungen der letzten Wochen beruhen nicht auf einem reflektierten Lernprozess. Der Abschied von der Austeritätspolitik ist reiner Notpragmatismus. Auf den ist kein Verlass. Ein Rückfall in die Spar- und Sozialabbaulogik ist nicht unwahrscheinlich. Heftige Konflikte um den Abbau der Schuldenberge sind absehbar. Die soziale Schieflage der Krisenpolitik könnte vor der zu befürchtenden Schlagseite der kommenden Konsolidierungspolitik verblassen.

Doch nicht nur sozialer Krisenschutz, auch der notwendige Ausbau des Sozialstaates wird teuer. Auch hier lauern harte Verteilungskonflikte um die notwenigen Milliarden. Die Krise zeigt: Vorbeugende Sozialpolitik braucht bedarfsgerechte Leistungen, Ressourcenreserven und universelle Schutzsysteme. Die Institutionen der Daseinsvorsorge müssen dauerhaft vor der Sparwut geschützt und als Felder mit gesellschaftlichem Zusatznutzen anerkannt werden. Und alle Formen abhängiger Arbeit müssen in den Solidarverbund integriert werden und verlässliche Leistungszusagen erhalten. Im Kultur-, Kommunikations-, aber auch im Pflege- und Gesundheitssektor sowie in der Bauwirtschaft sind Formen prekärer Arbeit außerhalb des Beschäftigtenstatus geradezu explodiert. Der beschönigende Begriff der Soloselbstständigkeit kaschiert nur mühsam die soziale Existenzkrise, in die viele der Betroffenen gegenwärtig geraten. Konzepte einer universellen Bürger- und Erwerbstätigenversicherung, wie sie in der sozialstaatlichen Reformdebatte vorgelegt wurden, gewinnen durch die Krise neue Dringlichkeit.

Grundlegende Korrekturen in Produktions- und Verteilungsverhältnissen sind anzugehen

Zugleich wird die Vermeidung eines absehbaren, aber fatalen Zielkonflikts die eigentliche Herausforderung sein. Finanzmittel, die in die Stabilisierung von Wirtschaft und Arbeitsplätzen fließen, stehen für ihre Ökologisierung nicht mehr zur Verfügung. Es droht eine Mittelkonkurrenz zwischen Krisen- und Klimaschutz. Vermieden werden kann sie, wenn die Stabilisierungsinvestitionen mit einem ökologischen Mehrwert einhergehen. Dieser muss Ziel öffentlicher und öffentlich geförderter Investitionen werden. Etwa solche in klimaschonende Infrastrukturen, energiesparende und emissionsvermeidende Produktionsverfahren und naturverträgliche Produkte. Noch profitable Unternehmen und Vermögende müssen sich an der Finanzierung beteiligen und Dividenden in unterstützten Unternehmen ausgesetzt werden.

Notwendig sind grundlegende Korrekturen in den Produktions- und Verteilungsverhältnissen. Hier versagt der Markt. Politische Interventionen etwa durch Schadstoffgrenzen und Produktauflagen sind unverzichtbar. Aber auch Eingriffe in die Eigentums- und Verfügungsrechte. Gelten muss: Wo öffentliches Geld fließt, muss öffentliches Eigentum entstehen und öffentliche Einflussnahme folgen. Schon die Miteigentümerschaft der öffentlichen Hand ermöglicht Einflussnahme auf Unternehmenspolitiken.

Diese Möglichkeiten müssen offensiv genutzt werden. Ohne ideologische Vorbehalte, nach demokratischen Entscheidungen und orientiert an den Imperativen der sozial-ökologischen Transformation. In einer gemeinsamen Erklärung fordern etwa Umweltverbände und IG Metall, mittels regionaler und bundesweiter Transformationsräte einen breiten gesellschaftlichen Dialog über die unverzichtbaren Maßnahmen des Klimaschutzes zu organisieren. Sollten sich diese Räte als Orte demokratischer Verständigung bewähren, könnte es eine vornehme Aufgabe der öffentlichen Anteilseigner sein, ihnen Einflusskanäle in die wirtschaftlichen Entscheidungen der Unternehmen zu eröffnen. Kurzum, nicht Privatkapitalismus, sondern Wirtschaftsdemokratie lautet die Perspektive.

Kampf gegen Corona-Pandemie als befristetes Notmanöver mit riskanten Eingriffen

Trotz der Annehmlichkeiten sozialer Entschleunigung und des reduzierten Schadstoffausstoßes: Der Shutdown der Ökonomie mit seinen ökonomischen Verwerfungen, sozialen Kosten und absehbaren Wiederanlaufkonflikten ist keine positive Blaupause für die ökologische Transformation. Fantasien dieser Art, auch linke, sind fehl am Platz. Der Kampf gegen Corona ist ein befristetes Notmanöver mit riskanten Eingriffen in Gesetzgebung, Bürgerrechte und Alltagsleben. Die sozial-ökologische Transformation muss hingegen als dauerhafter und vor allem demokratischer Prozess konzipiert werden.

Doch die schlichte Rückkehr zum Bekannten taugt eben auch nicht als Zukunftsvision. Ein durchgreifender sozial-ökologischer Reformismus muss die Weichen in Richtung Sozialschutz und ökologische Wirtschaftsdemokratie stellen. Mut zur Kapitalismuskritik ist hier gefragt.

Das alles wird sich auch auf europäischer Ebene bewähren müssen. Die Corona-Tragödien in wichtigen Mitgliedstaaten überforderten die nationalen Selbsthilfekräfte. Der Komplettausfall der Europäischen Union als Organisator innereuropäischer Solidarität war eine Katastrophe. Unterlassene Hilfeleistung statt Solidarität. Der folgende Ansehensverlust könnte sich für Europa zur Existenzkrise auswachsen.

Die EU wird bald vor einer weiteren, vielleicht der letzten Bewährungsprobe stehen. Die besonders von der Krise gebeutelten Länder bleiben auch bei der Bewältigung der Krisenlasten auf solidarische Hilfen angewiesen. Wenn Außenminister Maas den bevorstehenden deutschen EU-Vorsitz zur Corona-Präsidentschaft machen will, muss dies mit ausreichender materieller Unterstützung unterlegt werden. Die EU sollte nicht noch einmal versagen.

Hans-Jürgen Urban ist promovierter Sozialwissenschaftler und als geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall zuständig für Sozialpolitik, Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik.

Die Serie in der Frankfurter Rundschau „Die Welt nach Corona“

Mitten in der Krise über die Welt danach zu reden – ist das eine Zumutung? Haben wir nicht alle genug damit zu tun, die Beschränkungen des alltäglichen Lebens, die Angst vor der Erkrankung und den materiellen Folgen zu bewältigen? Wir haben uns entschieden, den Blick in die Zukunft dennoch zu wagen. Wir sind überzeugt, dass wir jetzt überlegen müssen, was auf Dauer anders werden muss, damit es für alle besser wird.

Sehr unterschiedliche Aspekte soll diese Serie abdecken: von der Erfahrung der fehlenden Verfügbarkeit über das eigene Leben bis zu einer grundlegenden Neugestaltung der Wirtschaftsordnung.

Viele Gastautorinnen und -autoren haben ihre Teilnahme zugesagt, etwa die Philosophinnen Nancy Fraser und Rahel Jaeggi sowie der Erfolgsautor Paul Mason. Die nächste Folge erscheint am 22. April.

Bereits erschienen sind Beiträge von FR-Autor Stephan Hebel, der Soziologin Sabine Hark und der Linken-Politikerin Katja Kipping sowie ein Interview mit dem Zukunftsforscher Horst Opaschowski.

Alle Teile der Serie online unter www.fr.de/welt-nach-corona

Mit einem Phasenmodell macht die indische Ärztin Monika Langeh Mut, die Corona-Krise als Chance für die persönliche Entwicklung zu nutzen. Sie erklärt, worauf es dabei ankommt.

Um die Corona-Pandemie zu überstehen braucht es Wissenschaft ohne nationale Grenzen. Deutschland muss beim Schutz ihrer Freiheit ein Vorbild sein.

Corona-Krise: Was Solidarität auch meinen könnte. Der letzte Artikel aus der Serie „Die Welt nach Corona“ .

Querdenken an der Frontlinie

Quelle: Kontext – Ausgabe 476 – Von Gesa von Leesen – 13.5.2020

Querdenken an der Frontlinie

Während andere Veranstaltungen noch verboten sind, versammeln sich 10.000 Menschen auf dem Cannstatter Wasen: Friedensbewegte und Nazis, Freigeister und Geistfreie. Das durchmischte Publikum demonstriert für … Verschiedenes. Eine Maske trägt kaum jemand – bis auf Stargast Ken Jebsen, der sich unter einer Decke versteckt.

Die Trigger-Worte, bei denen die Menge an diesem sonnigen Samstagnachmittag am lautesten buht, sind: „Bill Gates“, „Impfen/Impfzwang“, „Merkel“, „gleichgeschaltete Medien“ – pfui! Am stärksten gejubelt wird bei Äußerungen wie „Wehren Sie sich“ und „Sie sind mutig“. RednerInnen, die das unterbringen, kommen deutlich besser an beim – ziemlich vielfältigen – Publikum. Einige DemonstrantInnen haben sich das Grundgesetz um den Hals gehängt. Manche sind nur gegen zu viele Einschränkungen, manche gegen alle. Viele sind gegen Bill Gates und gegen die Bundeskanzlerin. Es gibt eine gute Handvoll Deutschland-Fahnen, gehalten unter anderem von den AfD-Landtagsabgeordneten Stefan Räpple und Christina Baum, die sich unter die Menge gemischt haben. Es flattern bunte Friedensfahnen, es werden Schilder in die Höhe gehalten mit „Stoppt Massentierhaltung“, „Angstfabrik Bundesregierung“, „Kein Impfzwang“, „Impfen – Nein Danke“, „Gib Gates, Soros, WHO, NWO, UNO, NATO, ID 2020 keine Chance“, „Wir wollen unser altes Leben zurück“, „Jesus rettet“ und viele mit „Kill Bill“, meist verbunden mit Gates‘ Konterfei. In den sozialen Netzwerken kursiert ein Bild, das Kameraden vom „Nationalen Widerstand“ mit Ordner-Binde zeigt. Neben der Bühne hängt sehr hoch ein Transparent: „Nie wieder Corona-Faschismus.“

Die AfD-Abgeordneten Stefan Räpple und Christina Baum (unter der Deutschland-Flagge) sind auch am Start.

Dass der Veranstalter, Michael Ballweg mit seiner Initiative „Querdenken 711“, zu so etwas kein Wort verliert, passt. Schließlich erklärt er, man sei gegen jede Form von Extremismus und Gewalt, stattdessen für Frieden, Freiheit und Demokratie. Eine Bewegung eben, die Meinungen zulasse und Schubladen wie links und rechts ignoriere. Weil Ballweg meint, Medien wie SWR, ARD und „Zeit Online“ hätten verzerrt über seine Demo berichtet, gibt er Interviews nur noch JournalistInnen, die sich schriftlich verpflichten, „wahrheitsgemäß, unparteiisch und vollständig“ zu berichten und ihre Anschrift und Telefonnummer bei ihm hinterlassen. Verbunden mit der Bitte: „BRINGEN SIE DIE ERKLÄRUNG ZU DEN DEMOS MIT.“

Für die 7. „Mahnwache für das Grundgesetz“ ist Ken Jebsen angekündigt. Er ist gerade der Superstar der Corona-Maßnahmen-Kritiker, viele der TeilnehmerInnen – deutlich mehr Männer als Frauen – dürften vor allem seinetwegen gekommen sein. Höchstens 10.000 Demonstrierende hatte die Stadt Stuttgart genehmigt, damit der Sicherheitsabstand von 1,5 Metern eingehalten werden kann. Der Veranstalter spricht von 20.000 TeilnehmerInnen. Gezählt wurden sie offenbar nirgendwo, die Polizei nennt jedenfalls keine Zahlen und groß kontrolliert wurde nicht, ob die Abstände auch eingehalten wurden. Als Richtlinie dienen Kreuze auf dem Boden, die signalisieren, wie viel Raum zu den Nebenstehenden gelassen werden soll. Das funktioniert stellenweise ganz gut, aber nicht durchgängig.

Die Hungerspiele des Merkel-Regimes

Sechs RednerInnen stehen auf dem Programm sowie ein paar musikalische Beiträge. Den Auftakt macht Stefan Homburg, Direktor des Instituts für öffentliche Finanzen an der Universität Hannover. Der Professor hat in den vergangenen Wochen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in Tageszeitungen und öfter in alternativen Medien erklärt, dass er die Corona-Maßnahmen falsch findet und für sehr überzogen hält. Das erklärt er nun noch mal. Die ganze „Panikmache“ sei Unsinn. Für den Volkswirtschaftler, der als Euro-Kritiker bekannt ist und der 2015 auf dem Bundesparteitag der AfD gesprochen hat, ist klar: „Es geht nicht darum, ihre Gesundheit zu schützen. Der Lockdown ist Zweck an sich geworden.“ Homburg fühlt sich vom Lockdown an die Hungerspiele aus der Dystopie „Tribute von Panem“ erinnert, findet die Maskenpflicht „irre“ und beklagt „im wesentlichen gleichgeschaltete Medien“ sowie „weitgehend korrumpierte“ Wissenschaftler. Dafür erntet er großen Applaus. Die politische Klasse habe „uns“ belogen, befindet Homburg, aber ganz loswerden will er sie nicht. Merkel, Spahn und Seehofer (sehr laute Buhs) müssten jedoch zur Verantwortung gezogen werden und abtreten.

In den vorderen Reihen, nah an der Bühne, kommt die Rede sehr gut an. Einzelne verfallen in geradezu hysterisches Kreischen wenn „Merkel“ erwähnt wird. Hier, weit vorne, stehen die Menschen am engsten und freuen sich am meisten, wenn es gegen die Regierung geht. Da man die Corona-Maßnahmen kritisiert, werden auf dem ganzen Platz nahezu keine Masken getragen (das macht nur Superstar Ken Jebsen bei seinem halb-heimlichen Abgang). In einiger Entfernung von der Bühne ist deutlich mehr Platz zwischen den Menschen. Hier lagern Familien und Pärchen mit Sicherheitsabstand. Eine ältere Dame in Kostüm und mit Perlenkette sitzt auf ihrem Klappstuhl, lauscht den Beiträgen. Bunt angezogene Frauen haben mit Kreide „Liebe“ auf die Erde geschrieben, an Kinderwagen hängen Schilder gegen das Impfen. Aber auch andere Gestalten treiben sich herum: eindeutig erkennbare Neonazis und Anhänger der vor allem in den USA beliebten QAnon-Verschwörung. Auch der wegen Volksverhetzung verurteilte Antisemit Nikolai Nerling, bekannt als der „Volkslehrer“, wird im Bühnenbereich gesichtet.

Dann tritt Wilfried Geissler auf, ein Hausarzt aus Stuttgart und bekannt durch seine Teilnahme bei den Protesten für Diesel und gegen Fahrverbote. Im vorigen Jahr kandidierte er bei der Wahl zur Stuttgarter Regionalversammlung für die AfD. So wie er Feinstaub und Co. nicht so schlimm fand, findet er nun auch Corona nicht so schlimm: „Ich würde lieber an Corona sterben als an einem schmerzhaften Bauchspeicheldrüsenkrebs.“ In Schweden sei alles besser, allerdings fände er es sogar noch besser, wenn es dort eine Maskenpflicht gäbe. Auch die nächste Rednerin, Krankenschwester Melanie, hat „den Eindruck, dass es gar nicht so schlimm ist. Mir geht es gut“. Sie plädiert für mehr Intuition, Objektivität, die Wahrheit und Transparenz. Einmal wird sie konkret: Man müsse weg von der Privatisierung von Krankenhäusern, denn sie fühle: „Es kann nicht richtig sein, mit Gesundheit Geld zu verdienen.“ Mittelstarker Applaus.

Putschartige Gesichtszüge

Auch Olav Müller, bis vor kurzem SPD, nun bei „Widerstand 2020“, kommt nur mittelprächtig an. Der Offenbacher ist offenbar heiser. Seine Stimme überschlägt sich, wird schrill und schwer verständlich. Sein Hauptthema: Demokratie. Die kommt ihm zu kurz und dafür führt er zum Beispiel die intransparenten Freihandelsverträge TTIP und CETA an. Und Corona? „Das hat putschartige Gesichtszüge! Lasst euch das nicht gefallen!“, schreit er. Der Applaus hält sich in Grenzen und brandet erst wieder auf bei – genau – der „Mediengleichschaltung“, die er „zum Kotzen findet“.

Es folgt Musik und der Auftritt von Sarah-Isabell Hellriegel-Rodriguez. Schwierig. Die junge Frau erzählt, sie sei in ihrer Kindheit Opfer von sexueller, physischer und psychischer Gewalt geworden und kommt über verschlungene Wege zu Kindern, die jetzt besonders gefährdet seien. Der Bezug zur Corona-Krise und zu Eingriffen in die zu verteidigenden Grundrechte ist nicht direkt ersichtlich. Hellriegel-Rodriguez möchte, dass Kinder mit Taschenlampen Zeichen geben können, wenn es ihnen schlecht geht, und dann solle man die Polizei holen.

Es ist 18:10 Uhr. Ken Jebsen ist dran. Organisator Ballweg behauptet: Es sei seine schwierigste Entscheidung gewesen, ob man Jebsen einladen sollte. Aber: „Jemand, der es schafft, ein Video mit 2,7 Millionen Abrufen zu erhalten, ist unserer Meinung nach auch qualifiziert, seine Meinung auch öffentlich zu sagen.“ Was zählt, sind Klicks.

Während sich Ballweg nicht offen als Jebsen-Fan outen wollte, verbreitet er auf seinem Twitterprofil schon seit Wochen fleißig Beiträge von KenFM – wie auch eine inzwischen wieder gelöschte Karikatur, die Bill Gates in einer SS-ähnlichen Uniform zeigt, mit einem Hakenkreuz aus Impfspritzen im Hintergrund.

Jebsen erscheint auf der Bühne. Er verspricht, kurz und langsam zu reden und dann verlässt er die Bühne. Denn: „Die Zeit ist vorbei, wo Sie sich von oben volltexten lassen müssen.“ Er rede, so die genannte Begründung, lieber auf Augenhöhe mit den Leuten. Aber anscheinend nicht mit Augenkontakt. Die leere Bühne ist ärgerlich für die vielen, die nach vorne an die Bühne gedrängt haben. Sicherheitsabstand ist nun endgültig passee. Aber das interessiert niemanden.

Hinter der Bühne wird es skurril: Zusammen mit einem Mann, der ihn per Handykamera filmt, spricht Jebsen hinter einer Decke, mit der ihn Sicherheitsdienstler abschirmen. Das hat ein bisschen was von einer improvisierten Zaubershow. In einer Twitter-Diskussion betont @TeamKenFM: „Er versteckt sich nicht! Es sind Vorsichtsmaßnahmen aufgrund von eindeutigen Androhungen der Gewalt gegen seine Person.“

Die persönliche Sicherheit scheint ihm wichtig zu sein – und offenbar nimmt Jebsen Corona einen Ticken ernster als es in seinen Videos den Anschein hat. Sofort nach seiner Rede zieht er einen Mund-Nasen-Schutz auf und lässt sich im Auto vom Festplatz bringen – bloß kein Kontakt mit Fremden.

Jebsen sagt also von hinter der Decke: „Niemand leugnet, dass es Corona gibt. Niemand leugnet, dass es Risikogruppen gibt, die einen besonderen Schutz bedürfen.“ Das dürfte so manchen Demo-Teilnehmer mit „Corona = fake“-Schild irritieren. Doch diese Enttäuschung macht der Star des Abends wieder wett: Die Corona-Maßnahmen seien „völlig überzogen“, sagt Jebsen. Das „Merkel-Regime“ habe „große Teile der im Grundgesetz verankerten Grundrechte willkürlich und dauerhaft auf Eis gelegt“. Warum? Jebsen: „Corona wird als trojanisches Pferd genutzt, um den Staat noch mächtiger und den Bürger noch ohnmächtiger zu machen.“ Von Anfang an sei eine Überwachungs-App geplant gewesen und ein indirekter Impfzwang komme über einen Immunitätsausweis auch noch. Die Stimmung steigt.

Das ist ja wie bei den Nazis

Die Tonlage in Stuttgart ist etwas gemäßigter als auf dem Portal KenFM, wo etwa Autor Rüdiger Lenz in der „Tagesdosis“ vom 22.04.2020 befindet: „Der Mundschutz ist das neue Hakenkreuz.“ Ganz ohne Vergleich zum Nationalsozialismus kommt allerdings auch Jebsen nicht aus. Damals wie heute hätten Pharmariesen verdient, die Massenmedien hätten das Volk doof gehalten, und überhaupt sei gelogen worden. Bei den Rassegesetzen hätten ein paar regierungstreue Wissenschaftler bestimmen dürfen, was gesund ist, und das sei gar nicht so weit weg von heute. Für den 52-Jährigen gibt es seit 1949 nur eine „Demokratie-Simulation“, die Coronakrise sei eine Chance, dies zu ändern. „Deutschland braucht dringend eine direkte Demokratie“. Applaus.

Was fehlt? Bill Gates. Der beeinflusse mit seinen Spenden die WHO, und außerdem erwähnt Jebsen noch die Medien, die nur eine Meinung zulassen. Die Menge ist jetzt schwer begeistert. Weitere Forderungen: ein Corona-Untersuchungsausschuss, ein demokratisches und kooperatives Wirtschaftssystem, weg mit der Globalisierung, die nur wenigen Reichen dient, Deutschland soll aufhören, Kriege zu führen auch gegen die Natur, und mehr Spiritualität. Applaus, Jubel, erfolglose „Zugabe“-Rufe. Nach insgesamt drei Stunden ist alles vorbei. Die Musiker auf der Bühne begleiten den Abzug der ProtestlerInnen, denen vor allem eine Botschaft vermittelt wurde: „Die da oben“ sind hinterhältig und haben üble Pläne. Das Establishment ist schuld, das System korrupt, man muss sich wehren.

Im Sich-Wehren haben auch diejenigen Erfahrung, die sich eine Stunde vor der Wasen-Demo vor dem Kursaal in Cannstatt getroffen haben. Dem gemeinsamen Aufruf des antifaschistischen Aktionsbündnisses, Verdi Stuttgart, des Württembergischen Kunstvereins und vielen anderen waren 250 bis 300 DemonstrantInnen gefolgt (mit Mundschutz und tatsächlichem Sicherheitsabstand). Auch sie beschäftigen sich mit den Corona-Maßnahmen, auch sie kritisieren die Einschränkung von Grundrechten, auch sie sind gegen Krieg und kaputtgesparte Gesundheitssysteme, und auch sie finden manches unlogisch. Zum Beispiel, dass es diese große Demo ein paar hundert Meter weiter gibt, aber jede noch so kleine Kulturveranstaltung verboten ist.

Hier, vor dem Kursaal, will man sich aber solidarisieren mit denjenigen, die am härtesten von der Krise getroffen sind wie KünstlerInnen und KurzarbeiterInnen. „Wir stehen für klare linke Antworten“, sagt Jens Heidrich von den Organisatoren. Die Krisenkosten dürften nicht auf dem Rücken der Beschäftigten abgeladen werden. Dass ausgerechnet linke Kreise gerade systemtreuer wirken als diejenigen, die auf dem Wasen stehen und sich als Grundgesetzschützer geben, weist Heidrich zurück. Für ihn zeige die Pandemie ja gerade wie falsch das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sei. Er verstehe es, wenn Menschen verunsichert seien und Alternativen suchten. „Wir wollen ein Gegenangebot zu den bürgerlichen Rechten machen und sagen aber auch: Eine solidarische und gerechte Gesellschaft kann nie mit rechten Kreisen erstritten werden.“

Franz Alt: „Wir haben den Impfstoff gegen den Klimawandel“

Quelle: Kontext 13.5.20

Von Franz Alt  – Datum: 13.05.2020

Wir haben den „Impfstoff“

Grünen-Chef Habeck sagt, für den Klimawandel gebe es keinen Impfstoff. Der Öko-Aktivist Franz Alt sieht ihn – in den Corona-Milliarden für grünes Wirtschaften. Er meint: höchste Zeit, damit den Umstieg auf erneuerbare Energien zu befeuern.

Gegenmittel verzweifelt gesucht? Fotos: Joachim E. Röttgers

Wir leben im Zeitalter von zwei Pandemien: Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im März 2020 die Corona-Epidemie zur Pandemie erklärt. Seither suchen Wissenschaftler auf der ganzen Welt nach einem Impfstoff, der die Rettung vor dem Virus bringen soll. Die erste große Umweltkonferenz in Rio 1992 hat den Klimawandel zwar nicht Pandemie genannt, aber ihn praktisch in seither 15 Weltklimakonferenzen zur fossilen Pandemie erklärt. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und UN-Generalsekretär Antonio Guterres übereinstimmend: „Die Klimafrage ist die Überlebensfrage der Menschheit.“

Jetzt kann man ständig hören: In der Coronakrise macht der Klimawandel keine Pause. Richtig. Wir verbrennen heute an einem Tag global so viel fossile Rohstoffe, also Kohle, Gas, Öl, Benzin und Diesel, wie die Natur in einer Million Tagen angesammelt hat.

Wir benehmen uns wie Pyromanen und verstoßen dabei im Verhältnis eins zu einer Million Mal gegen Naturgesetze, obwohl wir auf jeder Weltklimakonferenz hören, dass wir lernen müssen, nachhaltig zu wirtschaften. Das mag eine Zeitlang gut gehen, aber nicht auf Dauer. Der nächste Dürresommer kündigt sich über Waldbrände bereits an – der dritte in Folge. Aber schon vor 28 Jahren hat die Weltgemeinschaft in Rio beschlossen, auf den Impfstoff Erneuerbare Energien zu setzen, also auf klimafreundliche Energie aus Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und Erdwärme.

Der Deutsche Bundestag hat daraus die Konsequenz gezogen und im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) beschlossen. Es wurde so erfolgreich und überzeugend, dass knapp hundert Regierungen dieses Gesetz in seiner Intention übernommen haben. EEG heißt: Du bekommst einen ökonomischen Anreiz, wenn du auf Öko-Energie umsteigst. Deutschland produziert im Frühjahr 2020 immerhin 52 Prozent seines Stroms erneuerbar. Der Impfstoff zeigt erste positive Wirkungen. Freilich noch viel zu wenige. Noch steigen weltweit die Treibhausgase – erst in der Zeit der neuen Corona-Pandemie sinken sie erstmals leicht, weil Flugzeuge am Boden bleiben, Fabriken geschlossen sind und weniger Autos fahren.

Es gibt keinen Grund, die Energiewende aufzuschieben

Die Wissenschaftler des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung sagen uns, dass wir das Tempo des Umstiegs auf erneuerbare Energien beschleunigen müssen.

Denn das CO2-Budget, das wir noch haben, um das Paris-Ziel von höchstens zwei Grad zusätzlicher Erwärmung zu erreichen, ist spätestens 2030 oder 2035 aufgebraucht.

Also in zehn oder spätestens 15 Jahren erreichen wir „Kipp-Punkte“ der Klimaerhitzung, nach denen das bisher menschen- und lebensfreundliche Klima nicht mehr zu retten sein wird. Afrika werde dann auf Dauer in weiten Teilen unbewohnbar und Europa werde klimatisch Afrika.

Also müssen wir die Dosis des Impfstoffs gegen die Klimaerhitzung erhöhen. Das heißt in Deutschland: Wir müssen icht nur die Stromwende, sondern auch die Verkehrs-, die Wärme- und die Landwirtschaftswende organisieren, um unseren Beitrag zur Stabilisierung des Weltklimas zu leisten. Die Techniken hierfür sind alle vorhanden. Es gibt keinen Grund, die Energiewende aufzuschieben. Der Impfstoff ist bekannt.

Die Bundesregierung, die EU und weitere Industriestaaten wie die USA, Japan oder auch China wollen nach der Corona-Krise mit vielen Milliarden-Investitionen die Wirtschaft wieder anschieben.

Wenn wir diese Riesensummen in eine grüne Wirtschaft und in den Umstieg auf klimafreundliche Energieträger investieren, erreichen wir einen mehrfachen Erfolg: Wir nutzen den Impfstoff gegen die fossile Pandemie und stabilisieren das Klima, wir schaffen Millionen neue Arbeitsplätze, was nach der Rezession durch Corona dringend nötig sein wird, und wir bekommen preiswerte Energie.

Denn Sonne und Wind schicken keine Rechnung. Schon heute sind Solar- und Windstrom deshalb in den meisten Ländern der Welt die billigste Energiequelle. Das hat die Internationale Agentur für Erneuerbare Energie (IRENA) soeben berechnet. Zugleich gab sie bekannt, dass seit dem Jahr 2000 weltweit elf Millionen neue Jobs durch erneuerbare Energien entstanden sind und über 40 Millionen geschaffen werden können. Die EU will unter Ursula von der Leyen einen Green Deal organisieren.

Albert Einstein hat schon 1915 den Physik-Nobelpreis für die Erklärung des photovoltaischen Effekts erhalten. Worauf warten wir im Jahr 2020 eigentlich noch? Die Sonne schickt uns theoretisch 10.000 Mal mehr Energie als die Menschheit heute verbraucht. Es gibt von Natur aus kein Energieproblem.

Aber in Deutschland haben in diesem Frühjahr noch immer 90 Prozent der Dächer keine Solaranlagen. Sie stehen energetisch betrachtet völlig nutzlos in der Gegend herum. Stattdessen holen wir für viel Geld Öl aus Arabien, Gas aus Sibirien und Kohle aus Australien hierher und belasten damit die Umwelt. Das ist weder ökonomisch sinnvoll noch ökologisch vertretbar, wenn die Sonne auch hierzulande kostenlos auf jedes Dach scheint.

In diesen Tagen hat Grünen-Chef Robert Habeck in der „Zeit“ geschrieben: „Für den Klimawandel gibt es keinen Impfstoff“. Da irrt er sich. Die Grünen sollten nicht hinter ihr eigenes Diskussions-Niveau vor der Corona-Pandemie zurückfallen. Der SPD-Vordenker Hermann Scheer, einer der Väter des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes, hat in seinem letzten Buch sinngemäß geschrieben: Wir haben unendlich viel erneuerbare Energien, aber nicht unendlich viel Zeit für den Umstieg auf erneuerbare Energien. Ein ökologisches Wirtschaftswunder ist jetzt möglich.

Passend dazu eine neue Studie der Plattform Erneuerbare Energien Baden-Württemberg.

Franz Alt, Jahrgang 1938, war bis 2003 Journalist beim SWR und engagiert sich seit vielen Jahren für ökologisches Wirtschaften. Seine Homepage ist hier zu finden.

Corona und die Politik

Die Corona-Pandemie steht in enger Wechselwirkung der Politik – und zwar der Politik auf allen Ebenen, der kommunal-regionalen, der nationalen, der europäischen und der internationen Politik.

Die globale Gesundheitspolitik leidet unter neoliberalen Sparmaßnahmen und gerät zusehends in Abhängigkeit privater GeldgeberInnen.

Quelle: Jahoda-Bauer-Institut Linz

Von Nadja Meisterhans. Zur PDF-Version

Die globale Gesundheitspolitik leidet unter neoliberalen Sparmaßnahmen und gerät zusehends in Abhängigkeit privater GeldgeberInnen.

Die Welt ist infiziert und befindet sich im politischen Ausnahmezustand. Am 30.1. dieses Jahres hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angesichts der rasanten Ausbreitung des Coronavirus den internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Derzeit erleben wir, wie demokratische Regierungen drastische Maßnahmen ergreifen, die insbesondere mit der Einschränkung von politischen Grundfreiheiten und dem öffentlichen Leben einhergehen. So auch in Österreich. Bisher ist eine Mehrheit in der Bevölkerung mit dem Krisenmanagement der Regierung zufrieden. Doch ist sie das zurecht? Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die strukturellen Ursachen der Corona-Pandemie betrachtet.

Corona und das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft
Corona ist keine Naturkatastrophe. Vielmehr, so die These des Beitrags, ist die derzeitige Krise menschengemacht. Mehr noch: Corona ist Ausdruck eines eklatanten politischen Versagens – sowohl auf der nationalen, auf der europäischen wie auch globalen Ebene.

Die Corona-Krise verdeutlicht auf drastische Weise, dass Krankheiten nicht vor Staatsgrenzen halt machen, sondern eine globale Dimension haben. Bereits im Anschluss an die Ebola-Krise, die nicht zufällig von 2014-2016 in den drei ärmsten Ländern Afrikas wütete, zeigte sich, dass existierenden Strukturen zur Bekämpfung globaler Gesundheitskrisen große Defizite aufweisen und eklatante Schwächen in der internationalen Zusammenarbeit bestehen.

Das Ebola-Virus wurde lange ignoriert, so lange es nur in Afrika grassierte. Ähnliches lässt sich über Corona sagen. Auch hier hatte die internationale Gemeinschaft Corona viel zulange für ein Problem Chinas gehalten. Dies hatte zur Folge, dass entsprechende Schutzmaßnahmen, wie sie bereits im Rahmen der „International Health Regulations“ im Anschluss an die SARS-Epidemie im Jahr 2005 von der WHO verabschiedet wurden, nicht greifen konnten.

Die einzelnen Regierungen versäumten zudem die jeweiligen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie untereinander zu koordinieren. Eine international koordinierte Gesundheitsstrategie liegt bis heute nicht vor. Im Gegenteil: Bereits auf der EU-Ebene scheitert ein solidarisches Vorgehen, wie die derzeitige Ablehnung der Eurobonds insbesondere von Österreich, Deutschland und den Niederlanden zeigt. Hinzu kommt, dass die italienische Regierung mit Beginn der Coronakrise die EU aufrief, das EU-Katastrophenschutzverfahren in Gang zu setzen. Dies hätte der EU-Kommission ein Mandat verliehen, die Krise zentral zu koordinieren. Doch eine Reaktion blieb aus. Ganz zu schweigen von den Flüchtlingen auf den griechischen Inseln, die Corona völlig schutzlos in Massenlagern ausgeliefert sind. Trotz der akuten humanitären Krise, die sich dort abspielt, weigert sich Österreich unter der Regie Sebastian Kurz, selbst Kinder zu retten.

 Die Wurzeln der Gesundheitskrise
Dass demokratische Regierungen nun auf eine kollektive Quarantäne setzen und dabei auf eine seit dem Ende des zweiten Weltkriegs noch nie dagewesene Einschränkung von bürgerlichen Grundfreiheiten vornehmen, erscheint derzeit alternativlos. Nun sitzen wir alle im Lockdown und die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen vor allem aber politischen Folgen der Politik des Ausnahmezustands und der Notstandsgesetzgebung sind noch gar nicht absehbar.

Doch die derzeitige Gesundheitskrise hat tiefliegende Wurzeln: Weltweit wird das Gesundheitswesen durch neoliberale Politik ökonomisiert, privatisiert und entsolidarisiert. Insbesondere die im Anschluss an Schuldenkrisen und die globale Finanzkrise verordneten Austeritätspolitiken haben dazu geführt, dass Staaten (sowohl im Süden wie auch im Norden) kaum in die soziale Infrastruktur investieren (können).

Indem neoliberale Politik-Modelle das Sozialstaatsprinzip und das der steuerfinanzierten Umverteilung aberkennen, wird eine nachhaltige insbesondere auf die Stärkung strukturell Benachteiligter bezogene Gesundheitsagenda konterkariert. Und auch in Österreich rächt sich nun der Pflegenotstand, der ÄrztInnenmangel, der Umstand, dass zu wenig Schutzkleidung in Krankenhäusern, aber auch Pflegeheimen vorhanden ist. Die Austeritätspolitiken der letzten Jahrzehnte haben also auch in Europa in eine Situation geführt, in welcher ÄrztInnen angesichts mangelnder Personal- und Materialkapazitäten im schlimmsten Falle entscheiden müssen, wer leben darf und wer sterben muss. Die dramatischen Zustände in Italien sind hierfür geradezu symptomatisch.

Dabei hätte man von Ebola lernen können. Im Jahr 2015 fand in der Generalversammlung wie auch im Executive Board Meeting der WHO anlässlich der Ebola-Krise eine entscheidende Debatte statt. Schon damals zeigte sich, dass mangelhafte nationale Gesundheitssysteme, nicht nur bei akuten Seuchen, katastrophale Auswirkungen haben. Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit und hängt im entscheidenden Maße davon ab, wie es gelingt, soziale Teilhabe zu organisieren und sozio-ökonomisch bedinge Ungleichheiten abzufedern.

 Die sozialen und politischen Determinanten von Gesundheit
Der derzeitige Gesundheitsdiskurs fokussiert sehr stark auf biomedizinische Parameter. D.h. wir erleben, dass die Welt auf einen Impfstoff und entsprechende Medikamente und technologische Lösungen setzt. Problematisch daran ist jedoch, dass so die strukturellen Ursachen, die Gesundheitskrisen – nicht nur im Fall von Pandemien – bedingen aus dem Blickfeld geraten. Die WHO spricht in diesem Zusammenhang von den sozialen Determinanten von Gesundheit.

Angesprochen sind hier die Lebensbedingungen von Menschen und die Frage, wer überhaupt Zugang zur Gesundheitsversorgung hat. Was den Zusammenhang zwischen den Lebensbedingungen und Corona betrifft, steht die Forschung noch am Anfang.

Globale Gesundheitsfragen stehen in einem engen Zusammenhang mit zahlreichen Politikfeldern, wie Entwicklung, Sicherheit, Handel, Wirtschaft, Menschenrechte, Landwirtschaft, Forschung, Beschäftigung, Bildung, Migration sowie mit humanitärer Hilfe. Millionen von Menschen sind aufgrund von Armut, politischer und sozialer Diskriminierung, Krieg, unfairen Wirtschafts- und Handelsstrukturen und prekärer Staatlichkeit von jeglicher Gesundheitsversorgung ausgeschlossen.

Entscheidend ist, dass insbesondere Armut fatale Auswirkungen auf den Gesundheitsstatus hat und der schlechte Gesundheitszustand wiederum die Armut vergrößert, indem er Menschen arbeitsunfähig macht und sie davon abhält für eine Lebensgrundlage zu sorgen. Wie drastisch sich Armut auswirkt, zeigt ein Blick auf die durchschnittliche Lebenserwartung in armen und reichen Ländern: Sie kann sich bis zu 30 Jahre unterscheiden.

 Gesundheit ist ein Menschenrecht
Gesundheit ist jedoch ein Menschenrecht und ein öffentliches Gut, das kollektives Handeln erfordert. Doch obwohl das Menschenrecht auf Gesundheit ein Grundrecht ist, wie es auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte skizziert und später im Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte besiegelt wurde, haben Regierungen auf der ganzen Welt versäumt, nachhaltige und insbesondere menschenrechtsbasierte Strukturpolitiken nicht nur im Bereich Gesundheit zu etablieren.

Die bestehenden Global Governance-Strukturen (also Politiken jenseits des Nationalstaat, die auf der überstaatlichen Ebene im Rahmen von internationalen Organisationen wie die Weltbank koordiniert werden) waren in der Vergangenheit gerade nicht in der Lage, multiple Krisen (Gesundheits-, Ernährung,- Umweltkrisen) im globalen Maßstab zu verhindern.

Stattdessen haben sie im Globalen Süden – denkt man etwa an die auf Liberalisierung und Deregulierung ausgerichteten Strukturpolitiken des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO) – häufig zu ihnen beitragen.

Mehr noch: Es rächen sich nun die weltweiten neoliberalen Sparprogramme, durch die auch gut funktionierende Gesundheitssysteme in eine prekäre Lage gebracht wurden, so dass bei globalen Krisen nicht angemessen reagiert werden kann.

Dazu kommt, dass ein großer Teil der globalen Entwicklungs- und Gesundheitspolitik mittlerweile durch private Stiftungen und Initiativen in Form von philanthropischen Großprojekten und Private Public Partnerships abgewickelt wird. Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist nicht nur, dass internationale Organisationen wie die UN und ihre Sonderorganisationen im Zuge ausbleibender Erfolge z.B. im Bereich der Armutsbekämpfung in Misskredit geraten sind, sondern ebenso ein genereller Trend im Rahmen neoliberaler Regierungstechniken. Und dieser Trend ist, dass Politik jenseits des Staates und jenseits von internationalen Institutionen im Rahmen von globalen Partnerschaften mit der Privatwirtschaft organisiert wird.

 Bill Gates und die Krise der WHO
Auch die WHO ist chronisch unterfinanziert und so in Abhängigkeit von privaten GeldgeberInnen geraten.

Nur 20% des jährlichen Budgets stammen aus regulären Mitgliedsbeiträgen. 80% sind dagegen Zuschüsse und zweckgebundene Mittel, die einzelne Länder, große private Stiftungen, Unternehmen oder finanzstarke NGOs beisteuern und die nur für bestimmte Projekte zur Verfügung stehen. Die WHO kann somit über die Verwendung ihrer Mittel nur eingeschränkt entscheiden.

Das führt zum Kontrollverlust und einer problematischen Konkurrenz zwischen den verschiedenen Programmen der WHO um die Gunst der GeldgeberInnen zu Lasten von menschenrechtsbasierten und nachhaltigen Strukturpolitiken auch auf der nationalen Ebene.

Entscheidend ist, dass weniger Geld für langfristig angelegte Projekte wie etwa die Unterstützung von nationalen Gesundheitssystemen zur Verfügung steht, wohingegen jene Programme, die für die GeldgeberInnen gewinnversprechend erscheinen, zu meist gut finanziert sind.

Derzeit erleben wir, wie Bill Gates sich zum großen Fürsprecher globaler Gesundheitspolitik aufschwingt. Doch vor falschen Freunden sei gewarnt. Nicht nur die WHO ist heute mehr denn je auf private Geldgeber wie der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung angewiesen. Die Bill Gates Stiftung ist mittlerweile der größte private Financier der WHO und hat deshalb großen Einfluss auf die Gesundheitsprogramme der WHO, die sich wiederum auf die jeweiligen nationalen Gesundheitsagenden auswirken. Genau diese Entwicklung wird jedoch von zahlreichen kritischen GesundheitsexpertInnen in der Wissenschaft aber auch in der Zivilgesellschaft, wie dem People‘s Health Movement als wesentliche Ursache der strukturellen Schwäche der WHO benannt.

Private Stiftungen sind weder einer demokratischen Kontrolle unterworfen, noch sind sie öffentlich rechenschaftspflichtig. Zugleich dominieren sie den derzeitigen Gesundheitsdiskurs. Bedenklich an dieser Entwicklung ist, dass die Gesundheitsagenda so dem kritischen Diskurs entzogen wird und verfehlte Prioritätensetzungen nicht mehr in Frage gestellt werden.

Gerade das Beispiel Gates-Stiftung zeigt das sehr gut, diese inszeniert sich im Corona-Kontext jetzt als Weltretter zugunsten biomedizinischer und pharmazeutischer Lösungen und hat damit großen Einfluss auf die derzeitige WHO-Strategie. Damit geraten jedoch die sozialen Determinanten für Gesundheit aus dem Blickfeld, welches einer nachhaltigen globalen Strukturpolitik, die auf der Stärkung nationaler Gesundheitssysteme beruht, entgegensteht.

Auswege aus der Krise
In jeder Krise liegt auch eine Chance zur Reflexion. Aus der Corona-Krise zu lernen, hieße einen emanzipatorischen und demokratischen, anstatt neoliberalen Global Governance-Ansatzes zu stärken, der auf einer Idee des globalen solidarischen Handelns, der Menschenrechte und funktionsfähigen globalen Institutionen beruht.

Angesprochen ist ein Ansatz, der zivilgesellschaftliche Kräfte mit Gemeinwohlorientierung auf der lokalen, nationalen und globalen Ebene einbindet und der Logik eines demokratischen Bottom-Ups entspricht.

In einem aktuellen Unterstützungsaufruf für die WHO, den 23 Staaten im Anschluss an eine Videokonferenz der EU-AußenministerInnen veröffentlichten, wird die Bedeutung von internationalen Organisationen im Kampf gegen die Pandemie hervorgehoben. Österreich beteiligte sich leider nicht an diesem Aufruf. Die Aufgabe kritischer Wissenschaften, aber auch der Zivilgesellschaft und progressiver Parteipolitiken wäre nun, sich zu Menschenrechtspolitiken und handlungsfähigen internationalen Organisationen zu bekennen und diese als wesentlicher Teil demokratischer Krisenlösung einzufordern.

 Zum Weiterlesen
• Beigbeder, Yves (2012): Die Weltgesundheitsorganisation im Wandel. Gesundheit für alle bleibt oberstes Zie. In: VEREINTE NATIONEN Heft 5/2012, S. 195-201

  • Global Health Watch (2014). An Alternative World Health Report, People‘s Health Movement, in: Medact, Third World Network, Health Poverty Action, Medico International, and ALAMES (Hrsg.), Zen Books
  • Global Health Watch (2017).  An Alternative World Health Report, People‘s Health Movement, Medact, Third World Network, Health Poverty Action, Medico International, and ALAMES (Hrsg.), Zen Books
    • Kaiser, Jürgen (2018): Warum der Internationale Währungsfonds seine Politik stärker auf die Bekämpfung von Armut und die Reduzierung sozialer Ungleichheit ausrichten muss. In: In: E+Z. Entwicklung und Zusammenarbeit, S. 32-35
    • Hamm, Brigitte (2008): Menschenrechte und Privatwirtschaft in der UN. Ein verbindliches Regelwerk ist nicht auf der Agenda, in: Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, Heft 5, 2008, S. 219-224
    • McCoy, D., Kembhavi, G., Patel, J., and Luintel, A., 2009: The Bill & Melinda Gates Foundation‘s grant-making programme for global health. In: Lancet Vol. 373.
    • Meisterhans, Nadja 2016: WHO in Crisis. Lessons learned from the Ebola outbreak and beyond, in: The Chinese Journal of Global Governance, Nr. 2, S.1-29
    • IBON International (2014): A Renewed Global Partnership for Sustainable Development, IBON Policy Brief
    • Plattform für Globale Gesundheit (PGG), (2014):Globale Gesundheitspolitik – für alle Menschen an jedem Ort. Grundlagen für eine künftige ressortübergreifende Strategie für globale Gesundheit
    • Sylla Samba, Ndongo (2018): Misslungene Strategie in Afrika: Strukturanpassung hat Wachstum nicht gefördert, sondern gebremst. In: E+Z. Entwicklung und Zusammenarbeit, S. 29-31