Netzwerk für Demokratie und Courage

Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC)

Das Netzwerk für Demokratie und Courage entstand 1999 in Sachsen mit dem Ziel, neonazistischen und menschenverachtenden Einstellungen durch antirassistische Bildungsarbeit in Schulen entgegenzuwirken.

Seit 2002 gibt es das NDC auch in Baden-Württemberg und es ist heute in zwölf Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg) sowie in Belgien, Frankreich und Österreich (im Aufbau) aktiv.

Durch enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Landesnetzstellen, gemeinsamen Qualitätsvereinbarungen und bundeseinheitlichen Konzepten schafft es das NDC seit Jahren wertvolle Präventionsarbeit an Schulen und in Jugendgruppen im außerschulischen Bereich zu leisten. Bei allen angebotenen Projekttagen verfolgt das NDC die fünf grundlegenden Ziele

  • Informationen zu vermitteln und zum Nachdenken anzuregen,
  • Menschen Mut zu machen sich zu äußern,
  • klar gegen rechte und menschenverachtenden Meinungen aufzutreten,
  • Solidarität mit Betroffenen von menschenverachtenden Einstellungen zu zeigen
  • und zum couragierten Handeln im Alltag zu motivieren.

Das NDC ist der älteste zivilgesellschaftliche Akteur in Baden-Württemberg, der für Jugendliche kostenlose Projekttage in Schulen und Jugendeinrichtungen durchführt. 

 Aus dem bundesweiten Programm bietet das NDC in Baden-Württemberg zur Zeit drei Projekttage an:

den Projekttag A „Alles nur Bilder im Kopf?!“ mit den Schwerpunkten Diskriminierung, von Rassismus betroffenen Menschen und couragiertes Handeln,

den Projekttag B „Das WIR macht den Unterschied!“ zu den Themen Diskriminierung, Gerechtigkeit, Klassismus, solidarischem Miteinander und couragiertes Handeln, und

den Projekttag C „Das wird man wohl noch sagen dürfen!“ zu den Themen Neonazismus, menschenverachtende Einstellungen und couragiertes Handeln.

Diese Projekttage können von Schulen und anderen Jugendeinrichtungen kostenlos gebucht werden und werden für Jugendliche ab 14 Jahren angeboten.

Des Weiteren gibt es in Baden-Württemberg zwei regionalspezifische Angebote. So wird in der KZ-Gedenkstätte Mannheim-Sandhofen in Kooperation mit dem Stadtjugendring Mannheim und dem Verein KZ-Gedenkstätte Mannheim-Sandhofen e.V. ein Projekttag zur Geschichte des KZ Mannheim-Sandhofen und der Bedeutung von Gedenkstätten durchgeführt (Projekttag G „Eine Schule als KZ“). In Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung hat das NDC im Jahr 2017 ein Modellprojekt für die offene Jugendarbeit konzipiert und seitdem sowohl offene Module für Jugendliche, als auch einen Workshop für Fachkräfte der offenen Jugendarbeit im Angebot.

Die Projekttage können über die Homepage des Netzwerks für Demokratie und Courage direkt gebucht werden:

Anfrage zur Durchführung eines Projekttages hier

Neben der LAGO als Trägerin des Projektes arbeitet das NDC in Baden-Württemberg noch mit einer Reihe weiterer Kooperationspartner*innen zusammen: der DGB-Jugend Baden-Württemberg, der GEW Baden-Württemberg, der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, der Karl-Kloß-Jugendbildungsstätte in Stuttgart und dem Jugendzentrum in Selbstverwaltung „Friedrich Dürr“ in Mannheim.

Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage

Quelle: Schule ohne Rassismus

„10 Fragen – 10 Antworten

Was bedeutet der Titel Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage genau? Geht es dabei nur um Rassismus? Und ist das Projekt eher etwas für Gymnasien? Antworten auf alle wichtigen Fragen findet ihr hier.

  1. Was ist Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage?

Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage ist ein Projekt für alle Schulmitglieder. Es bietet Kindern, Jugendlichen und Pädagog*innen die Möglichkeit, das Klima an ihrer Schule aktiv mitzugestalten, indem sie sich bewusst gegen jede Form von Diskriminierung, Mobbing und Gewalt wenden.

Wir sind das größte Schulnetzwerk in Deutschland. Ihm gehören über 3.300 Schulen an, die von mehr als zwei Millionen Schüler*innen besucht werden (Stand: März 2020). Unterstützt werden die Schüler*innen und Pädagog*innen dabei von mehr als 100 Koordinierungsstellen und 350 außerschulischen Kooperationspartnern.

  1. Wie wird man eine Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage?

Jede Schule kann den Titel erwerben, wenn sie folgende Voraussetzungen erfüllt: Mindestens 70 Prozent aller Menschen, die in einer Schule lernen und arbeiten (Schüler*innen, Pädagog*innen und technisches Personal) verpflichten sich mit ihrer Unterschrift, sich künftig gegen jede Form von Diskriminierung an ihrer Schule aktiv einzusetzen, bei Konflikten einzugreifen und regelmäßig Projekttage zum Thema durchzuführen.

  1. Zu was verpflichtet sich eine Courage-Schule?

Wer sich zu den Zielen einer Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage bekennt, unterschreibt folgende Selbstverpflichtung:

  1. Ich werde mich dafür einsetzen, dass es zu einer zentralen Aufgabe meiner Schule wird, nachhaltige und langfristige Projekte, Aktivitäten und Initiativen zu entwickeln, um Diskriminierungen, insbesondere Rassismus, zu überwinden.
  2. Wenn an meiner Schule Gewalt geschieht, diskriminierende Äußerungen fallen oder diskriminierende Handlungen ausgeübt werden, wende ich mich dagegen und setze mich dafür ein, dass wir in einer offenen Auseinandersetzung mit diesem Problem gemeinsam Wege finden, zukünftig einander zu achten.
  3. Ich setze mich dafür ein, dass an meiner Schule ein Mal pro Jahr ein Projekt zum Thema Diskriminierungen durchgeführt wird, um langfristig gegen jegliche Form von Diskriminierung, insbesondere Rassismus, vorzugehen.
  4. Was bedeutet der Titel genau?

Der Titel ist kein Preis und keine Auszeichnung für bereits geleistete Arbeit, sondern eine Selbstverpflichtung für die Gegenwart und die Zukunft.

Eine Schule, die den Titel trägt, ist Teil eines Netzwerkes, das sagt: Wir übernehmen Verantwortung für das Klima an unserer Schule und für unser Umfeld.

  1. Kümmert ihr euch ausschließlich um Rassismus?

Nein. Wir beschäftigen uns gleichermaßen mit Diskriminierung aufgrund der Religion, der sozialen Herkunft, des Geschlechts, körperlicher Merkmale, der politischen Weltanschauung und der sexuellen Orientierung. Darüber hinaus wenden wir uns gegen alle totalitären und demokratiegefährdenden Ideologien.

  1. Beschäftigt ihr euch nur mit den bösen Deutschen?

Nein. Wir sind davon überzeugt, dass alle Menschen, egal woher sie kommen und wie sie aussehen, in der Lage sind zu diskriminieren. Deshalb nehmen wir zum Beispiel den Antisemitismus oder die Homophobie eines Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft genauso ernst wie den eines Jugendlichen mit türkischen oder arabischen Wurzeln.

  1. Wo steht ihr politisch?

Wir stehen weder rechts oder links noch in der Mitte. Das Anliegen von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage sollte Aufgabe aller Demokrat*innen sein. Vertreter*innen aller im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien unterstützen unser Anliegen, ebenso Vertreter*innen von Gewerkschaften und Glaubensgemeinschaften.

  1. Ist das Projekt eher etwas für Gymnasien?

Keineswegs. An unserem Netzwerk nehmen alle Schulen teil. Auf der Seite Courage-Schulen seht ihr, dass alle Schularten bei uns vertreten sind.

  1. Wo seid ihr am stärksten vertreten? Im Osten oder im Westen?

25 Jahre nach der deutschen Einheit gibt es da keinen Unterschied mehr. Wir sind ein gesamtdeutsches Projekt und uns gibt es in allen Bundesländern. Auf der Seite Courage-Schulen erfahrt ihr, welche Courage-Schulen es in Eurem Bundesland gibt.

  1. Wo bekomme ich mehr Informationen über das Projekt?

Auf dieser Homepage findet ihr eine Fülle von Informationen zu unserer Arbeit und den Aktivitäten der Courage-Schulen. Für eure Fragen stehen euch die Mitarbeiter*innen der Bundeskoordination zur Verfügung ebenso wie die der Landes- und Regionalkoordinationen in eurer Nähe.“

TTIP 2.0 – Risky business in TTIP 2.0

  1. Juni 2020 –  Laura Große

Quelle: NGO lobbycontrol

Neue Studie: „Risky Business in TTIP 2.0“

Handel: CETA, TTIP, TiSA, JEFTA

Vor fast genau einem Jahr, im Juli 2019, reisten wir zum zivilgesellschaftlichen Dialog der EU-Kommission nach Brüssel. Der Anlass: Wenige Monate zuvor hatten die EU mit den USA neue Verhandlungen aufgenommen. Nun wollte die verantwortliche Generaldirektion Handel (DG Trade) die Zivilgesellschaft über den Stand der Gespräche informieren. Offiziell waren die Ambitionen viel bescheidener als noch bei TTIP, das an heftigen zivilgesellschaftlichen Protesten schließlich gescheitert war. Doch spätestens auf der Veranstaltung der DG Trade bestätigte sich, was wir zuvor befürchtet hatten: Regulatorische Kooperation ist ein zentrales Element des geplanten Abkommens mit den USA – und die Pläne gehen weit über das hinaus, was die Verhandlungsmandate eigentlich erlauben.

Details gibt es nur wenige, die Kommission schweigt sich aus und hält die Inhalte der Gespräche weitgehennd unter Verschluss. Ein Rückschritt, denn im Zuge der Proteste gegen TTIP, CETA und andere Abkommen hatte sie eigentlich Verbesserungen versprochen: In Zukunft werde es in der Handelspolitik transparenter und demokratischer zugehen, man wolle die Zivilgesellschaft besser informieren und den ausgeglichenen Austausch mit allen betroffenen Interessen suchen. Für einige Jahre hielt sich die Kommission auch an ihre selbstgesteckten Vorgaben.

Doch bei den neuen Verhandlungen mit den USA bricht die Kommission mit ihrer Transparenzpolice. Auch deshalb halten uns die Gespräche seither ganz schön auf Trab. Wir recherchierten Hintergründe, informierten unsere Kooperationspartner und Unterstützer:innen und trieben die Vernetzung auf europäischer Ebene vorangetrieben. In unserer neuen Veröffentlichung erklären wir jetzt die Hintergründe der Verhandlungen und zeigen die Beweggründe und Akteure hinter regulatorischer Kooperation. Tatsächlich machen vor allem die Lobbys exportstarker Konzerne und Industrien dafür Druck: Denn unterschiedliche technische Vorgaben und hohe Schutzstandards sind für sie bloß ein Hindernis auf dem Weg zur Profitmaximierung.

Briefing_TTIP-2.0 März2020

Mit seiner aggressiven Außenpolitik nach Corona schadet China am meisten sich selber

Neue Züricher Zeitung, 1.6.2020

Brahma Chellaney

Wegen des Versuchs, die Entstehung und Verbreitung von Covid-19 möglichst lange zu vertuschen und in der Folge aus der Pandemie möglichst viel Kapital zu schlagen, steht China weltweit in der Kritik. Dass es sich als Reaktion darauf für einen Kurs der Einschüchterung entschieden hat, zeugt von Kurzsichtigkeit.

Die global virulent werdende Gegenreaktion auf China wegen seiner Verantwortung für die von Wuhan ausgehende Corona-Pandemie hat in den vergangenen Wochen an Intensität gewonnen. Und China selber hat Öl ins Feuer gegossen, wie seine jüngsten Pläne für ein neues Sicherheitsgesetz für Hongkong zeigen. Angefangen bei der impliziten Erwartung politischer Gegenleistung für die Versorgung notleidender Länder mit medizinischer Schutzausrüstung bis hin zur Zurückweisung von dringlicher werdenden Forderungen nach einer unabhängigen internationalen Untersuchung der Herkunft des Virus: Die Einschüchterungstaktik der Regierung von Präsident Xi Jinping hat das kommunistische Regime Chinas beschädigt und isoliert.

Die Gegenreaktion könnte vonseiten des Westens in Form von Sanktionen erfolgen, da Xis Regime versucht, Hongkongs Prinzip von «ein Land, zwei Systeme» mit seinem Entwurf neuer nationaler Sicherheitsgesetze für das Territorium des Stadtstaates auszuhebeln, wo es seit über einem Jahr immer wieder zu grossen prodemokratischen Protesten kommt. Allgemein betrachtet, führt Xis überzogenes aussenpolitisches Vorgehen zu wachsender Feindseligkeit nicht nur in der Nachbarschaft, sondern in aller Welt.

Neoimperialistische Agenda

Wäre Xi klug gewesen, hätte China versucht, den durch die Pandemie verursachten Imageschaden mit Einfühlungsvermögen und Mitgefühl zu beheben, indem es beispielsweise fast bankrotten Partnerländern der Belt-and-Road-Initiative einen Schuldenerlass und ärmeren Ländern medizinische Hilfe gewährt hätte, ohne deren Rückendeckung für seinen Umgang mit dem Corona-Ausbruch zu erwarten. Stattdessen hat China auf eine Weise gehandelt, die seine eigenen langfristigen Interessen untergräbt.

Ob durch seine aggressive «Wolf Warrior»-Diplomatie – benannt nach zwei chinesischen Filmen, in denen chinesische Spezialeinheiten US-Söldner in die Flucht schlagen – oder durch militärisch unterstützte expansionistische Vorhaben in Chinas Nachbarschaft: Xis Regime hat international Besorgnis ausgelöst. Tatsächlich betrachtet Xi, der selbsternannte unentbehrliche Führer des Riesenreiches, die gegenwärtige globale Krise als Gelegenheit, seinen Griff nach der Macht zu verstärken und seine neoimperialistische Agenda voranzutreiben. So sagte er kürzlich vor einem Universitätspublikum: «Die grossen Schritte in der Geschichte wurden alle nach grossen Katastrophen gemacht.»

China hat definitiv versucht, möglichst viel aus der Pandemie herauszuschlagen. Nachdem es im Januar einen Großteil des weltweit verfügbaren Angebots an medizinischer Schutzausrüstung aufgekauft hatte, betrieb es Preistreiberei und offenkundig Profitmacherei. Chinesische Exporte von minderwertiger oder defekter medizinischer Ausrüstung haben den internationalen Ärger zudem noch verstärkt.

Während die ganze Welt mit Covid-19 kämpft, hat das chinesische Militär erneut Grenzstreitigkeiten mit Indien provoziert und versucht, die Gewässer vor den von Japan kontrollierten Senkaku-Inseln zu kontrollieren. China hat zudem kürzlich zwei neue Verwaltungsbezirke im Südchinesischen Meer eingerichtet und sein Eindringen und andere Aktivitäten in diesem Gebiet verstärkt. Anfang April rammte und versenkte ein Schiff der chinesischen Küstenwache ein vietnamesisches Fischerboot, was die Vereinigten Staaten veranlasste, China darauf hinzuweisen, «die [pandemiebedingte] Ablenkung oder Verwundbarkeit anderer Staaten nicht länger auszunutzen, um seine unrechtmässigen Ansprüche im Südchinesischen Meer auszuweiten».

Den Rest des Artikel hier lesen!

Brahma Chellaney ist Professor für strategische Studien am Zentrum für Politikforschung in Delhi und Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin. Er hat neun Bücher verfasst, darunter «Asian Juggernaut», «Water: Asia’s New Battleground» und «Water, Peace, and War: Confronting the Global Water Crisis». – Aus dem Englischen von Sandra Pontow.


Neue Weltordnung mit Indien-Experte Brahma Chellaney

1.182 Aufrufe  – 6.11.2018

Indien ist mit einer Bevölkerung von 1,3 Milliarden längst ein politisches wie wirtschaftliches Schwergewicht. Doch wie sieht Neu-Delhi seine Position in einer von geopolitischen Umwälzungen geprägten Welt? Wird Indien, zu Zeiten des Kalten Krieges noch führendes Mitglied der Bewegung der Blockfreien Staaten, seine außenpolitische Neutralität bewahren können, oder erfordern die aktuellen Herausforderungen – politische Instabilität und Extremismus in der Region, die Nachbarschaft zu Pakistan und China, maritime Sicherheit, Klimawandel – einen strategischen Kurswechsel? Brahma Chellaney, Experte für indische Außenpolitik, spricht mit Britta Sandberg, Der Spiegel, und Nora Müller, Körber-Stiftung, über aktuelle Trends und Entwicklungen. In Kooperation mit Der Spiegel. Moderation: Britta Sandberg, Der Spiegel & Nora Müller, Körber-Stiftung Aufzeichnung vom 9. Januar 2018 im KörberForum

Gegen den Green Deal: Corona und die Lobby-Orgien

Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 6/2020

Zusammenfassung eines Textes von Sven Giegold

Gegen den Green Deal: Corona und die Lobby-Orgien

von Sven Giegold

Während in ganz Europa nach Lösungen zur Bekämpfung der Coronakrise gesucht wird, versuchen Lobbyisten die Krise für laschere Regulierungen auszunutzen.

Dabei lassen sich die Lobbyorgien der Verbände auf nationaler wie EU-Ebene grob in zwei Strategien aufteilen.

Strategie 1: Die ganz dreisten Lobbyisten fordern, lange Beschlossenes zurückzudrehen. Dazu gehören CO2-Grenzwerte für Autos, Verbote von Einwegplastik, Ökodesignregeln für Elektroprodukte oder Verbote giftiger Chemikalien.

  • In diesem Sinne wandten sich die vier europäischen Dachverbände der Automobilindustrie an Ursula von der Leyen. In dem gleichen Brief, in dem sie die bisherigen finanziellen Staatshilfen für die Autoindustrie loben, verlangen sie, dass „Anpassungen am Zeitplan einiger Gesetze vorgenommen werden müssen“. Damit meinen sie beispielsweise die bereits vor Jahren beschlossenen Ziele zur CO2-Reduzierung.
  • Ein besonders unverschämtes Beispiel ist die Der Dachverband europäischer Kunststoffverarbeiter (EuPC) fordert die EU-Kommission auf, die Fristen der EU-Einwegplastik-Richtlinie auf nationaler Ebene um mindestens ein weiteres Jahr zu verschieben. Des Weiteren sollen alle bereits 2019 beschlossenen Verbote für Einwegplastikprodukte aufgehoben werden.
  • Nicht weniger schamlos gehen zwei Branchenverbände für Verbrauchertechnologie vor. Sie fordern die Kommission auf, neue Ökodesign-Regeln für externe Netzteile auszusetzen. Diese technischen Details zur Effizienz der Geräte wurden über Jahre in engem Kontakt mit der Industrie verhandelt. 2019 offiziell beschlossen, traten sie am 1. April 2020 in Kraft.
  • Der mächtige Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) erhofft sich, dass das Verbot von Perfluoroctansäure (PFOA), einer potentiell krebserregenden und äußerst langlebigen Chemikalie, verschoben wird. Bereits im Mai letzten Jahres hatten mehr als 180 Länder auf UN-Ebene vereinbart, die Produktion und Verwendung von PFOA zu untersagen. Nun kommt die Coronakrise wie gerufen, um sich dieser lästigen Regulierung so lange wie möglich zu entledigen.

Strategie 2: Die zweite Gruppe der Lobbyoffensiven beschränkt sich auf die Forderung, keine zusätzlichen Regeln einzuführen. Während Klimawandel und Artensterben unaufhörlich voranschreiten, sollen die Regierungen Europas uns doch bitte nicht weiter mit Umweltschutz belästigen.

  • Die Protestorganisation konventioneller Bauern „Land schafft Verbindung droht ganz offen, dass die deutschen Bauern „nicht mehr in der Lage sein werden, die Grundversorgung sicherzustellen“, wenn während der Coronakrise EU-Recht umgesetzt wird, um die massive Belastung mit Stickstoff der deutschen Gewässer zu verringern. Die neue deutsche Düngeverordnung wurde am Ende gegen den großen Widerstand der Bauern angenommen und mit einem knappen Ergebnis im Bundesrat verabschiedet.
  • Auch in Deutschland setzen sich vor allem die Autolobbyisten dafür ein, dass eines der Kernversprechen des Green Deals nicht umgesetzt wird. Sie wollen die angekündigte Überprüfung und Verschärfung der CO2-Grenzwerte verhindern. Dazu intervenierten die deutschen Hersteller wiederholt bei der Bundesregierung, obwohl diese sich schon im Januar auf die Seite der Automobilindustrie geschlagen und gegen den Green Deal gestellt hatte.
  • Fluggesellschaften, die in ganz Europa bald mit Steuergeld gerettet werden müssen, positionieren sich schon jetzt scharf gegen jegliche Steuern auf Kerosin. Damit auch in Zukunft, wenn wieder reichlich Gewinne erflogen werden, möglichst niemand über eine angemessene Abgabe auf den fossilen Brennstoff nachdenkt.
  • Business Europe, einer der mächtigsten Lobbyverbände in Brüssel, zu dessen Mitgliedern neben dem Bundesverband der Deutschen Industrie zahlreiche namhafte deutsche Unternehmen – von Bayer und Bosch über Henkel und Siemens bis zu Volkswagen – zählen, verkündet derweil, es sei unausweichlich, dass der Zeitplan und der Umfang neuer, großer europäischer Initiativen geändert werden müsse. Nicht genannt, aber impliziert: der geplante Green Deal der EU.

Sie alle scheinen nicht verstanden zu haben, dass gerade in Zeiten der Krise in die Zukunft investiert werden muss. Um die Wettbewerbsfähigkeit dieser Industriezweige zu gewährleisten, müssen heute die Weichen auf Nachhaltigkeit gestellt werden. Ansonsten wirtschaften wir uns von einer Krise ohne Umweg in die nächste.

Wie begründen die Lobbyisten ihre Wünsche?

  • Die Plastikindustrie argumentiert, Einwegprodukte aus Plastik seien während der Coronakrise gerade in Krankenhäusern unersetzlich. Die EU-Verbote schließen allerdings Produkte, die für medizinische Zwecke genutzt werden, ohnehin ausdrücklich von den Regeln aus. Dagegen ist es schwer zu begreifen, warum eine Aufhebung des Verbots von Luftballonstäben, Trinkhalmen oder Wattestäbchen in der Coronakrise helfen könnte.
  • Andere behaupten, die Coronakrise hätte ihre Probleme gleich komplett gelöst. Der Branchenverband der fleischverarbeitenden Industrie führt an, dass die Luftverschmutzung global gesunken sei. Die EU-Kommission möge daher doch bitte überdenken, die Emissionen aus der intensiven Nutztierhaltung schärfer zu regulieren – obwohl die sogenannten Nutztiere weiterhin unter genau denselben Bedingungen gehalten werden wie vor der Krise.
  • In die gleiche Kategorie fallen Städte, die Fahrverbote für Dieselfahrzeuge aussetzen wollen, weil sich durch die Ausgangsbeschränkungen die Luftqualität verbessert habe.
  • Eine beliebte Rechtfertigung ist auch, dass zur Wiederbelebung der Wirtschaft nach der Coronakrise die Umweltgesetze zurückgefahren werden müssen. So fordert der Bundesverband des Deutschen Textileinzelhandels bereits, nach der Coronakrise die Zugangsbeschränkungen für Autos in Innenstädten in Deutschland aufzuheben.
  • Die häufigste Begründung ist natürlich, dass Klima- und Umweltschutz während der Wirtschaftskrise einfach zu teuer ist. Pünktlich zum Petersberger Klimadialog im April verkündete der BDI, die EU-Klimaziele für 2030 müssten auf den „Prüfstand“. Denn die Coronakrise ließe „reduzierten Spielraum für Investitionen jeder Art“. Und die Schifffahrtsindustrie droht in Brüssel, dass „Tausende von Unternehmen und Arbeitnehmern zurückbleiben“ werden, „wenn die Fristen [des Green Deal] um jeden Preis eingehalten werden“.

Strategien der Lobbyisten scheinen zumindest teilweise aufzugehen

Was bei diesen Warnungen jedoch immer verschwiegen wird: Investitionen in klimaneutrale Technologien sind die effektivste Art und Weise, Arbeitsplätze zu retten und neue zu schaffen. Langfristig können Jobs und Wettbewerbsfähigkeit nur erhalten werden, wenn der wirtschaftliche Aufschwung sozial und ökologisch nachhaltig ist. Deshalb muss er auf dem ambitionierten Europäischen Green Deal und dem Pariser Klimaabkommen fußen.

Dass die Strategie der Industrielobbyisten zumindest teilweise aufzugehen scheint, zeigt sich schon an den vielen Stimmen aus der Politik, die ganz ähnlich argumentieren.

  • Der liberale tschechische Premierminister Andrej Babiš will den Green Deal gleich ganz „vergessen“.
  • Und CDU-Politiker verkünden wahlweise, Deutschland solle sich „für eine zeitliche Streckung der klimapolitischen Zielvorgaben einsetzen“, der Green Deal sei „schlicht nicht mehr finanzierbar“ oder es wäre an der Zeit, einen „Kassensturz zu machen und zu überlegen, welche Belastungen zumutbar sind“.
  • Die CDU-Bundestagsfraktion hat nun beschlossen, dass weitere Emissionsminderungen besser im Ausland geleistet werden sollen, gegen deutsche Kompensationszahlungen.
  • Und im Kanzleramt verhandelt eben jener Wirtschaftsminister, der die EU-Kommission bat, keine neuen CO2-Grenzwerte für Autos einzuführen, mit den Automobilbossen unter Ausschluss der Umweltorganisationen über die Details milliardenschwerer Rettungsprogramme.
  • Und während die Kanzlerin von gesteigerten Klimaambitionen spricht, wird die deutsche Lufthansa ohne jegliche Klimaauflagen gerettet.

Es gibt auch andere Stimmen

Von der notwendigen Transformation unserer Wirtschaft und unseres Lebensstils können wir uns nicht freikaufen. Dass es auch anders geht, zeigen unsere französischen Nachbarn.

  • Dort wird Air France nur unter scharfen Umweltauflagen mit Steuerzahlergeld gerettet.
  • Auch anderswo regt sich Widerstand gegen die Lobbyorgien. Der Vizepräsident der EU-Kommission und Green Deal-Chef Frans Timmermans kritisierte scharf, dass „einige versuchen, notwendige Regeln zurückzudrehen“.
  • Auch in der Industrie gibt es durchaus andere, ökologisch ambitionierte Stimmen. Fast 70 deutsche Unternehmen fordern „die konsequente Ausgestaltung eines ambitionierten und konstruktiven Green Deals“. Konjunktur- und Investitionsprogramme sollten „systematisch klimafreundlich“ sein.
  • In einer ähnlichen, französischen Initiative fordern 90 Unternehmen, „einen großen Teil der für die wirtschaftliche Erholung vorgesehenen Finanzmittel“ in die „ökologische Transformation“ zu investieren.
  • Einen Aufruf für eine „Green Recovery“ aus dem Europäischen Parlament unterschrieben neben europäischen Politiker*innen und Umweltorganisationen auch viele CEOs namhafter Unternehmen.

Hier zeigt sich, dass beim Klimaschutz die Spaltung nicht einfach zwischen Arbeit und Kapital verläuft. Vielmehr sind die Unternehmenslobbys selbst gespalten. Viele Unternehmen haben die Zeichen der Zeit tatsächlich verstanden und wollen in eine lebenswerte Zukunft investieren.

Doch es gibt eben auch jene, die öffentlich ihren Namen durch wohlklingende Klimaschutz-Aufrufe aufpolieren, während ihre relativ anonymen Lobbyverbände in Brüssel und Berlin die schmutzige Arbeit für sie machen.Auf dieses Spiel dürfen sich die EU-Kommission und das Europaparlament auf keinen Fall einlassen.

Wer in Berlin und Brüssel die Coronakrise für laschere Regulierungen ausnutzen will, setzt die Zukunft ganzer Branchen aufs Spiel. Längst beschlossene Ziele und Regeln zu umgehen, wird uns nicht aus der Wirtschaftskrise in Folge von Corona führen. Um gestärkt aus dieser Krise zu kommen, benötigen wir Investitionen in zukunftsfähige Technologien. Alles andere ist kurzsichtig und verantwortungslos.

Wir sollten die Coronakrise nicht ungenutzt verstreichen lassen. Doch anders als Teile der Industrie suggerieren, müssen wir die Krise nutzen, um uns wetterfest zu machen. Denn Klimawandel und Artensterben gehen unentwegt weiter. Nur eine ganzheitlich transformierte Gesellschaft, die nachhaltig wirtschaftet und soziale Ungleichheit begrenzt, wird daher in Zukunft bestehen können. Der Green Deal der EU ist das Fundament für diesen nachhaltigen Aufschwung und unser europäischer Beitrag zum globalen Umwelt- und Klimaschutz. Ihn zu verschleppen, würde bedeuten, die Zukunft Europas aufs Spiel zu setzen. Nutzen wir die Krise also, um den Europäischen Green Deal konsequent und schnellstmöglich umzusetzen.

Eine noch längere Liste von Beispielen für die Lobbyorgie gegen den Green Deal finden Sie hier: www.sven-giegold.de/lobbyisten-verwaessern-green-deal/

Siehe dazu auch: Sven Giegold: European Green Deal: Brüssel lenkt, Berlin bremst. In: Blätter: April 2020