Campact-Appell: keine Kaufprämie für Spritschlucker! Greenpeace: Hilfen müssen Mobilitätswende voranbringen

Campact-Aufforderung:Die Regierung pumpt in der Corona-Krise Rettungsgelder in Milliardenhöhe in die deutsche Wirtschaft – doch das reicht der Autoindustrie nicht. Sie will die unsinnige Abwrackprämie neu auflegen: Der Staat soll Autokäufe mit mehreren Tausend Euro bezuschussen. Schon am Dienstag, 5. Mai 2020 entscheidet sich beim Autogipfel im Kanzleramt, ob die Autolobby mit ihrer Forderung durchkommt – und damit noch mehr Klimakiller auf Deutschlands Straßen landen. Wenn wir jetzt schnell sind, können wir die GroKo von Extra-Geschenken für die Autoindustrie abbringen.“

Campact-Appell:

An Bundeskanzlerin Angela Merkel,
Wirtschaftsminister Peter Altmaier und
Finanzminister Olaf Scholz

Die Vorstände der Autoindustrie fordern eine Neuwagenprämie von mehreren Tausend Euro – finanziert aus Steuergeldern. Eine Neuauflage der Abwrackprämie wäre ein Desaster für die Umwelt. Die Corona-Krise darf keine Ausrede für weniger Klimaschutz sein. Verhindern Sie Kaufprämien für Autos, die ganz oder teilweise mit Verbrennungsmotoren fahren! Stattdessen braucht es eine Mobilitätsprämie, die etwa das Fahrradfahren und den öffentlichen Nahverkehr fördert.

Hintergrundinfo

SPIEGEL online 29.04.2020, 10.55 Uhr

Autoindustrie will in Corona-Krise Kaufpreisprämie vom Staat – und Dividenden ausschütten

Vor Coronakonferenz der Autoländer Autoindustrie will staatliche Kaufpreisprämie – und trotzdem Dividenden ausschütten.

In der Automobilbranche werden die Rufe nach Kaufprämien lauter, die Bundesländer mit entsprechender Industrie beraten darüber. Auf Dividendenzahlungen an Aktionäre will die Branche aber nicht verzichten.

Die Autobranche erneuert vor den Beratungen der Ministerpräsidenten der Autoländer Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg ihre Forderungen nach möglichen Auto-Kaufprämien in der Coronakrise. Man werde sich dafür starkmachen, „dass die Politik Geld für diesen Impulsstoß bereitstellt“, schrieb VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh in einem Brief an die Mitarbeiter. Daimler-Chef Ola Källenius sprach von einer möglichst einfachen, schnellen und breiten Förderung, um die Wirtschaft nach der Krise wieder in Gang zu bringen. Ähnlich hatte sich bereits BMW geäußert.

Während Deutschlands größte Autokonzerne nach Staatsgeld rufen, will die Branche aber nicht auf die Ausschüttung von Dividenden an Aktionäre verzichten. Dies wäre „sicher nicht der richtige Schritt“, sagte die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, im Deutschlandfunk. Für die Firmen sei wichtig, die Aktionäre an Bord zu halten, etwa um sich vor Übernahmen aus dem Ausland zu schützen.

Pkw-Kaufprämien müsse es trotzdem geben, damit verunsicherte Verbraucher zu Anschaffungen motiviert werden.Die Idee der Einführung einer Kaufpreisprämie ähnelt der Abwrackprämie. Sie rettete nach der Finanzkrise 2009 die deutsche Autoindustrie. Neben ökologischen Bedenken gegen einen erneuten staatlichen Kaufbonus könnte es vielen auch schwer zu vermitteln sein, warum die Autokonzerne über solch eine Kaufprämie subventioniert werden, wenn sie zeitgleich Geld an ihre Anleger ausschütten.

Grüne warnt vor breiter Autoprämie

Der SPD-Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans jedenfalls forderte bereits, Boni- und Dividendenzahlungen auszusetzen, wenn Unternehmen in der Coronakrise selbst Staatshilfen beantragen. Man könne Steuerzahlern, die zur Rettung der Unternehmen beitragen sollen, nicht erklären, dass „sich Manager für die Leistungen des Vorjahres jetzt mit großen Boni bedienen“, sagte er im ARD-„Morgenmagazin“. Er verlangte den Verzicht auf Dividenden auch dann, wenn Firmen Kurzarbeitergeld für ihre Mitarbeiter beantragen, denn die Unternehmen müssten in dem Fall keine

Zwar habe die Allgemeinheit ein Interesse daran, dass ein Unternehmen wie die Lufthansa „nicht in die Knie geht“. Aber die Steuerzahler gingen mit den teuren Rettungen auch ein Risiko ein. „Man muss gucken, inwieweit sich das Unternehmen aus sich selbst heraus retten kann und erst dann ist die Allgemeinheit gefragt.“

Die Ministerpräsidenten der drei Autoländer – Stephan Weil (SPD), Markus Söder (CSU) und Winfried Kretschmann (Grüne) – wollen sich am Nachmittag zusammenschalten. Nach Ansicht des VW-Betriebsrats sollte ein Fördermodell unter anderem eine „Impuls-Prämie“ für Neuwagenkäufe inklusive Leasing umfassen, die auch für moderne Verbrenner gilt und über „einen klar begrenzten Zeitraum“ läuft – und sich auch auf neuere Gebrauchtwagen bis zum Alter von einem Jahr erstrecken.

Ökonom Felbermayr: „Ordnungspolitisch problematisch“

Eine staatliche Kaufprämie stößt jedoch auch volkswirtschaftlich auf Kritik. „Ich halte die Subventionierung der Automobilbranche durch Kaufanreize für Autos, sei es über eine Abwrackprämie oder eine besser klingende Innovationsprämie, für entbehrlich“, hatte zuletzt etwa der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr, gesagt. „Sie ist sehr teuer, der aktuellen Situation nicht angemessen und ordnungspolitisch problematisch.“

Die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, Ska Keller, sagte: „Wenn wir jetzt viel Geld zur Förderung des Individualverkehrs ausgeben, dann fehlt es wieder für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.“ Vorstellbar seien höchstens Hilfen für den Umstieg auf Elektroautos für Menschen auf dem Land, doch müsse es diese Wagen erst mal auf dem Markt geben.

VW-Betriebsratschef Osterloh möchte ungeachtet dessen eine „zusätzliche Abwrackprämie obendrauf“, die es für verschrottete Altautos der Abgasnormen Euro-3 und Euro-4 gibt. Die deutschen Hersteller seien sich einig, die staatlichen Mittel „je nach zugesagter Summe womöglich sogar zu verdoppeln, zumindest aber die Wechselkosten zu übernehmen“. Daneben solle der CO2-Ausstoß als Bemessungsgrundlage für die Kfz-Steuer stärker berücksichtigt werden.

Der Chef der Gewerkschaft IG Metall mahnte ein planvolles Vorgehen an: „Wir werden, so fürchte ich, in die Situation kommen, dass solche Kaufhilfen unvermeidbar sind“, sagt Gewerkschaftschef Jörg Hofmann der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“. Er würde aber davon absehen, jetzt schon als ersten Schritt nach Abwrackprämien zu rufen. „Wir sollten die Zeit nutzen, darüber nachzudenken, wie solche Kaufhilfen aussehen könnten – auch im Kontext des ökologischen Wandels und der Dekarbonisierung.

Mehr zum Thema

Wege aus dem Lockdown: Wie die Autoindustrie den Neustart plant Von Simon Hage

Autoindustrie in der Coronakrise: Die große Angst vor dem L Von Michael Kröger


Quelle: Website von Greenpeace

Staatliche Hilfen müssen die Mobilitätswende voranbringen

Aufbruch im Autoland

Die Autoindustrie ruft nach Staatshilfen, am liebsten auch für klimaschädliche Diesel und Benziner. Dabei lassen sich Steuermilliarden weit gewinnbringender einsetzen.

Die Pandemie trifft die Autobranche hart. Gewinne schmelzen wie Eiswürfel auf Herdplatten. Gerade vermeldet Branchenprimus VW für Januar bis März einen um 86 Prozent niedrigeren Nettogewinn verglichen mit dem Vorjahr. Beim schwäbischen Mitbewerber Daimler ist der Einbruch noch dramatischer: Gut 95 Prozent weniger bleibt unterm Strich. Dabei werden die gestörten Lieferketten, geschlossenen Autohäuser und verunsicherten Käufer erst im zweiten Quartal voll zu Buche schlagen. Kein Wunder also, dass die Branche vor dem Autogipfel kommenden Dienstag immer lauter nach staatlichem Beistand ruft.

Doch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel sich kommende Woche mit den Autobossen zusammentelefoniert, um über mögliche Branchenhilfen zu beraten, muss sie über die Konzernbilanzen hinausschauen. Dann gerät etwa die verheerende Klimabilanz des Verkehrs in den Blick. Seit knapp 30 Jahren haben sich die CO2-Emissionen im Verkehr nicht verbessert. Und nach den halbgaren Vorschlägen von Verkehrsminister Andreas Scheuer ist nach wie vor völlig unklar, wie der Verkehr diesen Rückstand beim Klimaschutz aufholen kann.

Staatshilfen besser anlegen

Die Kanzlerin könnte auch auf die Unfallstatistik blicken. Wertet man die jährlichen Zahlen aus, zeigt sich, dass Radfahrende am wenigsten profitieren vom Trend zu weniger Verkehrsunfällen. Es zeigt sich weiter, dass Radler*innen immer häufiger untereinander verunglücken. Es braucht nicht viel Kombinationsgabe, um zu vermuten, dass die zunehmenden Kollisionen viel damit zu tun haben, dass zwar immer mehr Menschen aufs Rad steigen, dass sie dafür aber in den meisten Städten nicht mehr Platz zur Verfügung haben. Es gibt zu wenig und zu schlechte Radwege.

Angela Merkel könnte sich auch die in vielen deutschen Städten noch immer schlechten Stickoxidwerte anschauen, über den Zusammenhang zwischen Corona-Erkrankung und schmutziger Luft nachdenken oder sich fragen, ob man Steuermilliarden für Konzerne ausgeben sollte, deren Manager weiter auf Bonizahlungen pochen und ihren Aktionären Dividende zahlen wollen. All dies lässt womöglich die Überlegung reifen, dass sich Staatshilfen für den Verkehr besser anlegen lassen, als in Kaufprämien für Abgasautos.

Saubere Mobilität fördern

Wie sich staatliche Hilfen so einsetzen lassen, dass sie die Mobilitätswende voranbringen, hat Greenpeace in diesem heute veröffentlichten Papier zusammengefasst. Wenn der Kauf von Neuwagen überhaupt gefördert werden soll, dann dürfen Prämien nur den Absatz kleinerer E-Autos stärken. Kein Euro Prämien darf fließen in Diesel, Benziner oder Hybrid-Pkw. Anders fällt die deutsche Autoindustrie international noch weiter zurück. „Wenn die Bundesregierung im fundamentalsten Branchenumbruch der Automobilgeschichte alte Antriebe fördert, verwechselt sie Gaspedal mit Bremse“, sagt Greenpeace-Verkehrsexperte Benjamin Gehrs.

Der ganz überwiegende Teil staatlicher Hilfen sollte in den Aufbau sauberer Mobilitätsangebote fließen, findet Gehrs. Der Ausbau sicherer Radwege, die Ausstattung der Städte mit E-Bussen, der Kauf elektrisch betriebener Lastenräder, eine zeitliche befristete Bahncard 50 für alle – solche Maßnahmen helfen nicht nur dem krisengeschwächten Verkehrssektor auf die Beine, sie bringen.

Mehr Information: Statt Abwrackprämie saubere Mobilität Greenpeace April 2020

Der Corona-Crash: Die zweite Eurokrise?

Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe Mai 2020

Von Steffen Vogel

Der Corona-Crash: Die zweite Eurokrise?

Es waren starke Worte, die Ursula von der Leyen Ende März im aus Infektionsgründen fast leeren Plenarsaal des Europaparlamentes fand: „Die Geschichte schaut auf uns. Lassen Sie uns gemeinsam das Richtige tun – mit einem großen Herzen, nicht mit 27 kleinen.“[1] Die Kommissionspräsidentin reagierte damit auf einen beschämenden Mangel: In den ersten Tagen nach Ausbruch der Corona-Pandemie in Europa, dem größten Schock seit dem Zweiten Weltkrieg, war von Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nichts zu spüren.

Die Regierungschefs behandelten die Krise zunächst als eine rein nationale, ganz so, als ob Viren in unseren vernetzten Gesellschaften an den eilig abgeriegelten Grenzen halt machen würden. Selbst als Italiens Botschafter bei der EU Ende März um Schutzmasken für sein schwer getroffenes Land bat, kassierte er nur Absagen; Deutschland beispielsweise hatte zwischenzeitlich einen Exportstopp verhängt. Schließlich besannen sich die anderen Europäer zwar eines Besseren, aber da hatte China – das Italien in seine Neue Seidenstraße einbinden möchte – schon öffentlichkeitswirksam geliefert. Europa versagte in jenen Tagen nicht nur menschlich und politisch, sondern auch geostrategisch.

Seither hat es viele Solidaritätsappelle aus allen Ecken der EU gegeben. Doch so sehr sich Europas Regierungen darüber einig sind, dass diese Krise für die EU eine „Bewährungsprobe“ (Angela Merkel) darstellt, so umstritten bleibt doch, wie eine europäische Antwort aussehen soll. Besonders in der Eurozone prallen auch nach mehreren Videokonferenzen die Gegensätze immer noch hart aufeinander, gipfelnd im Streit um Coronabonds. So fehlt es bislang an einem starken Signal der Einheit an die Bürger des Kontinents, aber auch an die nervösen Finanzmärkte. Das aber ist hochgefährlich, könnte es doch die wütende Abwendung vieler Europäer von der EU zur Folge haben. Aus der Corona- droht damit eine zweite Eurokrise zu werden, die noch schwerer zu bewältigen wäre als die erste – wenn überhaupt.

Schon die erste Eurokrise, die vor zehn Jahren begann, war ganz wesentlich eine Folge politischen Scheiterns: Das Fehlen einer schnellen, solidarischen Antwort auf die finanziellen Probleme Griechenlands führte 2010 zu Unruhe auf den Finanzmärkten, die auch andere südeuropäische Staaten mit sich riss und schließlich die Eurozone als ganze bedrohte – und mit ihr die EU.

Im Fokus standen schon damals die rezessionsgeplagten Mitglieder Italien und Spanien, die als dritt- und viertgrößte Volkswirtschaft des Euroraums zu groß waren, um notfalls mit europäischen Krediten vor einem Staatsbankrott geschützt zu werden. Erst als Mario Draghi, seinerzeit Chef der Europäischen Zentralbank, im Herbst 2012 ankündigte, zur Not unbegrenzt Staatsanleihen kriselnder Eurostaaten anzukaufen, beruhigte sich die Lage – zumindest ökonomisch, nicht aber politisch. Denn die maßgeblich von Deutschland forcierten Kreditauflagen – radikale Austeritätspolitik mit ihren dramatischen gesellschaftlichen Folgen – hatten einen Keil zwischen die Euroländer getrieben, was 2015 zum letztlich vergeblichen Aufbegehren Griechenlands führte.[2] Die fatale politische Spaltung jener Jahre wirkt bis heute nach und prägt ganz entscheidend die unterschiedlichen Reaktionen auf die Coronakrise.

Dabei rächt sich, dass die Eurozone in den Jahren seit 2015 keine Institutionen geschaffen hat, um eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik zu betreiben. Ein europäischer Finanzminister etwa – von Frankreich gefordert, von Deutschland blockiert – hätte eine gesamteuropäische Lösung präsentieren können und damit eine wirtschaftspolitische Debatte angestoßen, statt wie jetzt einen Streit zwischen Nationen. Dabei tritt mit aller Heftigkeit ein ungelöster Grundsatzkonflikt zu Tage: Nach wie vor begreifen etwa die Regierungen Deutschlands und der Niederlande ökonomische Krisen nicht primär als Ausdruck struktureller Defizite in Europa, sondern als Ergebnis eines politisch-moralischen Versagens der betroffenen Länder. Südlicher Schlendrian habe demnach zur Überschuldung Griechenlands oder Italiens geführt. Daher wollen sie selbst jetzt in einer akuten Notlage nicht für ihre Nachbarn haften. Denn wer das damit verbundene finanzielle Risiko eingehe, so ihr traditionelles Kernargument, müsse auch Kontrollbefugnisse haben. Besonders unverblümt zeigte sich dies jüngst in den Worten des niederländischen Finanzministers Wopke Hoekstra. Der Christdemokrat hatte allen Ernstes eine Untersuchung darüber gefordert, warum manche südeuropäischen Staaten so schlecht auf die Pandemie vorbereitet gewesen seien.

Wen wundert es da, dass viele Südeuropäer die derzeitige Debatte um die Grenzen der europäischen Solidarität angesichts des massenhaften Sterbens in ihren Ländern schlicht als hartherzig und kleinlich empfinden. Deutlich wurde dies im empörten Ausbruch des spanischen Premierministers Pedro Sánchez in einer Videokonferenz der EU-Regierungschefs gegenüber Angela Merkel: „Begreifen Sie denn nicht, welchen Notstand wir hier erleben?“[3] Sánchez und andere verlangen ein starkes Zeichen, dass die Staaten der Eurozone nicht nur in einem Boot sitzen, sondern sich ihren Sitznachbarn auch verpflichtet fühlen.

Geteilte Lasten

Ein solches Signal wären – neben den schon vereinbarten europäischen Kreditlinien für Unternehmen und dem Kurzarbeitergeld – vor allem jene Coronabonds, gegen die sich Berlin und Den Haag sperren. Von neun Eurostaaten werden sie mit enormer Vehemenz gefordert – darunter neben den Südeuropäern auch westeuropäische Länder wie Belgien, Luxemburg und vor allem Frankreich.

Die Eurostaaten würden mit diesen Bonds gemeinsame Anleihen auflegen und dafür dank der deutschen Kreditwürdigkeit nur niedrige Zinsen zahlen. Bislang müssen hochverschuldete Eurostaaten wie Italien auf den Finanzmärkten im Vergleich zu Deutschland Aufschläge in Kauf nehmen. Diese sogenannten Spreads steigen derzeit wieder, da Anleger angesichts der enormen Lasten, die auf Italien zukommen, zunehmend nervös werden. Damit drohen Rom deutlich höhere Kosten für den Wiederaufbau. Die „Financial Times“ bringt diese Gefahr so auf den Punkt: „Solange die Eurostaaten nicht das Risiko teilen, werden sich Investoren gezwungen sehen, sich auf das finanzielle Risiko jedes einzelnen Landes im Kampf gegen die Pandemie zu fokussieren.“[4] Im schlimmsten Fall steigen die Aufschläge derart, dass Länder wie Italien nicht genügend Mittel aufnehmen können, um die Krise zu bewältigen. Sie blieben dann für Jahre in einer Dauerkrise gefangen.

Aus diesem Grund taugt auch die Lösung nicht, die Berlin und Den Haag ins Feld führen: Kredite aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Der ESM wurde in der Eurokrise geschaffen, daher rührt auf den Märkten sein Ruf als Notfallinstrument. Wer sich jetzt an ihn wendet, „wird automatisch als offizieller Pleitekandidat gebrandmarkt“, so die Finanzökonomin Doris Neuberger.[5] Zudem reichen die Mittel des ESM nicht aus, um die enormen Kosten des Wiederaufbaus zu stemmen. Und Kredite erhalten die besonders betroffenen Staaten derzeit schon von der EZB. Was sie jetzt aber brauchen, sind „Finanztransfers“, wie selbst der arbeitgebernahe Ökonom Michael Hüther treffend feststellt.[6] Das würde es den Regierungen ermöglichen, die nötigen milliardenschweren Investitionen in ihre pandemiegeschädigte Wirtschaft zu tätigen, ohne ihre Schulden noch weiter zu vergrößern und sich dadurch langfristig weiter zu schwächen. Europäische Bonds wären dafür die wirkungsvollste Lösung: Die Eurostaaten nähmen dann gemeinsam zu niedrigen Kosten Kredite auf und würden sie auf eine Weise untereinander verteilen, die dem erhöhten Bedarf von Ländern wie Italien und Spanien entspricht. Diese Lastenteilung käme letztlich allen zugute, weil sie die Eurozone stabilisieren würde.

Das gilt nicht nur in ökonomischer, sondern auch in politischer Hinsicht. Besonders deutlich zeigt sich das in Italien. Das Gründungsmitglied der EU war das erste Epizentrum der Pandemie außerhalb Asiens und lebt seither mit täglichen Schreckensmeldungen über Triage in Krankenhäusern, vom Virus dahingeraffte Ärztinnen und Pfleger sowie einsame Begräbnisse.

Es ist aber auch ökonomisch und politisch besonders verwundbar: Italien erlebt seit 2008, dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, schon seine dritte Rezession und ist mit 135 Prozent seiner Wirtschaftsleistung hochverschuldet. Zudem hat das Land jahrelang auf Brüsseler Druck gespart, gerade auch im Gesundheitssektor. Dort wurden zwischen 2009 und 2017 mehr als 46 000 Stellen gestrichen, so dass nur noch 5,8 Krankenpfleger auf tausend Einwohner kommen, in Deutschland sind es immerhin 12,9. Auch die Krankenhäuser sind schlechter ausgestattet als bei den nördlichen Nachbarn: Zu Beginn der Pandemie standen in Deutschland 33,9 Intensivbetten pro 100 000 Einwohner zur Verfügung, in Italien nur 8,6.[7] Diese Kürzungen werden in Italien oft als deutsches Diktat begriffen. Jetzt lösen sie bei vielen Wut aus, nach dem Motto: Erst zwingt uns Deutschland zu Austerität, dann will es uns keine Atemschutzmasken schicken und schließlich verweigert es uns auch noch Coronabonds.

Die rechtsradikale Lega um ihren Chef Matteo Salvini setzt bereits alles daran, diese Wut weiter zu schüren und auszubeuten. War Salvini zu Beginn der Pandemie noch abgemeldet, weil seine Kritik am souverän agierenden Premierminister Giuseppe Conte schlecht ankam, so nutzt er jetzt die harte Haltung in Berlin und Den Haag für spaltende Polemik. ESM-Kredite geißelt er als „Ausverkauf unserer Zukunft“, auch deswegen gelten sie im Land als „toxisch“.[8] Das fällt ihm umso leichter, als die demütigende Behandlung Griechenlands, das in der Eurokrise ESM-Kredite beantragen musste, durch die europäischen Gläubiger in Italien – und nicht nur dort – noch derart präsent ist, dass Salvini erfolgreich an die Angst vor ökonomischer Fremdherrschaft anknüpfen kann.

Conte drängt also auch aus politischen Gründen auf Coronabonds. Denn die europäische Zukunft seines Landes ist alles andere als garantiert. Seit der Eurokrise wächst in Italien die Skepsis an der EU – und diese haben Berlin und Den Haag nun nochmals erheblich gesteigert: Mittlerweile sind 49 Prozent der Italiener für einen EU-Austritt ihres Landes, im vergangenen November waren es bloß 29 Prozent. Ein italienischer Exit aber wäre, ganz im Gegensatz zum letztlich stabilisierend wirkenden Brexit, für Euro und EU kaum verkraftbar. Salvini, dessen Lega nach wie vor die Umfragen anführt, hat wiederholt mit einem Austrittsreferendum kokettiert. Sollte er die nächste Wahl gewinnen, könnte er diese Ankündigung wahrmachen.

Eine tödliche Gefahr

Es ist daher nicht übertrieben, wenn der inzwischen 94jährige große Europäer Jacques Delors warnt, „der Mangel an europäischer Solidarität“ bilde „eine tödliche Gefahr für die Europäische Union“.[9] Zwar mag die zitierte Umfrage eine Momentaufnahme sein, aber solche negativen Dynamiken können sich verstetigen, besonders im Fall einer anhaltenden Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit und verbreiteten Abstiegsängsten.

Umso fataler ist die harte Haltung von Merkel und ihrem niederländischen Amtskollegen Mark Rutte. Merkel fürchtet zwar nicht ohne Grund den Widerstand aus konservativen Kreisen gegen Coronabonds – und deren mögliche Hinwendung zur AfD –, doch selbst im haftungs- und austeritätsfixierten Deutschland wird die Debatte inzwischen offener geführt als noch vor zehn Jahren: Auch prominente CDU-Politiker wie Norbert Lammert und Elmar Brok plädieren für Coronabonds – die Kanzlerin wäre also auch im eigenen Lager nicht isoliert. Ruttes Regierung wiederum versucht, die vakante britische – euroskeptische und marktradikale – Position auszufüllen: Sie opponiert auch deshalb gegen Coronabonds, weil sie den Einstieg in eine europäische Finanzpolitik verhindern will. Genau dies ist aber überfällig: Die EU ist längst nicht mehr nur ein Bündnis einzelner Staaten, die allein für ihre wirtschaftliche Lage verantwortlich sind. Vielmehr hat sie gemeinsame Institutionen ausgeprägt, von denen insbesondere die gemeinsame Währung auch eine gemeinsame Politik erfordert, inklusive gemeinsamer Haftung. In diesem Sinne betrachtet etwa der OECD-Generalsekretär Coronabonds als nötigen weiteren Schritt der europäischen Integration.

Doch selbst wenn europäische Bonds – wie derzeit gefordert – nur zeitlich befristet aufgelegt werden, könnte dies für Deutschland mit Kosten verbunden sein. Diese verblassen jedoch vor den ungleich höheren Kosten einer zweiten Eurokrise: „Wir sind nicht mehr der reiche Norden, wenn der ganze Süden umkippt“, warnte jüngst der ehemalige Präsident der niederländischen Zentralbank, Nout Wellink,[10] und erinnerte damit daran, wie sehr ausgewiesene Handelsnationen wie Deutschland und die Niederlande von einem stabilen Europa abhängen.

Eine gemeinsame Haftung ist daher das Gebot der Stunde. Denn eines steht fest: In diesen harten Zeiten helfen Europa keine technokratischen Kompromisse und keine blumigen Appelle – sondern nur spürbare Solidarität.

[1] Vgl. Karoline Meta Beisel und Björn Finke, Appell vor dem Videogipfel, in: „Süddeutsche Zeitung“, 27.3.2020.

[2] Vgl. Steffen Vogel, Grexit verhindert, Europa verspielt?, in: „Blätter“, 8/2015, S. 5-8.

[3] Vgl. Carlos E. Cué und Bernardo de Miguel, Michel: „¿Tenemos acuerdo, Pedro?” Sánchez: „No. Así es inaceptable.” Así fue la tensa cumbre de la UE, www.elpais.com, 28.3.2020.

[4] Tommy Stubbington, Italian debt sinks after ‚corona bond’ plan falters, www.ft.com, 15.4.2020.

[5] Vgl. Ulrike Herrmann, Tausend Ökonomen gegen Merkel, in: „taz“, 5.4.2020.

[6] Vgl. „Ein Lackmustest für europäische Solidarität“, Interview mit Michael Hüther, www.deutschlandfunk.de, 28.3.2020.

[7] Thomas Fritz, Corona-Krise: Wie deutsche PolitikerInnen den Gesundheitsnotstand in der EU verschärften, www.saveourservices.de, 2.4.2020.

[8] Federico Fubini, Nel gioco delle alleanze europee è Macron che ha la carta decisiva, in: „Corriere della Sera”, 4.4.2020.

[9] Sophie de Ravinel, Le manque de solidarité est un „danger mortel“ pour l’Europe, selon Jacques Delors, www.lefigaro.fr, 28.3.2020.

[10] Martin Visser, Wellink: Italië helpen, of gevaar dat EU uiteenvalt, www.telegraaf.nl, 30.3.2020

Die Corona-Krise in historischer Perspektive – Offener Brief an die Regierungen der Mitgliedsländer und die Institutionen der EU

VON MASSIMILIANO LIVI · 6. APRIL 2020

Von: Carlo Spagnolo – Vito Gironda – Christian Jansen – Massimiliano Livi

 Die Corona-Krise in historischer Perspektive – Offener Brief an die Regierungen der Mitgliedsländer und die Institutionen der EU

Das folgende Dokument ist das Ergebnis einer Diskussion der ersten vier Unterzeichner über die Bedeutung der Haltung der Historiker*innen gegen aktuelle antideutsche Ressentiments, die durch historische Narrative untermauert wird, die nicht nur gefährlich sind, sondern auch irreführend sind.
Umgekehrt werden nicht nur in Deutschland „tugendhafte“ Länder, die wenig Staatsschulden haben, den „verantwortungslosen“ Süd-Ländern gegenübergestellt. Dies beunruhigt uns sehr, weil wir uns professionell mit der deutschen und italienischen Geschichte und ihren vielfältigen Verflechtungen beschäftigt haben und daher wissen, wie sehr das Verhältnis zwischen Italien und Deutschland die kontinentale Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, aber auch weil solche Verzerrungen eine Verfestigung nationaler Stereotype und nationalistischer Engstirnigkeit in der öffentlichen Meinung bewirken können. Dies gilt es zu vermeiden.

Wir wollen mit unserem Offenen Brief die Regierungen und Institutionen in der gesamten EU darauf hinweisen, dass ohne mutige Entscheidungen und ohne ein vorausschauendes und beispielloses Eingreifen der EU die heutige Krise zu einem demokratischen Notstand führen könnte.

Als Historiker sehen wir mit Besorgnis den vielfachen Rückgriff auf nationale Stereotype angesichts eines Notstands, der eine distanzierte Analyse und eine langfristige Vision erfordert. Derzeit erleben wir eine ernste Krise: nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine soziale und wirtschaftliche Krise. Sie betrifft alle europäischen Länder.

Wenn das BIP für jeden Monat des Shutdown um 2,5% sinkt, wird es in den am stärksten vom Virus betroffenen EU-Ländern eine Rezession von mindestens 7,5% geben; bis zum Ende des Jahres wird in Italien mit einem Rückgang von 10% des BIP gerechnet. Nach der bereits erlebten Rezession von 2008 bis 2011 könnte dies fatal sein. Dies könnte für die bereits geschwächten Länder bedeuten, aus dem Euro herausgedrängt zu werden. Eine Bankenkrise könnte ganz Südeuropa betreffen, wird aber auch die anderen Länder nicht unberührt lassen. Ein zu pessimistisches Szenario?

All diejenigen, die wissen, wie sich in der Vergangenheit immer wieder Krisen in Tragödien verwandelt haben (z.B. 1914 in Europa), sollten versuchen, die öffentliche Debatte auf ein höheres, europäisches Niveau zu bringen, anstatt in nationale Stereotype zurückzufallen.

Die Partner der EU stehen vor schwierigen und wahrscheinlich unumkehrbaren Entscheidungen, kurz gesagt, wir alle stehen vor einer Situation, die ohne Übertreibung als historischer Wendepunkt bezeichnet werden kann.

Zusammen mit den Ungleichgewichten einer Globalisierung, die den Finanzen Vorrang vor der Realwirtschaft einräumt, rücken einige ungelöste Fragen des Maastricht-Vertrags und der Wirtschafts- und Währungsunion in den Vordergrund. Zoll- und Währungsunionen ohne politische Einheit werden früher oder später scheitern. Wenn die strukturellen Asymmetrien, die der Gesundheitsnotstand zusätzlich verschärfen wird, nicht überwunden werden, könnte die Union zusammenbrechen.

Was kann unsere Aufgabe als Historiker sein?

Wir sollten betonen, dass einerseits das wiedervereinigte Deutschland nicht vergessen darf, dass seine ökonomische Prosperität auf einem Entgegenkommen der Sieger im Kontext des Kalten Krieges basiert (Londoner Schuldenabkommen, Aufnahme in die EWG) und dass es im Zentrum Kontinentaleuropas in hohem Maße von der europäischen Einigung profitiert hat, aber auch eine besondere historische Verantwortung trägt.

Andererseits müssen Frankreich, Spanien und Italien deutlich machen, dass sie auf eigenen Füßen stehen und ihren besten demokratischen Traditionen gerecht werden können. Wenn diese ausgewogene Perspektive verloren geht, leidet der ganze Kontinent.

Die abnehmende Bedeutung Europas in der globalisierten Welt ist ein unumkehrbares historisches Phänomen. Deshalb müssen die EU-Mitglieder erkennen, dass sie nur gemeinsam über einen ausreichend großen Binnenmarkt verfügen, um gegen diesen Trend ihren Wohlstand zu halten und sich gegen anderen global Players wie China, die USA, Indien usw. zu behaupten. Kurzfristig können einzelne Staatengruppen zwar allein aus der Krise herauskommen, langfristig werden sie sich dem Niedergang nur gemeinsam entgegenstellen können. Wenn die Fäden Europas (nicht nur der EU) wieder einmal zerrissen werden, geraten wir in Konflikte, die uns Historiker*innen aus unserer Beschäftigung mit der Vergangenheit nur zu vertraut sind.

Zwei Weltkriege und die europäischen Faschismen sollten uns deutlich gemacht haben, dass die Rezepte des 19. und 20. Jahrhunderts (Imperialismus, Nationalismus, Rassismus und Rivalitäten innerhalb Europas) keine Lösungen verheißen und den Niedergang Europas beschleunigt haben. Nach 1945 war der Preis dafür die Teilung des Kontinents und die Vorherrschaft zweier imperialer Supermächte.

Die Bundesrepublik Deutschland sollte nicht vergessen, dass sie von den Verbündeten wiederaufgebaut wurde, um dem Westen in einer antikommunistischen, demokratischen Konkurrenz zu dienen. Auch die europäische Integration hatte ihre Wurzeln in diesem Kontext und hat die liberalen Demokratien in Deutschland und Italien stabilisiert. Im europäischen Umbruch von 1989-1991 wurde die Gelegenheit verpasst, eine echte europäische Verfassung zu erarbeiten und damit die Dynamik jener Jahre zu nutzen, um eine politische Union voranzubringen und der europäischen Integration eine demokratische Legitimation zu verleihen.

Wenn einerseits das moralistische Argument, Deutschland solle nun die von den Westmächten 1953 erlassenen Reparationen doch noch zahlen, heute unsinnig ist (vor allem wenn es von ex-faschistischen Ländern unterstützt wird),

so ist andererseits die Weigerung der „tugendhaften“, weniger verschuldeten Staaten ebenso unangemessen, die ungleich verteilten Vorteile des gemeinsamen Marktes anzuerkennen und stattdessen weitere Sparmaßnahmen für Länder zu fordern, die seit vielen Jahren unter harten Wohlfahrtseinschnitten gelitten haben, nicht zuletzt dem jetzt auf dramatische Weise spürbaren Abbau im Gesundheitswesen.

Die Lehren aus der Geschichte müssen auf einer allgemeineren Ebene gezogen werden:  Die Erinnerung an die umfassende moralische, ökonomische und soziale Zerstörung unseres Kontinents im Jahr 1945 aufgrund der nationalistischen und rassistischen Hybris der faschistischen Staaten – allen voran Italiens und Deutschlands – muss als Dreh- und Angelpunkt einer gemeinsamen europäischen Verpflichtung gegenüber Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Frieden verstanden werden. Ihr müssen auch die Wirtschaft und die finanziellen Institutionen gerecht werden.

Heute geht es darum, den Blick nach vorne zu richten, gemeinsame Standards bei Löhnen und Sozialleistungen zu garantieren, den jüngeren Generationen eine Zukunftsperspektive zu geben, und hierfür die EU mit Aufgaben zu betrauen, die die in einer vergangenen historischen Epoche entstandenen Nationalstaaten nicht mehr allein erfüllen können.

 Diese Aufgaben sind, kollektive Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, Telekommunikationsinfrastruktur, Grundlagenforschung usw. zu garantieren und dabei unabhängiger zu werden von den USA, China usw.. Es ist in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten Vieles gelungen. Aber dieser europäische Weg kann angesichts des wiederauflebenden Nationalismus nicht ohne eine neue demokratische Kooperation fortgesetzt werden.

Es geht also nicht nur um den Schutz der Gläubiger vor den Schuldnern. Sondern viel wichtiger ist es, über unsere gemeinsame Zukunft nachzudenken und die Mittel bereitzustellen, um sie zu verwirklichen. Es ist allen klar, dass die Schuldnerländer eine ernsthafte Verantwortung für die Ineffizienz ihrer Gesundheits- und Steuersysteme haben. Aber ebenso klar sollte sein, dass es kein kollektives Verschulden der Menschen in den Schuldnerländern gibt, so wie wir gelernt haben, dass es keine kollektive Schuld Faschismus und Krieg erklären kann.

Welche Schuld haben die Arbeitnehmer in den Schuldnerländern? Und sollten die reicheren Länder nicht die Asymmetrien anerkennen, die sie begünstigen (z.B. niedrigere Finanzierungskosten, die den Wettbewerb im Binnenmarkt verzerren)?

Warum werden die Löhne in Ländern mit sehr hohen Handelsüberschüssen niedrig gehalten, was die europäische Binnennachfrage drückt und die Solidarität zwischen den Arbeitnehmern verhindert?

Als Historiker*innen fordern wir die Regierungen und Institutionen der Europäischen Union dazu auf, die Gegenwart distanziert und differenziert, ohne nationalistische Scheuklappen und ohne Rückgriffe auf nationale Stereotype, zu betrachten und anzuerkennen, dass der gegenwärtigen Krise viele Warnzeichen vorausgegangen sind, die nicht beachtet wurden.

Die Unzulänglichkeiten einzelner Mitgliedsstaaten befreien die anderen Regierungen nicht aus ihrer moralischen Verantwortung der Europäischen Union gegenüber. Die Fäden der Demokratie und der europäischen Integration sind so eng miteinander verflochten, dass bei einem Scheitern der letzteren auch die erstere in Gefahr ist, was tatsächlich bereits der Fall ist.

Hoffen wir, dass nicht die Logik der unmittelbaren nationalen Interessen die Entscheidungen bestimmt, sondern eine langfristige Vision der für alle Bürger*innen Europas lebenswichtigen Bereiche, die von der Politik zu gestalten sind.

Wenn Politiker*innen ihrer Rolle als kreative Kompromisssucher nicht gerecht werden, können sie schnell zu „terribles simplificateurs“ (furchtbaren Vereinfachern) werden, wie der Historiker Jacob Burckhardt einmal formuliert hat, und apokalyptisch wirken.

Vermögensabgabe zur Bewältigung der finanziellen Folgen der Corona-Krise – Bundestagsgutachten

Quelle: Fokus – Montag, 27.04.2020

Gastbeitrag von Gabor Steingart

SPD und Linkspartei machen sich Gedanken über die Finanzierung der gewaltigen Ausgaben. Gedanken, die da ansetzen, wo das Denken der politischen Linke klassischerweise ansetzt: beim Portemonnaie der Vermögenden. Genau das tat einst auch ein Vater der Union.

Im Bundestag zirkuliert ein am 9. April vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages vorgelegtes Papier: Verfassungsmäßigkeit einer Vermögensabgabe zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona_Pandemie Gutachten Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag April 2020

In Auftrag gegeben wurde es vom stellvertretenden Vorsitzenden und finanzpolitischen Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, dem Deutsch-Italiener Fabio De Masi.

Die Deutsche Presseagentur hat mit einer irreführenden Überschrift – mutmaßlich aus Versehen – die politische Debatte um das Papier verhindert: „Gutachten: Zweifel an Zulässigkeit von Vermögensabgabe wegen Corona“, lautete die Überschrift, die zahlreiche Medien, darunter auch „Der Spiegel“ und das Fachportal „Finanzen.net“, genau so veröffentlichten.

Vermögensabgabe könnte direkt ins Depot der Reichen führen

In Wahrheit allerdings erfährt man bei genauer Lektüre des Gutachtens, dass die Wissenschaftler den Befürwortern einer Vermögensabgabe juristische Brücken bauen, die direkt in die Depots der Reichen führen könnten. So heißt es da:

  • „Dadurch, dass die Vermögensabgabe im Grundgesetz in Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 ausdrücklich normiert wurde, ist sie grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig.“
  • „Die Vermögensabgabe muss laut Verfassung eine einmalige Abgabe bleiben. Allerdings ist es zulässig, diese einmalige Abgabe über mehrere Jahre zu verteilen, wie es etwa bei den Lastenausgleichsabgaben im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes (LAG) von 1952 praktiziert wurde.“

In Teilen der Merkel-CDU wird die juristische Debatte nicht gänzlich ohne Sympathie verfolgt. Man weiß ja: Die Finanzierung der kostspieligen Corona-Subventions-Orgie, um das Wort der Kanzlerin aufzugreifen, wird das nächste große Thema der deutschen Innenpolitik. Mit einer Vermögensabgabe könnte man sich am Wahltag die Loyalität der sozialdemokratischen Wählermilieus sichern.

Megareiche opfern, Fabrikarbeiter gewinnen – das tat ein Vater der Union

Die politische Gleichung geht so: Man verliert die Familien Albrecht, Klatten und Otto – und gewinnt die Fabrikarbeiter.

Die Blaupause für einen solchen Substanzeingriff haben nicht Karl Marx oder Oskar Lafontaine geliefert, sondern der ehemalige Finanzminister Matthias Erzberger. Der Zentrumspolitiker – der also der direkten Vorgängerin der CDU angehörte – setzte das Reichsnotopfer nach dem für Deutschland verlorenen 1. Weltkrieg durch.

Erzberger wollte „soziale Befriedung der Nation“

Das Notopfer war in der Weimarer Republik eine Vermögensabgabe, die infolge der staatlichen Finanznot nach dem Weltkrieg in den Jahren 1919 bis 1922 erhoben wurde. Progressiv besteuert wurden Sach- und Realvermögen wie Bargeld, Bankguthaben, Forderungen, Wertpapiere, Aktien, Anleihen, Immobilien und Maschinen. Die Steuersätze starteten bei 10 Prozent und stiegen bis 65 Prozent für Vermögen über sieben Millionen Mark an.

Erzberger begründete den Eingriff eines konservativen Politikers in die Vermögenswerte mit der sozialen Befriedung der Nation:

  • „Der große Steuersouverän der Zukunft kann nur das einige Deutsche Reich sein.“
  • „Gerechtigkeit im gesamten Steuerwesen zu schaffen ist mein oberstes Ziel. Ein guter Finanzminister ist der beste Sozialisierungsminister.“

Zweite Vermögenssteuer wurde erst 1995 wieder abgeschafft

Im Jahr 1922 wurde diese Vermögenssteuer wieder abgeschafft – zugunsten einer Vermögenssteuer, die dann Hitler-Diktatur, Zweiten Weltkrieg, Neuanfang, DDR-Zusammenbruch und Wiedervereinigung überlebte. Erst 1995 wurde der Eingriff in bereits versteuerte Vermögenswerte vom Bundesverfassungsgericht wieder abgeschafft.

Den Namen Matthias Erzberger hält man im Finanzministerium bis heute in Ehren. Der größte Sitzungssaal ist nach dem Erfinder der Vermögensabgabe benannt.

SIPRI-Bericht: Rekordplus bei den Militärausgaben – Deutschland führend beim Wachstum in Westeuropa

Quelle: taz – Autor: Reinhard Wolff – taz-Auslandskorrespondent für Skandinavien und das Baltikum

STOCKHOLM taz | Auf 1.917.000.000.000 Dollar beliefen sich die weltweiten Militärausgaben 2019 – 1,9 Billionen. Ein Plus von 3,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr und damit der höchste jährliche Anstieg seit dem vergangenen Jahrzehnt. Wurden pro Kopf der Weltbevölkerung 249 Dollar (2018: 243 Dollar) für militärische Ausrüstung ausgegeben, bekam die öffentliche Entwicklungshilfe mit 21,83 Dollar weniger als ein Elftel davon.

Dem am Montag veröffentlichtem diesjährigen „Global Military Expenditure“-Rapport des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri ist auch zu entnehmen, dass wie immer in den mehr als drei Jahrzehnten, in denen Sipri solche Berichte publiziert, die USA mit weitem Abstand die Liste der Aufrüster anführen. 2019 standen sie allein für 732 Milliarden Dollar und damit 38 Prozent der globalen Militärausgaben. Die Steigerung führt Sipri vor allem auf die Rekrutierung von zusätzlich 16.000 Soldaten und die laufende Modernisierung des konventionellen und atomaren Waffenarsenals der USA zurück. Die USA als größtes Nato-Mitglied „heizen das weltweite Wachstum bei den Militärausgaben an“, konstatiert Sipri.

Das zweitplatzierte China, das mit 5,1 Prozent seine Ausgaben etwa im gleichen Takt wie die USA auf von Sipri geschätzte 261 Milliarden Dollar erhöhte, rangiert vor Indien, Russland und Saudi-Arabien mit jeweils 71 bis 61 Milliarden Dollar. Wenn für Indien erstmals die weltweit dritthöchsten Militärausgaben gemeldet werden, wird diese Entwicklung laut dem Sipri-Forscher Siemon T. Wezeman „von den Spannungen und Rivalitäten zwischen Indien, Pakistan und China angetrieben“.

In Westeuropa führt die Bundeswehr das Wachstum bei den Militärausgaben an. Während diese in Frankreich (50,1 Milliarden, Platz 6) und Großbritannien (48,7 Milliarden, Platz 8) in etwa unverändert waren, wuchsen sie im siebtplatzierten Deutschland gleich um 10 Prozent auf 49,3 Milliarden Dollar. Kein Staat unter den Top 15 auf der Sipri-Liste verzeichnet ein solches prozentuales Wachstum, Deutschland liegt mit diesem Anstieg doppelt so hoch wie der gesamteuropäische Durchschnitt von 5 Prozent.

Selbst Russland wandte mit 65 Milliarden 2018 nur knapp ein Drittel mehr für sein Militär auf als Deutschland. Das Wachstum der deutschen Ausgaben lässt sich laut Sipri „teilweise durch die Wahrnehmung einer erhöhten Bedrohung durch Russland erklären, die von vielen Nato-Mitgliedstaaten geteilt wird“. 2019 gaben alle 29 Nato-Staaten zusammen 1.035 Milliarden Dollar für das Militär aus, fast das 16-Fache Russlands