Weniger Ungleichheit durch die Corona-Krise? Wirtschaftliche und soziale Folgen der Pandemie

| Christoph Butterwegge* – Quelle: Blickpunkt WiSo – 8. April 2020

Seit geraumer Zeit wächst die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland. Von den meisten Bewohner(inne)n eher in Staaten wie den USA, Brasilien oder Südafrika verortet, hat sich die Ungleichheit vor allem beim Vermögen zuletzt auch in der Bundesrepublik ausgebreitet. 45 Familien besitzen laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also über 40 Millionen Menschen.

Der in wenigen Händen konzentrierte Reichtum schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gefährdet auch die Demokratie, weil man politisch umso einflussreicher ist, je vermögender man ist. Weil der Sozialstaat demontiert, der Arbeitsmarkt dereguliert und eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip »Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das noch genommen« gemacht worden ist, schwindet bei den Verlierer(inne)n das Vertrauen in die Institutionen des parlamentarisch-demokratischen Repräsentativsystems. Die daraus resultierende Neigung, sich nicht mehr (regelmäßig) an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen, stärkt wiederum jene politischen Kräfte, die den Privilegien mächtiger Interessengruppen verpflichtet sind.

Corona und die illusionäre Hoffnung auf mehr Gleichheit

Vor allem Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien bzw. Pandemien haben in der Vergangenheit oft dafür gesorgt, dass die Ungleichheit nicht überhandnahm. Was man als Gesetz der egalisierenden Wirkung von Epidemien bezeichnen kann, wird durch die Corona-Krise jedoch vermutlich außer Kraft gesetzt. Dafür sprechen jedenfalls manche Indizien, und zwar sowohl im globalen Maßstab wie auch im nationalen Rahmen.

»We’re about to learn a terrible lesson from coronavirus: inequality kills« (»Das Coronavirus wird uns eine schreckliche Lektion erteilen: Ungleichheit tötet«) überschrieb Owen Jones im Guardian (14.3.2020) einen Kommentar, in dem er die jahrzehntelange »Sparpolitik« der konservativen Torys dafür verantwortlich machte, dass Großbritannien den sozialen und gesundheitlichen Herausforderungen der Pandemie nicht gewachsen sei.

Auch ein teilprivatisiertes, kommerzialisiertes und gewinnorientiertes Sozial- und Gesundheitssystem wie das deutsche garantiert keine optimale medizinische Behandlung der Kranken und in Krisensituationen wie der gegenwärtigen keine Versorgungssicherheit. Budgets sowie das von der CDU/CSU/FDP-Koalition unter Helmut Kohl eingeführte und von der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder allgemein verbindlich gemachte Fallpauschalensystem für die Krankenhäuser sind kontraproduktiv im Hinblick auf die Extrembelastung durch eine Pandemie.

Zwar sind die Aktienkurse in Deutschland wie an sämtlichen Börsen der Welt schlagartig eingebrochen, dramatische Verluste haben aber vor allem Kleinaktionäre gemacht, die zu Panikreaktionen und sofortigen Verkäufen neigen, während Spekulanten die Gunst der Stunde für Ergänzungskäufe zu niedrigen Kursen genutzt haben dürften. Hedgefonds und Finanzkonzerne wie BlackRock haben sogar auf fallende Kurse gewettet und dabei riesige Extraprofite realisiert.

Die größten Konzerne mit den reichsten Chefs gehören offenbar ebenfalls zu den Hauptprofiteuren der Corona-Krise. Amazon weitet sein Geschäft aus und stellt Zehntausende zusätzliche Picker ein, um den Boom im Versandhandel zu bewältigen. Jeff Bezos, ohnehin reichster Mann der Welt, vergrößert sein Vermögen aufgrund der Corona-Krise. Kleine Buchhändler/innen, die viele Leser vor Ort beraten und mit Lesestoff versorgt haben, fürchten angesichts der Pandemie, der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kunden hingegen mehr denn je um ihre materielle Existenz.

Durch die Schulschließungen und das Homeschooling erhalten vermutlich E-Learning und Digitalisierung in Deutschland starken Auftrieb. Da der digitale Unterricht die Schüler/innen aus eher armen Elternhäusern benachteiligt, weil sie entweder nicht über die nötigen Geräte (Smartphones, Tablets und Drucker) verfügen oder damit weniger gut vertraut sind, nimmt die vorhandene Privilegierung der Kinder aus bessergestellten Familien noch zu.

Hauptbetroffene der Pandemie und Schlussfolgerungen

Die Corona-Krise wirkt sich nicht allein auf die Immunschwachen, sondern auch auf die Einkommensschwachen fatal aus. Einerseits haben viele Tafeln geschlossen, andererseits sinken die Einnahmen von Bettler(inne)n, Pfandsammler(inne)n und Verkäufer(inne)n von Straßenzeitungen, weil die Straßen leergefegt sind und alle eine Infektion fürchten. Damit wird die ohnehin brüchige Lebensgrundlage der Ärmsten vollends zerstört.

Auch von den Rettungspaketen für die Unternehmen kommt im Kellergeschoss der Gesellschaft wenig an. Während die Arbeitgeber ihre Lohnkosten durch die modifizierte Regelung zum Kurzarbeitergeld vollständig erstattet bekommen (einschließlich ihrer Beiträge zur Sozialversicherung), kommen Arbeitnehmer/innen höchstens auf 67 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens, und zwar auch nur dann, wenn sie unterhaltsberechtigte Kinder haben.

Alle übrigen Kurzarbeiter/innen bekommen sogar nur 60 Prozent, wobei Sonderzahlungen wie Nachtzuschläge unberücksichtigt bleiben. Mehr als eine Million Senior(inn)en bessern ihre Rente durch einen Minijob auf, darunter fast 200.000 Menschen, die 75 Jahre oder älter sind. Wenn ihr Arbeitgeber keine Aufträge mehr hat und in wirtschaftliche Bedrängnis gerät, erhalten sie im Unterschied zu sozialversicherungspflichtig Beschäftigten kein Kurzarbeitergeld.

Gemeinschaftssinn, Mitmenschlichkeit und soziales Verantwortungsbewusstsein bleiben auf der Strecke, wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Aber die Corona-Pandemie bietet neben großen Gefahren, zum Beispiel einer Beschneidung der Grundrechte sowie einem weiteren Ausbau des staatlichen Kontroll-, Überwachungs- und Repressionsapparates, den manche Länder derzeit erleben, auch gewisse Chancen. Falls sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Sozial- und Gesundheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte unserem Gemeinwesen geschadet hat und Solidarität statt Wettbewerbswahn und Ellenbogenmentalität herrschen muss, hätte das Virus für die Gesellschaft am Ende auch etwas Gutes bewirkt.

Die soziale und mit ihr die Verteilungsfrage müssen wieder größere Aufmerksamkeit finden, soll der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. Zwar sind es nicht bloß ökonomische Konfliktlinien, die das Land zerreißen, aber wenn sich die Ungleichheit von Eigentum, Einkommen und Vermögen im Gefolge der Pandemie erhöht, kann sich die Bundesrepublik nicht friedlich, demokratisch und human entwickeln.

Auch die Bewältigung der ökologischen Probleme hängt von einer Verringerung der sozioökonomischen Ungleichheit ab, denn Klima-, Natur- und Umweltschutz stoßen an die Grenzen eines Wirtschaftssystems, das auf einer privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums und damit auf der Profitgier seiner Hauptakteure beruht.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge (Jahrgang 1951) gilt als einer der profiliertesten Armutsforscher der Bundesrepublik. Er hatte zuletzt von 1998 bis  2016 eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln (Humanwissenschaftliche Fakultät) innen und ist seither emeritiert. 

Corona-Krise: Kritik an der Rubikon-These: „Die Welt hat einen Männerschnupfen.“

Corona-Krise: Kritik an der Rubikon-These: „Die Welt hat einen Männerschnupfen.“ Beitrag von Florian Kirner (7. April 2020).

Quelle: Die Freiheitsliebe. Dein Portal für einen kritischen Journalismus.

Weite Teile des digitalen, alternativen Mainstreams sind in Anbetracht der Corona-Krise auf die gleiche Linie eingeschwenkt. Demnach haben wir es mit einem Staatsstreich zu tun, der den neuen Faschismus einführt. Covid-19 selbst sei dagegen „nicht schlimmer als die Grippe“ oder gar: „ein Fake“. Rubikon ist unter der energischen Führung seines Herausgebers Jens Wernicke federführend für diese Linie. Florian Kirner findet sie verantwortungslos und kritisiert, dass alles, was wir dem Mainstream-Journalismus vorwerfen, nun auch im Bereich der „alternativen“ Medien zu beobachten ist.

„Die Welt hat Männerschnupfen.“ So fasst ein Autor des Rubikon die Gefährlichkeit des Corona-Virus zusammen. Männerschnupfen, das ist also dieser scherzhafte Ausdruck für die selbstmitleidige Hysterie, die die Herren der Schöpfung bei jeder noch so harmlosen Erkältung befällt.

Wer ist der Mann, der dies so schreibt? Was qualifiziert ihn zu dieser Aussage? Ist er Mediziner? Virologe? Epidemiologe? Hat er nennenswerte wissenschaftliche Kenntnisse in für die Corona-Einschätzung relevanten Fachgebieten?

Nun, es handelt sich um einen Studenten der Politologie und der Theaterwissenschaften. Auf meine kritische Nachfrage erfahre ich, er habe sich allerdings „bereits seit Wochen“ mit dem Thema beschäftigt, und zwar: „intensiv“.

In einem neuen Video-Gespräch des Rubikon erfahren wir: „Vermutlich handelt es sich dabei um eine ziemlich normale grippale Infektion.“ Der, der diese Einschätzung tätigt, ist Kulturwissenschaftler und Theaterdramaturg. Inzwischen äußern sich im Rubikon auch Realschullehrer und gelernte Elektriker zu virologischen Fragen.


Von Florian Kirner. Er studierte Anglo-Amerikanische Geschichte, Japanologie und Mittlere und Neue Geschichte an der Universität zu Köln, sowie Internationale Beziehungen an der Sophia Universität Tokio. Er ist außerdem Aktivist, Liedermacher und betreibt seit 2008 ein alternatives Projekt auf Schloss Weitersroda in Südthüringen. Er hat das Magazin „Rubikon“ 2017 mit aus der Taufe gehoben.

Nach dem Neoliberalismus, vor der Neuen Zeit

Auszug aus dem Positionspapier „Nach dem Neoliberalismus, vor der Neuen Zeit. Zwischenruf aus dem Ausnahmezustand“. Herausgeber: Institut für solidarische Moderne (ISM): Nach dem Neoliberalismus _vor der Neuen Zeit Zwischenruf aus dem Ausnahmezustand ISM 30.3.20

„Gibt es zurzeit auf die Krise keine allgemeingültigen, einfachen Antworten, hat sich doch ein offener Raum für kritische Fragen und neue Ideen geöffnet. Der stählerne Vorhang der neoliberalen Vergesellschaftung ist heruntergekracht. Und jetzt – wohin?

Es ist schön, dass Rewe den Mitarbeiter*innen eine Prämie zahlen will. Der Applaus, die Transparente auf den Balkonen sind moralisch eine Unterstützung für die Arbeiter*innen im Gesundheitswesen.

Dass es einen breiten Konsens dafür gibt, dass die Kosten der Krise nicht umstandslos sozialisiert werden dürfen, sondern genau gefragt werden muss, wer wofür aufkommen soll, ist richtig. Doch braucht es jetzt ein zivilgesellschaftliches und politisches Bündnis, das aus diesen ersten Einsichten Konsequenzen zieht und Politik im eminenten Sinn des Wortes auch durchsetzen kann – und sei’s auf mittlere Sicht.

Zunächst muss dafür die Zeit des Lockdowns genutzt werden, Strategien zu entwickeln für die anstehenden Deutungskämpfe um die Krise:

  • Wie werden die neuen Staatsschulden interpretiert werden?
  • Wie ist eine Neuauflage von Austeritätspolitiken zu verhindern?
  • Wie können stattdessen endlich die großen Vermögen besteuert und die soziale Infrastruktur ausgebaut werden?

Emanzipative Perspektiven haben dann größere Chancen, wenn sie auf den widersprüchlichen Krisenerfahrungen aufbauen: Auf der Relevanz der Care-Tätigkeiten – sowohl in den Pflegeberufen als auch in den eingeschlossenen Familien –, auf den wahrnehmbaren Veränderungen der Naturverhältnisse, dem massiv verringerten Verkehr auf der Straße und in der Luft, auf den entstandenen solidarischen Netzwerken und der gesellschaftlichen Schwarmintelligenz bei der Lösung von Problemen.

Wir sind vorgewarnt durch die Verarbeitung der letzten großen Krise, die die neoliberalen Politiken weiter gestärkt statt geschwächt haben. Einer Wiederholung müssen wir uns entgegenstemmen. 

In diesem Kontext wird die Bundestagswahl 2021 tatsächlich eine Richtungsentscheidung werden. Sie wird die Bereitschaft für eine sozial-ökologische Transformation zur Wahl stellen.

Für den Anfang können dabei wirksame finanzielle Programme im Blick auf Solidarität, Gemeingüter und ein freies und gleiches Gemeinwesen in den Fokus gestellt werden. Es genügt nicht, die Hartz IV-Bürokratie für sechs Monate abzubauen. Die aktuelle Krise wird Arbeitslosigkeit, Insolvenzen und Armut produzieren. Kleine Unternehmen, Freiberufler*innen, Künstler*innen etc. werden erst einmal Jobs und Einkommen verlieren.

Es bietet sich geradezu an, das Hartz-IV-Regime jetzt grundlegend zu reformieren. 200 Euro mehr für die Bezieher*innen im SGB II sichern nicht nur die materielle Existenz, sondern tragen zugleich dazu bei, den Konsum anzuregen. Die Diskussion um ein repressionsfreies Grundeinkommen, zumindest für die jetzt Betroffenen, könnte einen tieferen Charakter und eine weiter reichende Dynamik entwickeln.

Nicht nur die Gesundheitssysteme sind in der Krise an ihre Grenzen gestoßen. Vielen wurde deutlich, dass die Privatisierungen das Gegenteil von dem erreichten, was sie vorgaben. Machen wir diese Erkenntnis zum Ausgangspunkt der Debatten um die öffentliche Daseinsvorsorge.

  • Die Konflikte um die Wohnungsnot in den Metropolen zeigen, wie dafür Mehrheiten gewonnen werden können.
  • Gesundheit, Bildung, Verkehr, Energie, Teile der Immobilien gehören wieder in die öffentliche Hand.
  • Die Eigentumsfrage kann und muss auf der Tagesordnung bleiben, ohne durch Verstaatlichungen beantwortet werden zu müssen: Vergesellschaftung kann anders und besser funktionieren.
  • Hier könnten die vielen Projekte in solidarischen, genossenschaftlichen, kooperativen, kommunalen u.a. Eigentumsformen, die sich in den Nischen des Kapitalismus unter schwierigen Bedingungen eingerichtet haben, abgesichert und erweitert werden: als Einstiegsprojekte in eine andere politische Ökonomie.

Mittelfristig braucht der Umbau der Wirtschaft hin zu einer sozial-ökologischen Produktion zwei grundlegende Neuorientierungen der Eigentumsordnung und der Gestaltung und Zielsetzung der Produktion.

  • Es genügt nicht, VW oder BMW zu verstaatlichen, damit künftig Bürokrat*innen die Profitrate überwachen.
  • Es muss um die Demokratisierung der Wirtschaft gehen. Wenn der Staat eingreift – und das wird erforderlich sein – brauchen Unternehmen pluralistisch zusammengesetzte Aufsichts-Verwaltungsräte, denen Vertreter*innen aus zivilgesellschaftlichen Bewegungen, Gewerkschaften und Sozialverbänden angehören. Erst dann können Produktion und Distribution neu definiert werden.

Es wird kein leichtes Unterfangen, dies in Interessenkonflikten und -konkurrenzen um Absatz und Ressourcen unter nachhaltiger Berechnung der ökologischen Kosten zu tun. Eine rein nationalstaatlich orientierte Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Ökologiestrategie wird dabei nicht tragen, nicht einmal die schon in den ersten Schritten unumgängliche europäische Flankierung und Einbettung: weil eine neue Produktions- und Reproduktionsweise letztlich nur eine globale sein kann. Auch das lehrt uns, wenn wir genau hinsehen und zuhören, die Corona-Krise.

Die gesellschaftliche und politische Linke steht daher vor großen Herausforderungen. Dabei steht sie nicht vor der sowieso völlig halt- und sinnlosen Alternative Klassen-oder Identitätspolitik, weil beide nur im Schritt über sie hinaus zur Grundlage einer gesellschaftlichen, ökonomischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Transformation werden können. Es wird um Politiken gehen, in denen Freiheit die Voraussetzung, Gleichheit der Weg und das allseits realisierte Menschenrecht die Bewährung ist. Die Allgemeinheit dieser Verständigung im Grundsätzlichen schließt die mühselige Verständigung über die nächsten Schritte und ein dabei leitendes Sofortprogramm beginnender sozialökologischer Transformation nicht aus, sondern ausdrücklich ein.“

Wer trägt die langfristigen Kosten der Covid-19-Wirtschaftskrise – solidarischer Lastenausgleichsfonds mit einer Vermögensabgabe

Prof. Dr. Rudolf Hickel

Wer trägt die langfristigen Kosten der Covid-19-Wirtschaftskrise – Solidarischer Lastenausgleichsfonds mit einer Vermögensabgabe

Die aktuelle Finanzpolitik hat sich zumindest am Anfang der Corona-Krise als handlungsfähig erwiesen. Unter dem gigantischen Druck der unmittelbaren Folgen der Covid-19-Wirtschaftskrise sind Maßnahmen jenseits des elenden Streits über die Frage mehr Markt/weniger Staat und Relevanz der Schuldenbremse durch den Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden. Bereitgestellt wird gegen den Absturz der infizierten Wirtschaft ein Nachtragshaushalt mit über 156 Mrd. Euro für das laufende Jahr. Absehbare Steuerverluste werden nicht durch Ausgabenkürzungen ausgeglichen, sondern durch den Nachtragshaushalt über die Aufnahme öffentlicher Kredite finanziert. Hinzukommen zusätzliche Ausgaben für Krisenkosten, die den ursprünglichen Sollwert 2020 im Bundeshaushalt um ein Drittel auf den Spitzenwert von 484,5 Mrd. Euro anheben. Staatsschuldenphobie war gestern. Dieser Nachtragshaushalt wird ausschließlich über öffentliche Kredite finanziert. Dabei bleibt es jedoch nicht. Milliardenschwere Schutzschilder werden zu recht durch den Bund und auch die Länder mit den folgenden Schwerpunkten eingerichtet: Verbesserung der Gesundheitsversorgung, Familienunterstützung, Hilfe für kleine Unternehmen, Selbständige und Freiberufler, Schutz für größere Unternehmen der Realwirtschaft mit 600 Mrd. Euro im „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“, steuerliche Hilfen für Unternehmen, generelles Kurzarbeitergeld sowie Miethilfen. Sollte es erforderlich sein, sattelt der Bundesfinanzminister noch ein eigenes Konjunkturprogramm drauf. Die Bundesregierung schätzt derzeit das Finanzvolumen für die beschlossenen Hilfsaktivitäten und Konjunkturprogramme auf 1 200 Mrd. Euro. Das wird bei weitem nicht reichen.

Staatliche Kreditfinanzierung in der aktuellen Wirtschaftskrise alternativlos

Die Frage, wer am Ende die Rechnung bezahlt, birgt neue Sprengkraft. Die Sorge, dass die Superreichen an der Spitze der Vermögenspyramide mal wieder geschont werden, ist groß. Dem muss ein Corona-Sozialvertrag entgegengesetzt werden. Im Mittelpunkt stehen Maßnahmen zur Absicherung der sozial und ökonomisch besonders Betroffenen. Allerdings sind Mitnahmeeffekte etwa großer, kapitalstarker Unternehmen auszuschließen. Einzelhandelsketten wie Adidas, H&M sowie Media/Saturn stehen ausgesetzte Mietzahlungen wegen ihrer Kapitalstärke nicht zu.

Wer aber bezahlt nach der Rückkehr zur Normalität die Rechnung für die massiv angestiegenen Staatsschulden? Zur Abschätzung des Gesamtvolumens sowie zur Verteilung der Finanzlasten wird eine schrittweise Vorgehensweise vorgeschlagen:

In der derzeitigen Phase der tiefen Rezession ist die staatliche Kreditaufnahme zur Finanzierung des aktuellen Nachtragshaushalts und eines dringend erforderlichen Konjunkturprogramms mit ökologischen Investitionsschwerpunkten alternativlos. Dafür sprechen auch die Niedrigzinsen und der ausbleibende Inflationsschub.

Allerdings wird nur ein Teil der durch die aufgelaufenen Staatsschulden im nachfolgenden Aufschwung wieder getilgt werden können.

Noch ist der Verlauf der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung über die Krise hinweg nicht erkennbar. Alles hängt von der Länge der Infektionsphase und dem davon abhängigen Verlauf des Bruttoinlandsproduktes ab. Kommt es zum starken Abschwung und zum nachfolgenden Boom des Bruttoinlandsprodukts (V-Verlauf) oder halten die massiven Produktionsverluste mehrere Monate an (U-Verlauf)?

Am Ende ist zwar innerhalb einer Bandbreite mit hohen konjunkturunabhängigen, strukturellen Defiziten zu rechnen. Die Finanzierung dieser Langfristlasten muss wegen des bereits ausgebrochenen Streites über die sozial angemessene Lastverteilung schnell geklärt werden. Die Gefahr ist groß, dass dieser Überhang an strukturellen Staatsschulden wie in früheren Jahren unter dem Druck der „schwarzen Null“ durch eine Austeritätspolitik mit Kürzungen in den Sozialhaushalten bzw. der Erhöhung von Massensteuern abgebaut werden wird.

Die von der aktuellen Krise sozial Belasteten wären dadurch auch noch über Jahrzehnte belastet. Diese in der Schuldenbremse angelegte Option muss ausgeschlossen werden. Denn nur eine glaubhafte Garantie sozialer Gerechtigkeit stärkt das politische Vertrauen in diesen schwierigen Zeiten und damit auch die Akzeptanz temporärer Einschränkungen des Lebens sowie die unterschiedlich verteilten Einkommensverluste. Auch dürfen angesichts der Klimakatastrophe die Investitionen in den ökologischen Umbau nicht geopfert werden. Dabei hat die Bundesregierung mit ihrem Nachtragshaushalt über 156 Mrd. € für dieses Jahr bereits in punkto Tilgung die Weichen falsch gestellt. 100 Mrd. €, die als nicht schuldenregelkonform erklärt wurden, sollen ab 2023 binnen 20 Jahren abgebaut werden. Zumindest sollte zur Vermeidung einer erneuten Einsparrunde die Tilgungsfrist auf 50 Jahre ausgeweitet werden.

Wer finanziert die längerfristigen staatlichen Kosten der Corona-Katastrophe?

Der Druck, eine akzeptable Lösung zur Finanzierung der Gelder für die Schutzschirme zu finden, ist groß. Im Mittelpunkt stehen die am Ende auf weit über eine Billion € aufgelaufenen Schulden des Bundes, der Länder und der Kommunen. Erinnerungen an frühere Notlagen werden wach.

Der Historiker Heinrich August Winkler sowie Andreas Bovenschulte, Regierungschef im Stadtstaat Bremen, haben unlängst die aktuelle Wucht der Herausforderung mit der Bewältigung der Lasten am Ende des zweiten Weltkriegs verglichen.

Im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes von 1952 wurde ein auf dreißig Jahre angelegter Ausgleichsfonds eingerichtet: Einnahmen aus einer einmaligen Abgabe auf das Vermögen zugunsten der Finanzierung der Ausgaben für Flüchtlinge und Vertriebene aus den Ostgebieten sowie für den Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft wurden umverteilt.

Die wichtigste Finanzierungsquelle war eine einmalige Vermögensabgabe, die allerdings durch die Verteilung über 30 Jahre pro Jahr bei 1,67% lag und angemessen aufgebracht werden konnte. Wenn auch die Dimension gegenüber dem Lastenausgleichsfonds von 1952 geringer ausfällt, lohnt sich auch die Erinnerung an den „Fonds Deutsche Einheit“.

Für die Jahre 1990 bis 1994 wurden die erforderlichen Kredite zur Finanzierung der Wiedervereinigung in diesem Fonds mit einem Planvolumen von 115 Mrd. DM zusammengefasst.

Der durch den Bund, die Länder und die Kommunen mitfinanzierte Fonds konnte nach der Übernahme eines Restbetrags durch den Bund bereits 2019 geschlossen werden. Die zuerst wechselhafte Phase des Solidaritätszuschlags, der erst ab 1995 verstetigt wurde, hat durchaus dem Staat die Finanzierung dieser Fondsmittel erleichtert.

Einmalige Vermögensabgabe für den „Solidarischen Corona-Fonds“

Ein Lastenausgleichsfonds, wie ihn der Bremer Bürgermeister Andreas Bovenschulte mit Blick auf das Nachkriegs-Lastenausgleichsgesetz von 1952 vorschlägt, weist finanzstrategisch und verteilungspolitisch in die richtige Richtung.

Es geht darum, die durch die infizierte Wirtschaft aufgelaufenen Kredite des Bundes, der Länder und der Kommunen in einem bundesweit gemanagten Sondervermögen zusammenzufassen. Hinter den gebündelten Krediten steht die dringend notwendige Finanzierung der medizinischen, sozialen und ökonomischen Schutzschilder.

Der künftige Nutzen liegt in den staatlich aufgefangenen Schadensfolgen. Darüber hinaus wird die Basis für die spätere Normalisierung der Wirtschaft stabilisiert. Vergleichbar mit dem Lastenausgleichsgesetz von 1952 sollte der Corona-Solidarfonds auf mindestens 30 Jahre angelegt werden.

Zur Finanzierung des aufzubringenden Kapitaldienstes werden derzeit zwei Abgaben diskutiert: eine einmalige Vermögensabgabe und ein neu aufgelegter Solidaritätszuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuerschuld.

Auch wegen der strittigen Erfahrungen mit dem bisherigen Soli wird eine einmalige Vermögensabgabe allerdings mit einer zeitlich gestreckten Aufbringung präferiert. Beim Lastenausgleichsgesetz von 1952 lag die Abgabe auf das erfasste Vermögen bei 50%. Im Sinne der Gleichbehandlung wird die Vermögensabgabe ohne Unterschiede auf das Realvermögen (also auch auf Immobilien) und das Geldvermögen erhoben.

Wichtigste Zielgruppe dieser Abgabe sind die privaten Haushalte in der Spitzengruppe der Reichen. Vergleichbare Vorschläge haben Saskia Esken (SPD) und Bernd Riexinger (DIE LINKE) unterbreitet. Dabei wird die Bezahlung der ermittelten Vermögensabgabe wie beim Lastenausgleichsgesetz von 1952 über mehrere Jahre verteilt. Diese einmalige, auf mehrere Jahre verteilte Vermögensabgabe unterscheidet sich von der regelmäßig jährlich zu erhebenden Vermögensteuer.

Die Einnahmen aus der der Not geschuldeten Vermögensabgabe fließt dem Bund zu, der jedoch den Corona-Solidarfonds für alle, durch die Corona-Krise ausgelösten Zusatzkredite auch bei den Ländern und Kommunen öffnet. Die einmalige Vermögensabgabe dient allerdings nur Finanzierung der außerordentlichen Kreditbedarfe infolge der Corona-Pandemie. Die Abschottung des Fonds gegenüber der normalen Finanzpolitik ist gewollt- Damit bleiben die dringlichen finanzpolitischen Themen vor der Corona-Wirtschaftskrise auf der Tagesordnung: Die Finanzierung der öffentlichen Investitionen erfolgt nach der „goldenen Regel“ über die Kreditaufnahme, die sozial gerechte Umverteilung der Steuerlast wird forciert und ökologische Umbauinstrumente wie die CO2-Abgabe werden eingesetzt

  • *Prof. Dr. Rudolf Hickel (Jahrgang 1942) ist Ökonom und Politikwissenschaftler. Zusammen mit anderen Wissenschaftler*innen und Gewerkschafter*innen hat Hickel die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gegründet. Dieser Arbeitsgruppe legte erstmals im November 1975 (kurz nach Verabschiedung des 1. Haushaltsstrukturgesetzes, mit dem der Sozialabbau in der Bundesrepublik eingeleitet wurde) ein „Memorandum für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik“ vor.
    Seit 1977 wird in jedem Jahr in der Woche vor dem 1. Mai ein weiteres Memorandum für eine alternative Wirtschaftspolitik veröffentlicht. Zusätzlich sind zahlreiche Stellungnahmen zu aktuellen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Fragen erstellt worden. Mittlerweile gilt das Memorandum vielfach als „Gegengutachten“ zum jährlichen Gutachten des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (der „fünf Weisen“).

Appell: Geld für Gesundheit statt für Rüstung

„Die Corona-Krise führt uns vor Augen, wie wichtig ein funktionierendes und gut ausgestattetes Gesundheitssystem ist. Jahrelang wurde beim Personal gespart und wichtige Bereiche wurden privatisiert. Angesichts der Corona-Krise und zukünftiger Prävention von Pandemien müssen die Gelder für das Gesundheitswesen massiv erhöht werden. Gleichzeitig gibt die Bundesregierung jedoch Milliarden Euro für Rüstung und Militär aus. Daher fordern wir von der Bundesregierung: Geld für Gesundheit statt für Rüstung!

Betrug der Verteidigungshaushalt 2014 lediglich 32 Mrd. Euro, ist dieser inzwischen bei 45 Mrd. Euro angelangt. Geplant ist gar eine Erhöhung auf bis zu 70 Mrd. Euro. Dies würde der irrwitzigen NATO-Zielvorgabe entsprechen, 2% des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben. Geld, das wir dringend im Gesundheitsbereich und anderen zivilen Bereichen benötigen! Der Bundeshaushalt 2020 verdeutlicht dieses: Die Ausgaben für Verteidigung machen rund 12% (45 Mrd. Euro) aus, die für Gesundheit lediglich 4 % (15 Mrd. Euro).

Statt Geld für Panzer oder Kampfflugzeuge auszugeben, brauchen wir mehr Intensivstationen und vor allem gut ausgebildetes sowie gut bezahltes Personal in allen Gesundheitsbereichen. Sparen wir an der Rüstung und investieren wir in das Leben. Honorieren wir die Arbeit von Pflege- und Klinikpersonal angemessen!

Daher fordern wir zu den bevorstehenden Verhandlungen des Bundeshaushaltes 2021 die Bundesregierung sowie alle Abgeordneten auf:
Die Rüstungsausgaben zu reduzieren und das Geld stattdessen in das Gesundheitswesen zu investieren.“