Eurobonds jetzt! – Statements zur Einführung von gemeinsamen Anleihen in Europa

Eurobonds jetzt! – Statements zur Einführung von gemeinsamen Anleihen in Europa

Die beschlossenen Maßnahmen sind noch immer unzureichend, die Gefahr einer Eurokrise Reloaded nicht gebannt.
Die Risikoaufschläge für Anleihen einzelner Eurostaaten steigen bereits. Dies hätte erheblichen Folgen auch für die deutsche Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger.
Die Debatte um gemeinsame europäische Anleihen (Coronabonds oder Eurobonds) um die Krisenkosten zu bewältigen ist daher noch aktuell. Gemeinsam mit Campact fordert Finanzwende jetzt die Einführung von Eurobonds!
Unterzeichnen Sie den Appell: https://www.finanzwende.de/kampagnen/…
Besuchen Sie die Website! https://www.finanzwende.de/

Bayer und BASF: gefährliche Pestizide

„Die beiden deutschen Agrarchemiekonzerne sind mitverantwortlich für schwere Gesundheitsschäden bei Landarbeiter*innen in Südafrika und indigenen Gruppen in Brasilien.

Die deutschen Agrarchemiegiganten Bayer und BASF gehören zu den vier größten Produzenten von Pestizidwirkstoffen weltweit.

In einer neuen internationalen Studie dokumentieren die Rosa-Luxemburg-Stiftung, das INKOTA-netzwerk und MISEREOR gemeinsam mit dem brasilianischen Netzwerk Campanha Permanente Contra os Agrotóxicos e Pela Vida und der südafrikanischen Organisation Khanyisa: Beide Konzerne vertreiben in Südafrika und Brasilien unter eigenen Marken sowie in Produkten heimischer Hersteller eine Vielzahl von Pestizidwirkstoffen, die in der EU nicht genehmigt sind. Bei Bayer sind es in Südafrika mindestens sieben und bei BASF mindestens vier Wirkstoffe, auf die das zutrifft. In Brasilien vermarkten die beiden Agrarchemiekonzerne jeweils mindestens 12 in der EU nicht genehmigte Wirkstoffe. Sieben der in beiden Ländern auf den Märkten befindlichen Wirkstoffe wurden in der EU aufgrund von ökologischen und gesundheitlichen Gefahren explizit verboten. Es handelt sich hier um ein perfides Geschäft mit Doppelstandards, das unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten abzulehnen ist.

In der Studie werden Fälle beleuchtet, in denen Pestizide von Bayer und BASF eingesetzt wurden und zum Teil zu schweren Vergiftungen und anderen Erkrankungen bei Landarbeiter*innen in Südafrika und indigenen Gruppen in Brasilien geführt haben. Auf Zitrusfarmen in Südafrika haben Vergiftungen beim Sprühen zur Folge, dass Arbeiter*innen im Krankenhaus behandelt werden müssen. In Brasilien werden ganze Dörfer durch das Sprühen von Pestiziden aus Flugzeugen akut vergiftet und eine Vielzahl von Pestizidwirkstoffen gelangt ins Grundwasser. Im Fall einer indigenen Gemeinde in Tey Jusu ist gerichtlich bestätigt, dass die Bewohner*innen aus einem Flugzeug mit einem Produkt von Bayer vergiftet wurden.

Die Autor*innen der Studie kommen unter anderem zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung den Export von in der EU nicht genehmigten Pestizidwirkstoffen verbieten sollte.“

Das kaputte Amerika

Post aus Washington  

Das kaputte Amerika

Eine Kolumne von Fabian Reinbold

17.04.2020

Donald Trump will die USA wieder öffnen, das Land spürt die Folgen der Krise besonders heftig. Schon jetzt zeigen sich Notsituationen, die hierzulande kaum vorstellbar sind. 

In den USA richtet die Corona-Krise ganz andere Verwüstungen an als in Deutschland. Das betrifft nicht nur das Virus, sondern auch die wirtschaftlichen Folgen.

Mehr als 22 Millionen neue Arbeitslose sind es nun binnen vier Wochen. Das ist so, als ob in Deutschland plötzlich sechs Millionen Arbeitsplätze wegfielen. Und in Wahrheit sind das nur diejenigen, die sich in den Bundesstaaten erfolgreich für Hilfen registrieren konnten. Die Zahl verschweigt jene, deren Anträge wegen der massenhaft abgestürzten Websites, der dauerbesetzen Hotlines noch gar nicht verbucht sind. Es haben also noch deutlich mehr Amerikaner ihren Job verloren.

Die eindrücklichsten Fotos sind derzeit die der Schlangen vor den Essensausgaben im Land. Als ich die ersten Bilder sah, Drohnenaufnahmen bei Pittsburgh, hielt ich sie einen Augenblick lang für eine Fälschung.

Doch nun kommen sie von überall, die schweren Karren in Reih und Glied in San Antonio, in kurvigen Schlangen im kalten Minneapolis, Stoßstange an Stoßstange in Florida. Zum Teil ist es apokalyptisch. Als ich die Bilder aus San Antonio sah, der Armen in den großen SUVs, den Pick-ups für 50.000 Dollar, und mich fragte: Wer fährt solche Karren und kann sich kein Essen leisten?

Ich rief Annamaria Lusardi an und sie antwortete: „Tja, so ist das in Amerika.“

Lusardi ist Expertin dafür, wie Menschen mit Geld umgehen. Sie beriet dazu die US-Regierung sowie ihr Heimatland Italien. Sie ist Wirtschaftsprofessorin an der George Washington University in Washington, D.C. und auch 30 Jahre in den USA haben der Italienerin nicht das rollende „R“ rauben können. Lusardi sagt es so: Kredite sind zu leicht zu bekommen, die Amerikaner legen nichts beiseite und da die Autos auf Pump finanziert sind, verraten sie anders als in Europa nichts über Kaufkraft.

Sie bezeichnet viele Amerikaner als „financially fragile“. Die Finanzen sind zerbrechlich. Die Amerikaner sparen nicht, leben, wie man hier sagt, from paycheck to paycheck, auf gut Deutsch: von der Hand in den Mund. Wenn der paycheck wegfällt, bricht alles zusammen.

Und genau das passiert gerade in allen Ecken Amerikas.

Jeder zweite Haushalt, so eine Studie der US-Notenbank, hat keinen Notgroschen beiseitegelegt. Warum das so ist, ist Lusardi noch immer nicht „komplett klar“. Aber wichtig sei: „Seit den Achtzigerjahren sind die Löhne nicht so sehr gestiegen, dafür aber die drei größten Ausgabenposten umso mehr: Wohnen, Gesundheit, Ausbildung.“

Ich denke an diese ganzen harten Gesetzmäßigkeiten Amerikas:

  • Die Uni-Schulden erdrücken ganze Generationen, doch sie wissen, ohne College-Besuch droht ein Leben in prekären Jobs.
  • Einen Job zu haben, heißt hier noch nicht, auch eine Krankenversicherung zu haben. Wer seinen Job verliert, ist meist auch sofort seine Krankenversicherung los.
  • Selbst wer eine hat, kann dennoch Arztrechnungen über Tausende Dollar bekommen.
  • Wer krank ist, geht trotzdem zur Arbeit, weil kaum jemand Lohnfortzahlung im Krankheitsfall genießt.
  • Arbeitslosengeld? Von Staat zu Staat unterschiedlich, gibt es aber nur ein halbes Jahr. Wer bis dahin keinen Job aufgetrieben hat: Pech.

Das Land ist auf Arbeit getrimmt. Wer nicht genügend Geld hat, arbeitet mehr, nebenbei noch ein paar Schichten im Restaurant, noch ein paar Tage Uber fahren. Jetzt, wo man nicht mehr arbeiten kann, funktioniert das System nicht mehr. Auch wenn die Regierung jetzt Schecks schickt (Überstunden bei der Steuerbehörde, weil Trumps Name draufstehen soll), Arbeitslosenhilfe ausweitet, eine zaghafte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für zwei Wochen etabliert.

Kurzarbeit? Arbeitslosengeld, bei dem man zwei Drittel des Lohns bekommt? Not in America.

Und natürlich erwischt es die Afroamerikaner besonders arg. Sie sind ärmer, kränker, seltener krankenversichert, haben öfter Jobs, bei denen kein Homeoffice geht, aber das Ansteckungsrisiko hoch ist: Busfahrer, Einzelhandel, Pfleger. Beispiel Louisiana: Schwarz sind 32 Prozent der Einwohner, ihr Anteil an Toten beträgt aber 60 Prozent.

Ich muss an Madonna denken, die sich vor drei Wochen in ihrer Badewanne filmen ließ. Hockte zwischen Rosenblüten im Wasser und redete darüber, dass das Coronavirus der „große Gleichmacher“ sei, egal ob arm oder reich, es mache alle gleich. (Falls Sie’s mit eigenen Augen sehen wollen, bitte hier.) Ich hoffe, jemand hat ihr die Bilder der Essensausgaben gezeigt.

Ich telefonierte mit der Capital Area Food Bank, einem Zwischenhändler in der Armenspeisung, der 450 Essenausgaben beliefert. 400.000 Menschen im Großraum Washington benötigten diese Essenspenden schon vor der Krise, sagt eine Mitarbeiterin. „Die meisten Leute, die wir versorgen, haben einen Job, der aber nicht genug abwirft.“

Vor einem Jahr standen plötzlich Regierungsangestellte in den Schlangen, als Trump vier Wochen die Bundesregierung lahmlegte (er wollte Geld für seine Grenzmauer erpressen). Die Chefin sagt: Der Bedarf an Essen sei gestiegen, mancherorts um 30 Prozent, mancherorts um 400 Prozent.

Trump hat also recht, wenn er zur Öffnung des Landes sagt: „Wir müssen eine funktionierende Wirtschaft haben.“

Das Problem ist, dass er die Not verschärft hat, indem er wochenlang kleingeredet, Nebelkerzen geworfen, Zeit verschwendet, die Institutionen geschwächt oder gleich ganz gestrichen hat: wie das Pandemie-Büro im Weißen Haus. Es gibt immer noch einen großen Mangel an Tests und damit an verlässlichen Daten.

Und die Krise wird, wie alles, hemmungslos politisiert. Für die einen ist Trump persönlich an allem Schuld. Auf der anderen Seite wüten sie in Trump-Käppis und Fahnen vor dem Kapitol in Ohio wegen der bestehenden Ausgangssperre.

Wenn ich in diesen Wochen auf das Land schaue, sehe ich eine Supermacht nah am Abgrund, taumelnd, um sich schlagend, bisweilen orientierungslos. Ein Land, das den Shutdown tatsächlich nur kürzer verkraften kann als andere. Ich sehe ein kaputtes Amerika.

Hoffnung besteht dennoch: Die amerikanische Hire-and-Fire-Wirtschaft macht auch aus, dass es so rasant wie bergab auch wieder bergauf gehen kann. Dass die US-Konjunktur dank Masse noch einmal die Weltwirtschaft hochzieht. Denkbar ist auch, dass nach einem Wahlsieg im Herbst die Demokraten ihr Versprechen einlösen, das Gesundheitssystem auszubauen.

Es ist möglich, dass es Amerika sein wird, wo ein bahnbrechendes Covid-19-Medikament entdeckt wird, wo das ersehnte Impfmittel zuerst bereitgestellt wird. Es ist wahrscheinlich, dass die digitalen Riesenkonzerne von der US-Westküste etwas austüfteln, das unser aller Leben im nächsten Jahrzehnt prägen wird. Das ist Amerikas Stärke. Doch die Supermacht steht nicht mehr auf stabilen Füßen.

Interessieren Sie sich für US-Politik? Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt über seine Arbeit im Weißen Haus und seine Eindrücke aus den USA unter Donald Trump einen Newsletter. Hier können Sie die „Post aus Washington“ kostenlos abonnieren, die dann einmal pro Woche direkt in Ihrem Postfach landet.

Winfried Wolf: Die Argumente der Coronaleugner

Quelle: Kontext – Ausgabe 473 vom 22.04.2020

Debatte

Von Winfried Wolf

Die Argumente der Coronaleugner

Die Debatte über die Corona-Pandemie wird in linken Kreisen kontrovers, oft auch verbissen geführt. Die Gefahren des Virus werden relativiert oder bestritten oder in einen großen Plan gebettet. Unser Autor unterzieht ihre Argumente einer ernsthaften Prüfung.

1. Das Virus an sich.

Als sich die Corona-Epidemie immer stärker in Europa auszubreiten begann, im Februar und in den ersten zwei Märzwochen, wurde das Virus in linken Kreisen noch vielfach mit einer „etwas heftigeren Grippe“ verglichen. Das hat sich inzwischen aufgrund des drastischen Anstiegs der Todesfälle erledigt und ist von einer anderen Rhetorik abgelöst worden. In der Partei Die Linke wurde die Debatte um demokratische Rechte jüngst mit dem Schlenker eingeleitet: „Unabhängig von der Gefährlichkeit des Corona-Virus, sehe ich die Gefahr …“ Auf „Rubikon“ schrieb Jens Wernicke: „Solange alle an den Killervirus glauben und alles mitmachen, sieht es übel aus…“ Doch was genau die „Gefährlichkeit“ beziehungsweise den Charakter des Killervirus ausmacht – das geht in derlei Debattenbeiträgen, die so auch im wissenschaftlichen Beirat von Attac laufen, meist unter.

Zum Stand 21. April 2020 starben weltweit 175.000 Menschen im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion. Wie schnell sich das Virus ausbreiten kann, haben Virologen dutzendfach erklärt. Die Bundesregierung ließ bereits 2012/2013 in einer Risikoanalyse, die das Robert Koch-Institut (RKI) erstellte, vorrechnen, dass beim Auftreten eines solchen Corona-Virus – dort als „Modi-SARS-Virus“ bezeichnet – „im gesamten zu Grunde gelegten Zeitraum von drei Jahren mit mindestens 7,5 Millionen Toten als direkte Folge der Infektion zu rechnen“ sei (Bundestagsdrucksache 17/12.051, S. 64). Dabei ist logisch, dass die Grundannahmen eines theoretischen Virus‘ – Sterblichkeitsrate, Verbreitungsgrad, Inkubationszeit – nicht völlig identisch sein können mit dem nun tatsächlich auftretenden. Ein engagierter linker Journalismus müsste dennoch fragen, warum die Bundesregierung seither nochmals 120 Krankenhäuser geschlossen, Personal ausgedünnt und das RKI dazu die Klappe gehalten hat.

2. Von Vorerkrankungen und dem Alter der Toten.

Bei einem zweiten Topos in dieser Debatte wird direkt oder indirekt die Todesursache in Frage gestellt oder auf fatale Weise auf „das Alter“ der Corona-Toten verwiesen. Die Plattform „Rubikon“ hat dafür Fulvio Grimaldi aufgetrieben, der kritisiert, es werde nicht „zwischen Todesfällen mit COVID-19 und Todesfällen durch COVID-19 unterschieden“. Der Autor konstatiert, dass es bei vielen der im Zusammenhang mit Corona Gestorbenen „bis zu drei schon vorher vorhandene schwere, ja sogar tödliche Krankheiten, neben einem Durchschnittsalter von über achtzig Jahren“ gegeben habe: „Sie starben an Lungenentzündung, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Kollaps, zu denen dann die Grippe noch hinzukam.“ Aber haben nicht 95 Prozent der Menschen im höheren Alter „Vorerkrankungen“? Kritisieren wir nicht, dass in der Statistik der Straßenverkehrstoten solche nur dann aufgeführt werden, wenn diese binnen 30 Tagen nach einem Straßenverkehrsunfall aus dem Leben schieden? Danach sind es Tote in Folge von Herzinfarkt, Grippe, Diabetes.

Und wie kann es sein, dass ernsthaft das ALTER als eine Todesursache genannt wird – im obigen Zitat direkt, in anderen Fällen indirekt? Dazu schrieb der Schweizer Arzt Prof. Dr. Paul Robert Vogt in seinem bemerkenswerten, humanistisch argumentierenden Beitrag in der „Mittelländischen Zeitung“ vom 7. April 2020: „Mit guter Lebensqualität ein hohes, selbstbestimmtes Alter zu erreichen, ist ein hohes Gut. […] Und es ist das Resultat der Medizin, dass man auch nach drei Nebendiagnosen bei guter Lebensqualität ein hohes Alter erreichen kann. Diese positiven Errungenschaften unserer Gesellschaft sind nun plötzlich […] nur noch eine Last. […] Gewisse Kommentare haben den üblichen Geruch der Eugenik.“

3. Aber Schweden!

Die Zahl der Länder, die eine andere Strategie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wählten, betrug bis vor kurzem noch ein Dutzend. Aktuell sind es nur noch wenige. Weißrussland und Brasilien zählen dazu. Doch damit will man sich als fortschrittlicher Mensch dann doch lieber nicht identifizieren. Auch wenn das Geschwätz, das es in diesem Zusammenhang gibt („eine kleine Grippe“ – Jair Bolsonaro; „eine Psychose“, Alexander Lukaschenko) und die Strategie, die zur Anwendung kommt („Herdenimmunität“) einige Parallelen mit der hiesigen Debatte aufweisen. Es bleibt das „schwedische Modell“ – das immerhin von einer sozialdemokratisch-grünen Regierung zu verantworten ist. Jetzt aber mal ernsthaft! Sind 1.765 Corona-Tote, Stand 21. April, ein Erfolg? Bei 10,3 Millionen Einwohnern? Was würden wir sagen, wenn es hierzulande – korrekt umgerechnet – 14.000 Corona-Tote geben würde (statt, Stand 21. April, 5.024)? Und wie kann es sein, dass in den Nachbarländern Norwegen und Dänemark, deren Bevölkerung jeweils nur ein Drittel so groß wie die schwedische ist, die Zahl der im Zusammenhang mit Corona Gestorbenen nur bei einem Fünftel (Dänemark; 364 Corona-Tote) beziehungsweise ein Zehntel (Norwegen; 181 Corona-Tote) liegt? Wobei diese Länder vergleichbar verfahren wie Deutschland. Doch so genau will man es dann doch nicht wissen.

4. Schuld ist der Gesundheitssektor.

Auf diese Aussage kann man sich als Linker leicht verständigen. Die Krankenhäuser wurden bekanntermaßen kaputtgespart. Dennoch ist das nur eine Teilerklärung. In einem Leserbrief auf den „Nachdenkseiten“ wird zu Recht darauf hingewiesen, dass eine „ungehinderte Ausbreitung bis zur Herdenimmunität von 60-70 % (der Bevölkerung) jedes Gesundheitssystem überfordern und in Monaten Millionen Covid-19-Tote weltweit fordern“ würde. Just solche Zahlen finden sich auch, siehe oben, in der Robert Koch-Institut-Studie aus dem Jahr 2013. Das deutsche Gesundheitssystem sieht aktuell noch stabil aus – doch warum? Vor allem deshalb, weil die Restriktionen, die von den Corona-Relativierern so wortreich beklagt werden, ein nicht zu bestreitendes Resultat hatten: Der Anstieg der Zahl der Infizierten wurde drastisch reduziert.

5. Was ist mit dem Straßenverkehr? Und Geflüchteten?

Verweise dieser Art sind äußerst problematisch. Ja, es gibt diese krasse Ungerechtigkeit der extrem unterschiedlichen Lebenswelten auf dem Planeten. Und ja, es muss das Ziel jeglichen von Humanismus geprägten Handelns sein, sich gegen diese Ungleichheiten aufzulehnen, einen Beitrag zu deren Abbau zu leisten oder zumindest über diese Zustände aufzuklären. Doch ein Aufrechnen, wie es in der aktuellen Debatte bei der Relativierung der Corona-Pandemie stattfindet, ist unsauber. Wir würden auch denjenigen kritisieren, der die tödlichen Folgen des Waffenbesitzes in den USA damit relativiert, dass er auf die nochmals brutaleren Folgen von Waffenbesitz in den brasilianischen Favelas verweist. Und wir würden denjenigen zusammenstauchen, der die 25.000 Straßenverkehrstoten pro Jahr in der EU relativiert, weil es weltweit Jahr für Jahr 400.000 Malaria-Tote gibt. Im Übrigen droht doch die folgende Kombination: In den Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln kann die Corona-Epidemie ausbrechen. Verweisen die Corona-Relativierer dann auch auf Vorerkrankungen? Auf das Alter von Corona-Toten? Darauf, dass das griechische Gesundheitssystem schuld sei?

6. Schutz der demokratischen Rechte.

Dieses Argument ist gewiss gut abzuwägen. Falsch ist jedoch, hier ein Entweder-Oder zu konstruieren, zu behaupten, es gelte konsequent die Grundrechte zu verteidigen. Punkt. Jede Einschränkung der Bewegungsfreiheit sei eine Einschränkung zu viel. Ein elementares Menschenrecht – wohl: das erste Menschenrecht – ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das Recht auf Leben. Dieses Recht wird durch die Pandemie für Millionen Menschen gefährdet. Und der aktuell einzig erhältliche, wirksame Schutz des Lebens dieser Menschen besteht in Einschränkungen bestehender demokratischer Rechte wie dem der Bewegungsfreiheit. Anstatt grundsätzlich die Monstranz demokratische Rechte vor sich herzutragen, muss ein humanistisch geprägter Journalismus darauf abzielen, aufzudecken, wie einseitig die demokratischen Rechte abgebaut werden, welche kapitalen Interessen da durchscheinen: Autohäuser wurden geöffnet, Kitas bleiben geschlossen. Im öffentlichen Leben gilt die 1,50-Meter-Distanz. Am Arbeitsplatz muss oft Schulter an Schulter gearbeitet werden.

7. Es droht das Böse – mindestens Orwell.

In der aktuellen Pandemie erhalten Verschwörungstheoretiker neuen Zulauf. Hinter all dem stecke ein großer Plan. Die WHO werde von Bill Gates finanziert. Das böse Virus stamme aus dem Reich des Bösen schlechthin, aus China. Amazon, Pharma und KI wären am Ende die Sieger.

Das ist platt und falsch. Es waren auch hierzulande die Herrschenden und die Mächtigen, die ein Laissez-faire praktizierten. Viel zu lange. Als die VR China, als Südkorea, als Singapur, als Taiwan mit rigiden Maßnahmen Erfolg hatten, befanden sie, einschließlich des RKI, das sei hier nicht nötig. Sprich, sie erkannten sechs Wochen lang nicht ihre Chance auf Demokratieabbau. Im Gegenteil: Am 15. März mussten diese Ignoranten noch unbedingt relativ demokratische Virenschleuder-Kommunalwahlen in Bayern und in ganz Frankreich durchführen.

Es war dann die schnell ansteigende Zahl der Corona-Toten, die dazu führte, dass endlich die restriktiven Maßnahmen ergriffen wurden. Wer verteidigt denn noch die Bewegungsfreiheit? Es sind Jair Bolsonaro, Donald Trump, Boris Johnson, Mark Rutte und Jörg Meuthen, also rechte Politiker. Sie tun dies nicht aus Verbohrtheit, sondern weil sie die Interessen der Wirtschaft, und zwar der kapitalistischen Wirtschaft, vertreten. In Italien war es der Industriellenverband Confindustria, der sich massiv gegen die Restriktionen wandte und für „Freizügigkeit“ eintrat – und dagegen gab es Streiks der Beschäftigten, die zu Recht, mit Rücksicht auf ihr eigenes Leben und auf das Leben ihrer Familien, die bestehenden Restriktionen verteidigten.

Man schaue sich die Zahlen und Fakten an. Weltweit mussten bislang acht Billionen US-Dollar zur Stützung der Ökonomie ausgegeben werden. Weltweit wurden bisher mehr als 20 Prozent der Werte der an den Weltbörsen gehandelten Konzerne vernichtet. IWF und Weltbank rechnen mit einem Welt-BIP-Einbruch von mehr als vier Prozent, mit einem Rückgang der Wirtschaft in der EU um bis zu zehn Prozent. Die Lufthansa und der Autozulieferer Leoni (mit 100.000 Beschäftigten): beide fast pleite. Boeing: fast pleite. Das soll „Orwell“ oder Finanzdiktatur oder ein „großer Plan“ sein?

Der Knacks als Chance

Die Lage ist zunächst mal die, dass das System der Herrschenden einen massiven Knacks bekam. Dass im Oberstübchen der Gesellschaft massive Verluste entstehen und Kapital vernichtet wird. Dass die Eliten immer neue Rettungspakete schnüren müssen und doch erkennbar kopflos handeln. Dass sie sogar für Arbeitende, für sozial Schwache, für Mieter, für Kleingewerbetreibende Geld ausspucken, das wir vorher in diesen Dimensionen nicht für denkbar gehalten hätten. Klar: Das ist zu wenig! Klar: Sie reichen die fettesten Beträge an die fettesten Kapitalisten weiter. Dennoch: Sie versuchen, den Laden ruhig zu halten, da sie selbst Angst vor sozialen Bewegungen haben, die sich gegen sie richten könnten.

Wie diese Krise enden wird, weiß niemand. Doch in dieser Krise steckt auch eine Chance: Millionen Menschen erkennen, dass die bestehende Wirtschaftsweise fehlgesteuert ist. Dass ein großer Teil des Wirtschaftens (Rüstung, Auto, Flugzeugbau, Luftfahrt, Werbung) unnötig, wenn nicht zerstörerisch ist. Dass ein Umbau („Konversion“) von großen Teilen der Wirtschaft notwendig ist. Dass damit gewaltige Kapazitäten an gesellschaftlicher Arbeit frei würden – für Arbeitszeitverkürzung, höhere Einkommen der durchschnittlichen Bevölkerung, für sinnvolle Investitionen in Energiewende, Verkehrswende, Kultur und Bildung. Dass Solidarität neu entwickelt und eine neue solidarische Gesellschaft, in der Mensch, dessen Gesundheit, der Schutz von Umwelt und Klima im Zentrum stehen, anzustreben sind. Um ein solches Denken zu beflügeln, sollten wir gehörig Gehirnschmalz investieren.

Winfried Wolf legt zum 1. Mai die neue Publikation „Faktencheck: CORONA – Die Solidarität in den Zeiten der Pandemie“ vor. Unterstützt wird sie u. a. von Sabine Leidig, Heike Hänsel, Tom Adler, Werner Sauerborn und Volker Lösch. Sie kann jetzt schon bestellt werden unter faktencheckcorona@gmail.com. Mehr zum Inhalt hier.