Wilhelm Heitmeyer: „In der Krise wächst das Autoritäre“

ZEIT online – 13.4.2020

Interview: Christian Bangel

Wilhelm Heitmeyer:„In der Krise wächst das Autoritäre“

Verändert die Corona-Krise die Gesellschaft zum Guten? Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zweifelt. Wenig deute darauf hin, dass nun die harten Fragen verhandelt würden.

Wilhelm Heitmeyer, 74, ist einer der bedeutendsten deutschen Soziologen. Er war Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld von 1996 bis 2013. Unter seiner Federführung entstand die Reihe „Deutsche Zustände“, die von 2002 bis 2011 jährlich den Stand der Diskriminierung gegenüber Juden, Muslimen, Nichtweißen, Homosexuellen, Obdachlosen und anderen Gruppen untersuchte. Heitmeyer entwickelte den Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und gab der Öffentlichkeit damit ein wichtiges Erkenntnisinstrument in die Hand. Er arbeitet heute als Forschungsprofessor. Sein aktuelles Buch ist „Autoritäre Versuchungen“. Im Herbst erscheint „Rechte Bedrohungsallianzen“ bei Suhrkamp.

ZEIT ONLINE: Herr Heitmeyer, wie geht es Ihnen?

Wilhelm Heitmeyer: Ich bin zu Hause. Im Institut sind alle im Homeoffice. Mensen, Cafeteria und so weiter, das ist alles weitgehend dicht. Man kann bestenfalls seine Post abholen, und das war’s.

ZEIT ONLINE: Sie wirken recht unbeeindruckt.

Heitmeyer: Naja, das sieht nur so aus. Außerdem bin ich privilegiert. Wir wohnen in einem Randbezirk von Bielefeld in einem Haus mit einem großen Garten in einem Waldgrundstück. Da kann man es schon aushalten.

ZEIT ONLINE: Dabei heißt es immer, diese Krise sei eine, die alle gesellschaftlichen Gruppen betrifft.

Heitmeyer: Ja und nein. Eine Krise im soziologischen Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass erstens die normalen Routinen nicht mehr funktionieren und zweitens die Zustände vor dem Eintritt der Ereignisse nicht wieder herstellbar sind. Ein solches Ereignis erzeugt massive Kontrollverluste.

ZEIT ONLINE: Was auf Corona zweifellos zutrifft.

Heitmeyer: Ja. Corona ist sogar eine besondere Krise, sie macht nicht Halt vor sozialen Klassen. Es gab vor Corona auch schon 9/11, Hartz IV, die Finanzkrise, die Ankunft der Geflüchteten, die aber jeweils für ganz unterschiedliche Milieus verunsichernd wirkten und in ihren Auswirkungen zeitlich begrenzt waren. Und doch gibt es auch in der Bewältigung dieser Pandemie schon jetzt massive Klassenunterschiede. Wir in unserem Haus am Wald erleben eine völlig andere Realität als eine Familie, die zum Beispiel in Berlin-Marzahn oder in Köln-Chorweiler mit drei Kindern in beengten Verhältnissen wohnt. Die soziale Ungleichheit wirkt sich massiv aus, ja, soziale Ungleichheit zerstört Gesellschaften.

ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie von der Nach-Corona-Zeit?

Heitmeyer: Corona ist ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit. Da sind einerseits die psychischen Beschädigungen, die das Virus hinterlässt und die erst nach der Aufhebung der Kontaktbeschränkungen sichtbar sein werden. Und es sieht so aus, als würde eine tiefreichende wirtschaftliche Rezession mit weitreichender Arbeitslosigkeit auf uns zukommen. Die Folgen dürften soziale Desintegrationen und Statusverluste sein. Also weitere Kontrollverluste.

ZEIT ONLINE: Auf welche Reaktionen der Menschen müssen wir uns einstellen?

Heitmeyer: Über die gegenwärtigen Verarbeitungsformen wissen wir noch zu wenig. Aus bisheriger Forschung kennen wir einige Formen. Im Negativen sind Vertrauensentzug gegenüber der Politik oder die Einforderung von Etabliertenvorrechten möglich, nach dem Motto: Wir zuerst! Dann ist es nicht weit bis zum „Deutsche zuerst“. Herr Höcke von der AfD hat ja schon vor längerer Zeit von großen Remigrationsprojekten gesprochen, die mit „wohltemperierter Grausamkeit“ vorangetrieben werden sollen. Denkbar ist auch die Immunisierung nach der Art eines „Weiter so“, ohne dass man sich um die sozialen Folgen kümmert. Und es gibt natürlich quer über die Milieus Schuldverschiebungen, wie sie in Verschwörungstheorien erzählt werden.

Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden

ZEIT ONLINE: Kommt jetzt deren große Zeit?

Heitmeyer: Es gibt jedenfalls einen Zusammenhang zwischen Kontrollverlust und der Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Und da die Kontrollverluste dieser Tage nun wirklich breit gestreut sind, dürften sie größere Reichweite bekommen. Die Frage ist: Welchen sichtbaren Gruppen schiebt man die Schuld zu, wo der Virus doch unsichtbar ist? Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden. Im rechtsextremen Milieu ist schon einiges unterwegs.

ZEIT ONLINE: Gibt es auch ermutigende Prozesse? Was ist mit den vielen Menschen, die gerade zum Beispiel Älteren helfen?

Heitmeyer: Auch das gehört zu den möglichen Verarbeitungsformen. Es ist ja jetzt auch eine spannende Frage, ob und wie sich möglicherweise eine neue gesellschaftliche Solidarität entwickelt – oder eben auch nicht.

„Rechtspopulismus ist völlig ein irreführender Begriff“

ZEIT ONLINE: Was prognostizieren Sie?

Heitmeyer: Ich rate zur Nüchternheit. Man kann diese Solidaritäten, die jetzt häufig in beruflichen Leerlaufzeiten stattfinden, nicht einfach dauerhaft fortschreiben. Zumal, wenn die Zeit der Menschen bald wieder vollgefüllt sein wird mit Büroarbeit und anderen Tätigkeiten. Man hört und liest da zurzeit viel Gesellschaftsromantik, die schnell in große Enttäuschungen mit schlimmen Folgen einmünden kann. Ich erinnere an die anfängliche Euphorie zu Zeiten der Flüchtlingsbewegung im Herbst 2015 und das, was danach geschah.

Die harten Fragen lauten: Werden sich ökonomische Strukturen ändern oder werden die bisherigen sich weiter verhärten? Und natürlich: Werden die aktuellen Einschränkungen unserer Freiheit vollständig wieder verschwinden oder werden neue Kontrollregime auf Dauer eingerichtet, nur mit anderer Begründung?

ZEIT ONLINE: In Europa zeichnet sich als Folge der Corona-Krise eine Stärkung des Nationalen ab.

Heitmeyer: Das konnte man schon länger vor Corona sehen. Da reicht ein Blick auf die politische Landkarte. Die Kraft dieses neuen Nationalismus zeigt sich auch daran, dass die EU-Staaten unabhängig voneinander ihre Grenzen geschlossen haben. So eine Dynamik kommt zweifelhaften Vorreitern wie Orbán in Ungarn sehr gelegen. Er nutzt das jetzt zu einer fast uneingeschränkten Ausdehnung seiner Macht zur autoritären Kontrolle der Gesellschaft. Die EU finanziert eine formaldemokratisch verbrämte Diktatur in Europa.

Ich bin insgesamt nicht optimistisch

ZEIT ONLINE: Geht die Zeit der offenen Grenzen in Europa zu Ende?

Heitmeyer: Natürlich ist es ein Hoffnungsschimmer, dass diese Nationalismen auch durchbrochen werden, etwa wenn Corona-Patienten in andere Länder verlegt werden, um dort in Krankenhäusern gepflegt werden zu können. Aber dies sind keine systemischen Entscheidungen, sondern humanitäre Gesten. Ich bin insgesamt nicht optimistisch. Nicht nur zwischen Ost- und Westeuropa hat sich eine ungute Zweiteilung in den Vorstellungen von offener Gesellschaft und liberaler Demokratie entwickelt.

ZEIT ONLINE: Weil in Osteuropa ein autoritäres, nationalistisches Moment weiter verbreitet ist?

Heitmeyer: Ja. Es ist zu befürchten, dass sich dieser autoritäre Nationalradikalismus – Rechtspopulismus ist völlig ein irreführender Begriff – in den Ländern des Ostens weiter verfestigt. Bevor man darüber hinweg geht, sollte man bedenken, dass Orbán auch ein Vorbild für die deutsche Version dieses autoritär-nationalen Radikalismus ist, also die AfD.

ZEIT ONLINE: Rechtsextremismus und Rassismus sind mit Corona wahrscheinlich aus dem Fokus vieler Menschen verschwunden. Glauben Sie, diese Aufmerksamkeit, wie wir sie nach Halle und Hanau erlebten kommt noch mal wieder?

Heitmeyer: Das ist alles nur zeitweise überdeckt. Die Rechten leiden am Aufmerksamkeitsverlust. Aber die Ursachen sind ja nicht verschwunden. Natürlich hängt es auch an den Medien und daran, ob sie die anderen Dramen in der Gesellschaft vergessen.

ZEIT ONLINE: Aber im Augenblick hat man den Eindruck, dass die deutschen Rechtsradikalen sich weitgehend zurückhalten.

Heitmeyer: Die AfD ist derzeit gelähmt von der Beobachtung durch den Verfassungsschutz und ihren inneren Konflikten. Außerdem hat in Krisen immer die Regierung die Deutungsmacht. Dagegen kann die AfD selbst mit Tabubrüchen nichts ausrichten. Zumal das wahrscheinlich in der heutigen Situation auch nicht gut ankommen würde.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet die Selbstauflösung des rechtsextremen Flügels?

Heitmeyer: Es wäre völlig falsch, davon irgendeine Art von Politikveränderung in der AfD zu erwarten. Nach meiner Einschätzung wird der Flügel daraus gestärkt hervorgehen und zugleich weniger greifbar sein.

„Rechtes Eskalationskontinuum“

ZEIT ONLINE: Erleben wir also gerade nur eine Ruhepause vor dem Rechtsradikalismus?

Heitmeyer: Nur wenn man sich allein auf die AfD bezieht. Wir haben es aber im rechten Spektrum mit einem Eskalationskontinuum zu tun. Die abwertenden Einstellungsmuster in der Bevölkerung gegenüber schwachen Gruppen sind ja nicht mit der Corona-Krise einfach weg.

ZEIT ONLINE: Würden Sie das genauer erklären?

Heitmeyer: Es gibt ein rechtes Eskalationskontinuum, das aus fünf Elementen besteht. Es beginnt mit der Abwertung und Diskriminierung von Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit – also Juden, Muslime, Homosexuelle, Obdachlose, Flüchtlinge. Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung schafft Legitimation für die AfD, die das politisch in Parolen verdichtet und auf die Tagesordnung hebt. Die AfD schafft ihrerseits wiederum Legitimationen für rechtsextreme Milieus, indem sie Begriffe wie „Umvolkung“ oder „der große Austausch“ in die Welt setzt und mit Untergangsfantasien operiert. Diese systemfeindlichen Milieus operieren zum Teil schon mit Gewalt und geben wieder Legitimationen an militante Zellen, die konspirativ operieren – Gruppen wie „Revolution Chemnitz“ oder „Freital 360“. Die Gruppen werden immer kleiner und immer gewalttätiger, bis hin zu rechtsterroristischen Zellen oder Einzeltätern.

ZEIT ONLINE: Es gibt also eine Linie von der AfD zum Attentäter von Hanau?

Heitmeyer: Es ist viel problematischer durch dieses Eskalationskontinuum. Daraus entstehen – so nennen wir das – rechte Bedrohungsallianzen. Wenn man die Gefahren für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie ansatzweise in den Griff bekommen will, muss man das ganze Kontinuum im Blick haben und darf sich nicht nur auf die AfD konzentrieren.

„Wie wenig und langsam die Institutionen lernen“

ZEIT ONLINE: Legitimieren eigentlich auch Bürgerliche die Rechten, wenn sie von „Ökodiktatur“ und Ähnlichem sprechen?

Heitmeyer: Ja, diese Leute gibt es zuhauf. Dabei gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Politiker diese Begriffe durch Übernahme entschärfen können. Im Gegenteil, das dient nur der Normalisierung in der breiten Bevölkerung. Und solche Normalisierungsprozesse sind gefährlich, denn alles, was als normal gilt, kann man nicht mehr problematisieren. Das ist genau die Taktik der AfD, an der ja auch Markus Söder bei seiner letzten Landtagswahl so grandios gescheitert ist, als er versuchte, die AfD rechts zu überholen.

ZEIT ONLINE: Aber warum machen es dann Politiker immer wieder?

Heitmeyer: Sie zielen auf die rohe Bürgerlichkeit in den Mittelschichten. Hinter einer glatten Fassade und geschliffenen Worten verbirgt sich bei manchen ein Jargon der tiefen Verachtung gegenüber schwachen Gruppen. Da verschwimmen auch Grenzlinien zwischen Parteien um der geschichtsvergessenen Macht willen, wie in Thüringen. Die AfD ist auf die Destabilisierung gesellschaftlicher Institutionen ausgerichtet. Sie will ihre Leute in der Polizei, in der Bundeswehr, in der Kultur, in der politischen Bildung, in Gewerkschaften platzieren. Das sie in Thüringen so schnell die Systemebene bei der Wahl des Ministerpräsidenten erreichte, hätte ich vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten.

Geld und Applaus werden das kurzfristig nicht beheben“

ZEIT ONLINE: Wenn Sie von den Gründen für politische Radikalisierung sprechen, nennen Sie oft Anerkennungsverluste. Jetzt erleben wir, dass jeden Tag Menschen applaudiert wird, die bisher eine marginale Rolle gespielt haben.

Heitmeyer: Das ist in der Tat neu. Und der Respekt für diese Menschen ist natürlich verdient. Ich glaube aber, dass er mehr mit Angstreduktion der Klatschenden zu tun hat. Und er wird nicht flächendeckend die Anerkennungsverluste aufwiegen, die insbesondere in Ostdeutschland um sich gegriffen haben. Viele Menschen fühlen sich seit Jahrzehnten von der Politik nicht mehr wahrgenommen. Dieses Gefühl reicht tiefer. Und Geld und Applaus werden das kurzfristig nicht beheben.

ZEIT ONLINE: Ist es undenkbar, dass Corona einen ökonomischen und politischen Paradigmenwechsel auslösen wird, der die Rechtsradikalen schwächt?

Heitmeyer: Wer sollte denn der Treiber eines solchen Paradigmenwechsels sein? Aktionäre? Manager?

ZEIT ONLINE: Eine gesellschaftliche Mehrheit. Warum soll es nicht mehr Anerkennung und Zusammenhalt zwischen den sozialen Gruppen geben? Kontrollgewinne!

Heitmeyer: Das wäre wünschenswert, aber mindestens zwei Punkte sprechen dagegen. Erstens hat der globale, anonymisierte Finanzkapitalismus absolut kein Interesse an gesellschaftlicher Integration und damit an sozialen Anerkennungsprozessen. Solange sich da grundsätzlich nichts ändert, sehe ich auch keine sozialen Veränderungen kommen. Nach der Krise wird es doch eher ein brutales Aufholrennen für die verpassten Renditen geben. Dann dürften sehr schnell wieder umstandslos die Kriterien von Verwertbarkeit, Nützlichkeit und Effizienz gelten – nicht nur bei der Herstellung von Waschmaschinen, sondern auch in der Bewertung von Menschen.

ZEIT ONLINE: Aber sogar in Davos wird doch inzwischen gesagt, man muss wieder die Mittelschichten stärken, weil der Rechtsradikalismus auch den Finanzkapitalismus bedroht.

Heitmeyer: Das sind Absichtserklärungen auf Kongressen, aber ich sehe bisher keine Strukturveränderungen. Der zweite Punkt ist: Die Anerkennungsprozesse, die jetzt den Krankenschwestern und den Pflegern entgegengebracht werden, sind wunderbar. Sie sind bewundernswert und beruhigend. Aber erst das Langfristige ist strukturbildend. Und ich bezweifle, dass das lange anhalten wird. Wenn die Krise vorbei ist und Milliarden für die Stabilisierung der Wirtschaft ausgegeben sind, wird sich die Frage stellen, woher dann noch das Geld für die finanzielle Anerkennung der gerade gefeierten Helden und Heldinnen kommen soll. Ich bin sehr skeptisch. Aber ich hoffe die Skepsis irgendwann mal zu den Akten legen zu können.

„In der Krise wächst das Autoritäre“

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie?

Heitmeyer: Ich habe immer wieder erlebt, dass politische und ministerielle Institutionen kein Gedächtnis haben. Wie wenig und langsam sie lernen. Wie schnell hat man zum Beispiel die ganzen Bekundungen nach den Morden des NSU vergessen? Das ist ritualisiert worden und hat doch kaum Konsequenzen gehabt. Und man kann eine ganze Reihe von anderen Beispielen nennen. Ich würde mir wünschen, dass das anders würde, denn gerade von dieser sozialen Anerkennungsfrage, die Sie erwähnten, hängt unglaublich vieles ab für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Und ob sich autoritäre Versuchungen ausbreiten, die den Menschen die Wiederherstellung von Kontrolle durch Ausgrenzung der „anderen“ versprechen. In der Krise wächst das Autoritäre.

ZEIT ONLINE: Institutionen bestehen aus Menschen.

Heitmeyer: Natürlich, aber auch aus Regeln und Mechanismen. Die politischen und staatlichen Institutionen haben ja ein Eigenleben, das vor allem auf Bestandserhaltung ausgerichtet ist. Da ist ja nicht nur der Politiker, der sagt, dass die Krankenschwestern ab jetzt viel mehr Geld haben müssen. Vieles, was jetzt von den führenden Personen als Lehre aus der Krise genannt wird, wird von den Mechanismen der Institutionen zermahlen werden.

ZEIT ONLINE: Täuscht das, oder wirken Sie immer noch ziemlich unbeeindruckt von der Krise?

Heitmeyer: Ich bin überhaupt nicht unbeeindruckt. Aber ich sehe den großen Paradigmenwechsel nicht. Ich fürchte, diese schwärmerische Gesellschaftsromantik dürfte an den verhärteten Strukturen des Finanzkapitalismus und dem Kontrollzuwachs der politischen Institutionen zerschellen.

Die Rechtspopulisten und die Medien

Kontext, Ausgabe 471

Von Anna Hunger und Josef-Otto Freudenreich – 08.04.2020

Die Grenzen verschwimmen

Ist das jetzt ein Skandal, wenn der SWR-Intendant mit der rechten „Jungen Freiheit“ spricht oder ein Moderator bei der „Achse des Guten“ mitmischt? Nein. Da scheint nur etwas normal, was nicht normal sein dürfte.

Vor vier Jahren durfte die AfD noch nicht mit am Tisch sitzen. Nicht mit Kretschmann, Schmid, Dreyer und Klöckner. Sie alle sagten: In unserer Elefantenrunde hat diese Partei nichts zu suchen. Das war vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Und der SWR nickte. Die Rechtspopulisten blieben außen vor.

Linker Staatsfunk hieß es damals bei der AfD. Ihrem Frontmann Alexander Gauland erschien der öffentlich-rechtliche Rundfunk als „Umerziehungs-TV“, dem er gerne die Gebühren entziehen würde. Der Ex-CDU-Mann bevorzugt ein anderes Medium: Die „Junge Freiheit“ (JF), 1986 in Freiburg gegründet, Sprachrohr der Neuen Rechten und Brücke vom Konservatismus zum Rechtsextremismus. „Wer die AfD verstehen will“, sagt Gauland, „muss die JF lesen“. Die Wochenzeitung gilt auch als Ideenlabor seiner Partei.

Vier Jahre später empfängt Kai Gniffke, der neue SWR-Intendant, einen Journalisten der JF in seinem Büro zum eineinhalbstündigen Gespräch. Daraus wird ein langes Interview, erschienen am 27. März und mit der Überschrift versehen: „Ich wünsche mir das Vertrauen der Bevölkerung“. Rechts neben ihm der Kopf von Wolfgang Wodarg, der in Corona-Zeiten eine gewisse Berühmtheit als Querulant erlangt hat.

Gniffke will einfach mit allen ins Gespräch kommen

Das Gespräch beginnt mit der steilen Frage: „Herr Professor Gniffke, die Spaltung unserer Gesellschaft vollzieht sich offensichtlich inzwischen an der Frage nach der AfD“. Das relativiert der promovierte Politikwissenschaftler mit dem Hinweis, dass auch Tradition und Moderne, Stadt und Land, Alt und Jung eine Rolle spielten. Arm und Reich, Kapital und Arbeit erwähnt er nicht. Aber alle sollen miteinander ins Gespräch kommen.

Das muss sich ein ARD-Intendant natürlich immer wünschen, auch wenn, wie Gniffke auf Kontext-Anfrage betont, die politische Ausrichtung dieser Zeitung „nicht dem eigenen Kompass entspricht“. Der 59-Jährige ist SPD-Mitglied. Schwierig ist eher das Organ, das eine andere Vorstellung von jenem Volk hat, das der SWR-Chef gewinnen will. Nach seines Befragers Einschätzung werden AfD-Wähler diskriminiert, ihre Vertreter nicht in ausreichender Zahl in Talkshows eingeladen beziehungsweise viel häufiger Opfer von Gewalttaten als jene von der „etablierten Seite“.

Kein Thema ist der Auftritt der baden-württembergischen AfD-Politiker Stefan Räpple und Dubravko Mandic vor dem Funkhaus in Baden-Baden am 4. Januar dieses Jahres, wo sie die SWR-JournalistInnen „aus den Redaktionsstuben vertreiben“ wollten. Und dies sei „erst der Anfang des Sturms“, ließ der Freiburger Anwalt Mandic wissen. Später sollte er sich dann für seine Rede entschuldigen, die SWR-Verwaltungsratschef Hans-Albert Stechl „von Hass und Hetze“ geprägt sah. Es hätte, so Mandic, der Eindruck entstehen können, er wolle seine Ziele „gewaltsam erreichen“. Ebenfalls unbesprochen bleiben die rechten Demonstranten vor dem Kölner WDR-Funkhaus, die Intendant Tom Buhrow (mit)bewogen haben dürften, die Causa „Oma Umweltsau“ mit einer flinken Distanzierung von seinen eigenen RedakteurInnen zu erledigen.

Im Intendantenbüro scheint Kreide versteckt

Auch Gniffke sind diese Vorgänge nicht verborgen geblieben. Aber er greift sie nicht auf. Schwierig eben, wenn man alle und alles verstehen will. „Das Opfernarrativ einer Partei zu betreiben ist falsch“, merkt er an, und das ist schon das Höchstmaß an Angriffslust. Der frühere Tagesschau-Chef, einst als Rauhbein wahrgenommen, hat in seinem neuen Büro offenbar eine Kiste Kreide versteckt, die er bei Bedarf auspackt. Meinungen „respektvoll austauschen“, allen Seiten „Raum geben“, „fair und unvoreingenommen“ berichten – das ist der neue Sprech. Spätestens hier dürfte der JF-Leser weggenickt sein.

Für das „Zentralorgan am rechten Rand“ (Die Zeit) ist letzteres nicht existenziell. Zum einen wächst die Auflage, entgegen dem Branchentrend, auf den Höchststand von 30.000, zum anderen hat sie mit Gniffke wieder gezeigt, wie es geht: mit Namen aus dem anderen Lager Liberalität vorgaukeln. Das verbessert das Image, Beatrix von Storch, Götz Kubitschek und Alice Weidel sind dann leichter zu ertragen. Auch für den Verfassungsschutz (VS), der die „Junge Freiheit“ über Jahre beobachtet und 2006 das Beobachten eingestellt hat. Bestand hat, so weit bekannt, nur der Beschluss des SPD-Bundesvorstands von 2005. Er besagt , dass es für die „Junge Freiheit“ keine Beiträge oder Interviews geben soll.

Auf die Kontext-Frage, ob das Interview wirklich sein musste, antwortet Gniffke mit einem eindeutigen Ja. Sein Ziel sei es, „in Dialog mit der ganzen Gesellschaft zu gehen“, der Intendant einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt könne ein solches Gesprächsangebot „nicht verweigern“. Warum eigentlich nicht?

Ein schießwütiger Moderator mit breiter Streuung

Ein weiterer bemerkenswerter Vorgang spielt ein paar Etagen tiefer im Radio. Dort gehört Burkhard Müller-Ullrich zum Moderatoren-Team des SWR2 Forum, das in einem 45-Minutenformat „Orientierungswissen“ bieten möchte. Alle wichtigen Themen würden hier verhandelt, verspricht der Sender – „so war es im antiken Rom, so praktiziert es das Kulturprogramm SWR2“.

Der freie Kulturjournalist und Medienkritiker Müller-Ullrich, 63, ist ein vielseitiger Mann, der mit seinen Beiträgen von der linksliberalen „Frankfurter Rundschau“ bis zur „Welt“ bereits zahlreiche deutschsprachige Titel und Rundfunkanstalten abgedeckt hat. Neben dem SWR arbeitet er auch für den „Deutschlandfunk“. Beim Autorenclub PEN ist er ausgetreten, weil der Schriftstellerverband beim bundesweiten Vorlesetag der Stiftung Lesen in Schulen und Kindergärten partout keine AfD-Politiker mitmachen lassen wollte. „PEN wollte die Erlaubnis für das Lesen und Vorlesen von Büchern vom Parteibuch der Lesenden und Vorlesenden abhängig machen. Und für AfD-Mitglieder sollte es keine Lese-Lizenz geben“, beklagte sich Müller-Ullrich auf Henryk M. Broders Populistenblog „Achse des Guten“ und zog die Konsequenz: „Ich bin dann mal weg.“

Mitglied im „Action Shooting Club“, einer Schießgesellschaft, die „Geselligkeit und die Kameradschaft“ pflegt, ist er geblieben. Schießen scheint eine besonders wichtige Konstante in Müller-Ullrichs Leben zu sein. Sein Twitterprofil ziert die Selbstbeschreibung „Dieselfahrer. Waffenbesitzer. Lufthansa-Senator“. Letzteres wird man erst, wenn man jährlich mindestens 100 000 Statusmeilen sammelt, der Zusatz „I wanna be banned from Twitter“ beschreibt schon mal die Richtung, in die er sich bewegt. Seit Neuem macht er täglich mit „Indubio“ (Im Zweifel) für Broders „Achse des Guten“ einen Podcast. „Wenn er mal mit Worten nicht trifft, dann nimmt er seine Walther PPQ Kaliber .45s+w“, steht dort in seinem Autorenprofil.

Broder ist bekanntlich der Meinung, Öffentlich-Rechtliche seien Staatsfunk und würden zu größten Teilen nur Schrott und Propaganda senden. Die GEZ hat er einmal als „Gestapo light“ bezeichnet. Die Frage an Müller-Ullrich, wie man sich denn persönlich durch diesen Schlamassel bewegt, also zwischen über Zwangsgebühren honorierte Aufträge für gleich zwei öffentlich-rechtliche Anstalten und Broder, möchte er nicht beantworten.

Dabei ist das für Müller-Ullrich eine echte Win-Win-Situation, sozusagen Cross-Promotion für Verächter der Anstalten: In der Sendung „Hilflose Helfer – Wird unser Medizinsystem zum Notfall?“ im SWR2-Forum vom 23.3.2020 war der Allgemeinmediziner Gunter Frank zu Gast. Seit 2013 schreibt er immer mal wieder für die „Achse des Guten“. Zur Zeit veröffentlicht er dort den regelmäßigen „Bericht zur Coronalage“ – und weiß natürlich viel besser als alle anderen, wie man politisch, wirtschaftlich und medial mit Corona umgehen müsste.

200 Meter unterm Flughafen steht das Militär

Auch der ehemalige Medien-Professor Norbert Bolz ist immer wieder zu Gast in Müller-Ullrichs SWR2-Forum. In der Sendung „Das Ende der Vernunft: Wie das Corona-Virus uns entmündigt“ vom 6.4.2020 beispielsweise. Bei der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung sprach Bolz vergangenes Jahr über die überall herrschende Meinungsdiktatur. Bemerkenswert auch sein Auftritt bei der Wissensmanufaktur in Walsrode, die mit der Ex-Tagesschau-Ex-Kopp-Nachrichten-Moderatorin Eva Herman ein in Verschwörungskreise prominentes Gesicht präsentiert.

Anmoderiert wird sein Vortrag von Robert Stein, einem „Urgestein in der alternativen Medienszene“ und Moderator von NuoVisoTV, einem Kanal, der auch den skurrilsten Theorien Raum gibt. Besonders hübsch ist eine Folge mit dem Verschwörungstheoretiker Peter Denk. Von einem guten Freund, der einen Bekannten hat, der am Flughafen Stuttgart für Aufzüge zuständig ist, weiß er das Folgende: Während einer Wartungsarbeit an einem Aufzug kam es zu einer Fehlfunktion und plötzlich befand sich der Kumpel vom Freund von Denk 200 Stockwerke unterm Stuttgarter Flughafen. „Tür ist aufgegangen: Militär.“ Das nur als kurzer Schwenk durch die Blase, in der sich Norbert Bolz hier bewegt.

Auch in Müller-Ullrichs Podcast bei der „Achse des Guten“ ist er präsent. In der Folge „Systemvertrauen unterm Angstregime“ philosophiert Bolz über die „hypersensible Weltgesellschaft“ heutzutage, „in der jeder Kranke, jeder alte Mann, der da keine Luft mehr bekommt und nicht beatmet werden kann, zum Weltereignis aufgeblasen wird von den Massenmedien“.

Auf Anfrage, wie man mit einem schießwütigen „Achgut“-Autor wie Burkhardt Müller-Ullrich umzugehen gedenke, der seine „medienkritischen“ Kumpels aus dem Broder-Umfeld zu Diskussionen im öffentlich-rechtlichen Hause einlädt, mag der SWR keine Stellung nehmen.

Appell an Mitglieder des Verteidiungsausschusses: gegen die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge für den Atomwaffeneinsatz stimmen!

Liebe Engagierte gegen die weitere Aufrüstung,

Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbaurer hat angekündigt im ersten Quartal 2020 eine Entscheidung über die Tornado-Nachfolge zu treffen.

Diese neuen Flugzeuge sollen auch für den Atomwaffeneinsatz zertifiziert werden. Das wollen wir verhindern!

Noch können wir diese Entscheidung beeinflussen – mit eurer Unterstützung. Deswegen müssen wir jetzt an die Mitglieder des Verteidigungsausschusses schreiben.

Bitte unterstützt uns und schreibt eine E-Mail an möglichst viele Abgeordnete des Ausschusses. Wenn es Abgeordnete aus eurem Bundesland oder Wahlkreis gibt, hat eure Stimme natürliche besondere Bedeutung.

Eine Liste mit den Kontaktadressen findet ihr hier.

Eine Muster-E-Mail haben wir euch auch schon vorbereitet. Natürlich wäre es toll, wenn ihr euren persönlichen Bezug einbaut oder eure eigenen Worte nutzt.

Danke für eure Hilfe!

Anne und das Team von ICAN Deutschland


Mustertext

Sehr geehrte/r Herr/ Frau – Name -,

das Verteidigungsministerium will in den kommenden Wochen eine Entscheidung zur Nachfolge für das Kampfflugzeug Tornado erwirken. Als Mitglied des Verteidigungsausschusses haben Sie bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle. Da der Tornado das einzige Trägersystem für die in Rheinland-Pfalz stationierten Atombomben der nuklearen Teilhabe ist, ist die Anschaffung der Kampfflugzeuge nicht nur eine finanziell weitreichende Entscheidung, sondern auch von langfristiger strategischer Relevanz für Deutschland und Europa. Die Modernisierung des nuklearen Trägersystems, sowie die geplante Stationierung von neuen B61-12 Atombomben in Büchel würden die erste nukleare Aufrüstung in Deutschland seit Ende des Kalten Krieges darstellen.

Nukleare Aufrüstung in Deutschland ist jedoch ein fatales Zeichen an die Staatengemeinschaft. In einer Zeit, in der wichtige Rüstungskontrollverträge wie INF und START gekündigt wurden bzw. ohne klare Verlängerungsaussichten auszulaufen drohen, ist es unerlässlich, dass Deutschland positive Impulse für Abrüstung setzt! Nuklearwaffen bedrohen die Sicherheit der Menschen in der Bundesrepublik, in Europa und der ganzen Welt. Die Atombomben in Deutschland sind zudem Waffen, die für einen völkerrechtswidrigen, nuklearen ‘Erstschlag’ geeignet sind. Sie stellen daher eine Provokation für andere Länder dar und erhöhen die Gefahr eines nuklearen Konflikts.

Ein Abbau dieser Nuklearwaffen und ein klares Bekenntnis gegen den Ersteinsatz von Nuklearwaffen wäre ein erster und wichtiger Schritt um die gegenseitige nukleare Bedrohung abzubauen und auch einen ungewollten Atomkrieg unwahrscheinlicher zu machen.

Die Bundesregierung wollte mit dem Engagement für das Iran-Abkommen und auch mit der Libyenkonferenz im Januar dieses Jahres zeigen, dass sie einer der wichtigsten und glaubwürdigsten internationalen Akteure für zivile Konfliktprävention sei. Diese Stellung als geschätzter diplomatischer Partner könnte Deutschland unserer Meinung nach ausbauen und für eine nukleare Abrüstungsinitiative nutzen. Am besten soll diese im Koalitionsvertrag von Union/SPD verankert werden. Dies würde der deutschen Sicherheit mehr dienen, als das Festhalten an der nuklearen Teilhabe aus Zeiten des Kalten Krieges.

Bitte stimmen Sie deshalb gegen die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge für den Nuklearwaffeneinsatz. Sowohl der F/A-18 Jet als auch ein für Nuklearwaffen ertüchtigter Eurofighter sind eine Bürde für den europäischen Frieden und die Sicherheit der europäischen Bürger und Bürgerinnen.

Mit freundlichen Grüßen

– Name –

Prof. Angus Deaton: “ Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung“

ZEIT online Interview: Johanna Roth7. April 2020

Angus Deaton:„Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung“

Kaum ein Ökonom kennt die US-Arbeiterschicht besser als Angus Deaton. Er sagt: Ihnen ging es schon seit Jahrzehnten schlecht. Nicht erst seit der Corona-Krise.

Während die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland steigt, sinkt sie in einem der reichsten Länder der Erde: Das Phänomen der sogenannten „Deaths of Despair“ – Verzweiflungstode – erschüttert die US-amerikanische Öffentlichkeit. Seit den Neunzigerjahren steigt die Sterblichkeit unter weißen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern zwischen 45 und 54 Jahren immer weiter an. Die Menschen sterben an Alkoholmissbrauch, an einer Überdosis Drogen oder durch Suizid.

Die Ursache ihrer Verzweiflung ist die zunehmende wirtschaftliche Ungerechtigkeit, argumentieren die Ökonomen Angus Deaton und Anne Case in ihrem neuen Buch „Deaths of Despair and the Future of Capitalism“. Der 1945 geborene Sir Angus Deaton ist Professor für Ökonomie an der Princeton University und Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften. Gemeinsam mit seiner Frau Anne Case, emeritierte Professorin für Ökonomie in Princeton, forscht er seit mehreren Jahren zum Thema der Verzweiflungstode.

ZEIT ONLINE: Herr Professor Deaton, in Ihrem aktuellen Buch, das Sie mit Ihrer Frau Anne Case verfasst haben, beschreiben Sie, wie viele weiße Amerikaner mittleren Alters ohne Hochschulabschluss vorzeitig sterben – durch Suizid, Alkohol oder Drogen, bedingt durch Verzweiflung über den sozialen Abstieg. Im Zuge der Corona-Krise haben sich schon zehn Millionen US-Amerikaner arbeitslos gemeldet. Befürchten Sie, dass solche Verzweiflungstode in der Arbeiterschicht jetzt zunehmen werden?

Angus Deaton: Natürlich wird die Corona-Krise die Lebenssituation vieler Arbeiter noch schwieriger machen. Wie Sie wissen, haben wir eine sehr hohe Corona-Infektionsrate in den Vereinigten Staaten, und das Social Distancing wird eine ganze Weile anhalten müssen. Insofern werden noch viel mehr Menschen ihre Jobs verlieren. Allerdings glaube ich nicht, dass deshalb zwangsläufig mehr Leute sterben werden.

ZEIT ONLINE: Das müssen Sie erklären.

Deaton: Selbst während der Weltwirtschaftskrise Anfang des 20. Jahrhunderts war die Sterblichkeit insgesamt niedrig. Es gab zwar mehr Suizide, aber es gab weniger Verkehrsunfälle, weil weniger Menschen auf den Straßen unterwegs waren. Ich habe erst heute wieder gelesen, dass die Krankenhäuser in New York vergleichsweise wenig Patienten ohne Coronavirus haben, weil zum Beispiel weniger Unfälle auf dem Bau passieren. Und auch die Pflege ist paradoxerweise in Zeiten der Rezession besser: Wenn die Wirtschaft boomt, haben es Altenheime oft schwer, Personal zu finden, weil sich dann alle besser bezahlte Jobs suchen. Geht es der Wirtschaft schlecht, nehmen mehr Leute Jobs in der Altenpflege an. Auch das mag einige Leben retten.

ZEIT ONLINE: Aber trotzdem befinden sich die USA am Rand einer schweren Wirtschafts- und Gesundheitskrise, die viele Ihrer Kollegen als noch fataler einschätzen als die Grippewelle nach dem Ersten Weltkrieg und den Börsencrash wenige Jahre später.

Deaton: Die Zustände, die wir beschreiben, haben sich über einen sehr langen Zeitraum angebahnt. Nicht kurzfristige wirtschaftliche Verwerfungen lassen die Menschen früher sterben, sondern langfristige. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass der Tod aus Verzweiflung ein systematisches und sehr viel langwierigeres Phänomen ist als eine Rezession.

ZEIT ONLINE: Welche Verwerfungen meinen Sie? In der Einleitung von Deaths of Despair schreiben Sie: „In Amerika geht etwas um, das die Arbeiterschicht vergiftet.“ Was genau ist dieses „etwas“?

Deaton: Die Löhne steigen zu langsam, vor allem aber werden sehr viele einfache Jobs mit zunehmendem technologischem Wandel aussortiert. Was die Dinge in den USA so viel schlimmer macht als anderswo, ist, dass es dort keinen Wohlfahrtsstaat nach europäischem Vorbild gibt. Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung. Das ist seit Langem bekannt, aber die USA sind das einzige Land vergleichbaren Wohlstands, das die Augen vor dieser Tatsache verschließt.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt die defizitäre Krankenversicherungsstruktur?

Deaton: Die Gesundheitsversorgung beruht auf einem System, das total aufgebläht ist. Die USA geben inzwischen 18 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus, mehr als für das Militär. Die Sache ist nur: Die Menschen bekommen dafür nichts als Nachteile. Häufig läuft die Krankenversicherung über den Arbeitgeber, und das wiederum drückt die Löhne. Oft ist es schlicht nicht möglich, Arbeitnehmern einen anständigen Lohn zu zahlen und für ihre Krankenversicherung aufzukommen. Die Folge: Viele gute Jobs fallen weg, zugunsten von schlecht bezahlten.

ZEIT ONLINE: Warum ein Buch über Sterblichkeit? Was erzählt sie uns über eine Gesellschaft?

Deaton: Sie verdeutlicht, was schiefläuft. In den USA gibt es schon lange eine Debatte darüber, ob es der Arbeiterschicht wirklich so schlecht geht. Aber den Tod kann man nicht vortäuschen. Wenn Leute anfangen, an Armut zu sterben, dann kann man nicht behaupten, dass sie nur so tun.

ZEIT ONLINE: Sterben die Menschen wirklich an Armut? Sie verhungern ja nicht, sondern verzweifeln, wie es auch im Titel Ihres Buchs heißt.

Deaton: Die wirtschaftliche Schieflage ist das eine. Schlimmer ist der Zerfall sozialer Gemeinschaften, der daraus folgt. Gute Jobs und angemessene Löhne sind die Grundlage für ein langes und gesundes Leben. Sie können noch so gut pflanzen, wenn der Nährboden nicht stimmt, wird nichts gedeihen. Mit der Zeit ist dieser Boden in den Vereinigten Staaten immer weniger nährstoffhaltig geworden, und das zeigt sich auch im Zusammenleben. Viele Eltern leben von ihren Kindern entfernt, weil sie für einen Job weit wegziehen mussten. Kirchen werden weniger, Gewerkschaften werden weniger. Die Gewerkschaften fallen hier doppelt ins Gewicht, denn sie sorgten einst nicht nur für höhere Löhne, sondern waren auch ein wichtiger Faktor des sozialen Lebens.

ZEIT ONLINE: Und jetzt kommt noch die Corona-Krise dazu.

Deaton: Es ist sehr schwer, vorauszusagen, was mit dem Arbeitsmarkt passiert. Aber es ist ganz offenkundig eine sehr schlechte Zeit, eine arbeitgeberbasierte Gesundheitsversorgung zu haben. Ein großer Teil der Menschen, die in den vergangenen Wochen ihren Job verloren haben, wird mit Ablauf des Monats auch ihre Krankenversicherung verlieren. Zwar gibt es das sogenannte Cobra-Gesetz, nach dem man seinen Versicherungsschutz über die Kündigung hinaus verlängern kann. Aber das bedeutet, dass man den Arbeitgeberanteil selbst zahlen muss. Und Obamacare ist abhängig von dem Bundesstaat, in dem man lebt.

Dazu kommen noch die Menschen, die trotz Job nicht versichert waren. Aber auch vor der Corona-Krise war es nie nur eine Ursache, sondern ein Zusammenspiel verschiedenster Faktoren, das zu diesen Toden führt. Die Menschen, über die wir schreiben – also weiße Arbeiter in der Mitte ihres Lebens –, sterben an Drogen, an Leberzirrhosen oder durch Suizid. Das sind ja alles Dinge, die sie sich selbst zufügen. Was allerdings dazu führt, dass sie das tun, ist wesentlich komplexer als „nur“ ein schlechtes Gesundheitssystem. Es ist nicht einfach so, dass weniger sterben würden, wenn sie nur eine bessere Krankenversicherung hätten. Für das, was die Menschen ursächlich quält, gibt es keine Krankenhausbehandlung.

„Ohne Arbeit fällt die Bedeutung der gesamten Existenz weg“

ZEIT ONLINE: Aber ist es nicht auch ein Fehler des Gesundheitssystems, dass man in den USA so leicht an Opiate kommt und viele deshalb abhängig werden?

Deaton: Das stimmt schon. Im deutschen Gesundheitssystem würde ein Hausarzt seine Patienten nicht einfach mit einer Monatsration Opiate nach Hause schicken. In den USA schon. Das liegt aber nicht am Versichertenstatus, sondern daran, dass ein Pharmaunternehmen wie das der Sackler-Familie, die Milliarden Dollar mit dem Tod von Menschen verdient hat, vom profitorientierten System geradezu ermutigt wird, den Markt mit seinen Präparaten zu überschwemmen.

ZEIT ONLINE: Kurz gesagt: Der Kapitalismus bringt die Leute um?

Deaton: Die Verzweiflung darüber, dass ein gutes, einfaches Leben nicht mehr existiert. Weil eben dieser Nährboden, von dem ich sprach – gute, sichere Jobs für Menschen ohne Hochschulbildung –, immer mehr austrocknet. Ohne Arbeit fällt nicht nur das Einkommen weg, sondern in vielen Fällen die Bedeutung der gesamten Existenz. Und so sind die Menschen leichte Ziele für jede Selbstmedikation, die Ablenkung verspricht. Das wiederum ist fruchtbarer Nährboden für Pharmaunternehmen, die Oxycodon vertreiben. Oder für das Glas Whiskey beim Nachhausekommen, wobei das im Vergleich zu Opiaten relativ teuer sein dürfte.

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch zeigen Sie auf, dass ein Collegeabschluss eine Art Wasserscheide darstellt zwischen jenen, die ein gutes Leben haben, und jenen, die abrutschen. Warum hat das so eine Bedeutung?

Deaton: Vier Jahre Bachelorstudium entscheiden maßgeblich darüber, ob Sie später einen guten Job bekommen oder nicht. Aber das Problem beginnt im Grunde viel früher. Das US-amerikanische Bildungssystem ist vom Kindergarten an darauf ausgelegt, dass man später auf ein College geht. Aber das kann natürlich nicht jeder. Auch, aber nicht nur aus finanziellen Gründen.

ZEIT ONLINE: Wäre es da nicht eine gute Strategie, den Zugang zu den Hochschulen zu erleichtern?

Deaton: Für die, die gern auf ein College möchten, sicher. Aber es will ja gar nicht jeder studieren! In anderen Ländern haben Sie viel differenziertere Wege ins Berufsleben, und es gibt längst nicht so ein soziales Stigma gegenüber einfachen Jobs wie hier in einer Hightech-Arbeitsgesellschaft.

ZEIT ONLINE: Das mit dem Stigma wundert mich. Ist nicht der „amerikanische Traum“ gerade frei von solchen Hierarchien?

Deaton: Das stimmt. Aber die Umstände haben sich geändert. In unserer heutigen Industriegesellschaft hängt sehr viel mehr von kognitiven Fähigkeiten ab als früher. Mein Schwager erzählte mir von seiner Entscheidung in den Sechzigerjahren, aufs College zu gehen. Seine Freunde sagten: Spinnst du? Wofür brauchst du denn einen Hochschulabschluss? Damit kannst du doch deine Miete nicht bezahlen! Inzwischen ist es umgekehrt.

ZEIT ONLINE: Warum sind gerade die weißen Männer und Frauen mehr von den Deaths of Despair betroffen?

Deaton: Das sind sie gar nicht. Der afroamerikanische Teil der Bevölkerung hat diese Verzweiflung schlicht zwei Jahrzehnte früher erlitten. Ab den Sechzigerjahren, als viele Unternehmen aus den großen Städten herausverlagerten, wurden schwarze Communitys von genau derselben Desintegration heimgesucht, wie es ab Mitte der Neunzigerjahre den Weißen passierte und bis heute anhält.

ZEIT ONLINE: Donald Trump wurde 2016 maßgeblich von genau den Leuten ins Amt gewählt, die Sie beschreiben: Angehörige der weißen Mittel- und Arbeiterschicht ohne Hochschulabschluss. Wieso glauben gerade sie an ihn? Ist er als milliardenschwerer Unternehmer nicht die Personifikation des Systems, unter dem sie leiden?

Deaton: Ich bin kein Politologe und kann nicht sagen, warum sie an Donald Trump glauben, aber ich weiß, warum sie nicht an Hillary Clinton geglaubt haben. Seit den Siebzigerjahren haben sich die Demokraten kontinuierlich zu einer Akademiker- und Elitenpartei entwickelt. Die weiße Arbeiterschicht in den USA hat schon lange keinen Anlass mehr, sich politisch repräsentiert zu fühlen.

ZEIT ONLINE: Dabei ging es der US-Wirtschaft in den vergangenen Jahren ja wieder besser. Trump nimmt sogar für sich in Anspruch, für ein Jobwunder gesorgt zu haben. Wie passt das zu Ihren Beobachtungen?

Deaton: Es stimmt zwar, dass sich die USA von der Finanzkrise 2008 erholt haben, und es stimmt auch, dass es einen Aufwärtstrend bei den Löhnen für Nichtakademiker gab. Aber ihre Löhne waren kurz vor der Corona-Krise immer noch niedriger als zu einem beliebigen Datum in den Achtzigern. Das war also eher ein Ausschlag nach oben in der großen Abwärtskurve der vergangenen 40 Jahre. Dasselbe gilt für Jobs: Auch wenn man sich auf den ersten Blick über einen Peak in der Beschäftigungsstatistik freuen darf, verfliegt das schnell, wenn sich herausstellt, dass er niedriger ist als der vorherige.

Weniger Ungleichheit durch die Corona-Krise? Wirtschaftliche und soziale Folgen der Pandemie

| Christoph Butterwegge* – Quelle: Blickpunkt WiSo – 8. April 2020

Seit geraumer Zeit wächst die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland. Von den meisten Bewohner(inne)n eher in Staaten wie den USA, Brasilien oder Südafrika verortet, hat sich die Ungleichheit vor allem beim Vermögen zuletzt auch in der Bundesrepublik ausgebreitet. 45 Familien besitzen laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also über 40 Millionen Menschen.

Der in wenigen Händen konzentrierte Reichtum schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gefährdet auch die Demokratie, weil man politisch umso einflussreicher ist, je vermögender man ist. Weil der Sozialstaat demontiert, der Arbeitsmarkt dereguliert und eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip »Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das noch genommen« gemacht worden ist, schwindet bei den Verlierer(inne)n das Vertrauen in die Institutionen des parlamentarisch-demokratischen Repräsentativsystems. Die daraus resultierende Neigung, sich nicht mehr (regelmäßig) an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen, stärkt wiederum jene politischen Kräfte, die den Privilegien mächtiger Interessengruppen verpflichtet sind.

Corona und die illusionäre Hoffnung auf mehr Gleichheit

Vor allem Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien bzw. Pandemien haben in der Vergangenheit oft dafür gesorgt, dass die Ungleichheit nicht überhandnahm. Was man als Gesetz der egalisierenden Wirkung von Epidemien bezeichnen kann, wird durch die Corona-Krise jedoch vermutlich außer Kraft gesetzt. Dafür sprechen jedenfalls manche Indizien, und zwar sowohl im globalen Maßstab wie auch im nationalen Rahmen.

»We’re about to learn a terrible lesson from coronavirus: inequality kills« (»Das Coronavirus wird uns eine schreckliche Lektion erteilen: Ungleichheit tötet«) überschrieb Owen Jones im Guardian (14.3.2020) einen Kommentar, in dem er die jahrzehntelange »Sparpolitik« der konservativen Torys dafür verantwortlich machte, dass Großbritannien den sozialen und gesundheitlichen Herausforderungen der Pandemie nicht gewachsen sei.

Auch ein teilprivatisiertes, kommerzialisiertes und gewinnorientiertes Sozial- und Gesundheitssystem wie das deutsche garantiert keine optimale medizinische Behandlung der Kranken und in Krisensituationen wie der gegenwärtigen keine Versorgungssicherheit. Budgets sowie das von der CDU/CSU/FDP-Koalition unter Helmut Kohl eingeführte und von der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder allgemein verbindlich gemachte Fallpauschalensystem für die Krankenhäuser sind kontraproduktiv im Hinblick auf die Extrembelastung durch eine Pandemie.

Zwar sind die Aktienkurse in Deutschland wie an sämtlichen Börsen der Welt schlagartig eingebrochen, dramatische Verluste haben aber vor allem Kleinaktionäre gemacht, die zu Panikreaktionen und sofortigen Verkäufen neigen, während Spekulanten die Gunst der Stunde für Ergänzungskäufe zu niedrigen Kursen genutzt haben dürften. Hedgefonds und Finanzkonzerne wie BlackRock haben sogar auf fallende Kurse gewettet und dabei riesige Extraprofite realisiert.

Die größten Konzerne mit den reichsten Chefs gehören offenbar ebenfalls zu den Hauptprofiteuren der Corona-Krise. Amazon weitet sein Geschäft aus und stellt Zehntausende zusätzliche Picker ein, um den Boom im Versandhandel zu bewältigen. Jeff Bezos, ohnehin reichster Mann der Welt, vergrößert sein Vermögen aufgrund der Corona-Krise. Kleine Buchhändler/innen, die viele Leser vor Ort beraten und mit Lesestoff versorgt haben, fürchten angesichts der Pandemie, der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kunden hingegen mehr denn je um ihre materielle Existenz.

Durch die Schulschließungen und das Homeschooling erhalten vermutlich E-Learning und Digitalisierung in Deutschland starken Auftrieb. Da der digitale Unterricht die Schüler/innen aus eher armen Elternhäusern benachteiligt, weil sie entweder nicht über die nötigen Geräte (Smartphones, Tablets und Drucker) verfügen oder damit weniger gut vertraut sind, nimmt die vorhandene Privilegierung der Kinder aus bessergestellten Familien noch zu.

Hauptbetroffene der Pandemie und Schlussfolgerungen

Die Corona-Krise wirkt sich nicht allein auf die Immunschwachen, sondern auch auf die Einkommensschwachen fatal aus. Einerseits haben viele Tafeln geschlossen, andererseits sinken die Einnahmen von Bettler(inne)n, Pfandsammler(inne)n und Verkäufer(inne)n von Straßenzeitungen, weil die Straßen leergefegt sind und alle eine Infektion fürchten. Damit wird die ohnehin brüchige Lebensgrundlage der Ärmsten vollends zerstört.

Auch von den Rettungspaketen für die Unternehmen kommt im Kellergeschoss der Gesellschaft wenig an. Während die Arbeitgeber ihre Lohnkosten durch die modifizierte Regelung zum Kurzarbeitergeld vollständig erstattet bekommen (einschließlich ihrer Beiträge zur Sozialversicherung), kommen Arbeitnehmer/innen höchstens auf 67 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens, und zwar auch nur dann, wenn sie unterhaltsberechtigte Kinder haben.

Alle übrigen Kurzarbeiter/innen bekommen sogar nur 60 Prozent, wobei Sonderzahlungen wie Nachtzuschläge unberücksichtigt bleiben. Mehr als eine Million Senior(inn)en bessern ihre Rente durch einen Minijob auf, darunter fast 200.000 Menschen, die 75 Jahre oder älter sind. Wenn ihr Arbeitgeber keine Aufträge mehr hat und in wirtschaftliche Bedrängnis gerät, erhalten sie im Unterschied zu sozialversicherungspflichtig Beschäftigten kein Kurzarbeitergeld.

Gemeinschaftssinn, Mitmenschlichkeit und soziales Verantwortungsbewusstsein bleiben auf der Strecke, wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Aber die Corona-Pandemie bietet neben großen Gefahren, zum Beispiel einer Beschneidung der Grundrechte sowie einem weiteren Ausbau des staatlichen Kontroll-, Überwachungs- und Repressionsapparates, den manche Länder derzeit erleben, auch gewisse Chancen. Falls sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Sozial- und Gesundheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte unserem Gemeinwesen geschadet hat und Solidarität statt Wettbewerbswahn und Ellenbogenmentalität herrschen muss, hätte das Virus für die Gesellschaft am Ende auch etwas Gutes bewirkt.

Die soziale und mit ihr die Verteilungsfrage müssen wieder größere Aufmerksamkeit finden, soll der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. Zwar sind es nicht bloß ökonomische Konfliktlinien, die das Land zerreißen, aber wenn sich die Ungleichheit von Eigentum, Einkommen und Vermögen im Gefolge der Pandemie erhöht, kann sich die Bundesrepublik nicht friedlich, demokratisch und human entwickeln.

Auch die Bewältigung der ökologischen Probleme hängt von einer Verringerung der sozioökonomischen Ungleichheit ab, denn Klima-, Natur- und Umweltschutz stoßen an die Grenzen eines Wirtschaftssystems, das auf einer privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums und damit auf der Profitgier seiner Hauptakteure beruht.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge (Jahrgang 1951) gilt als einer der profiliertesten Armutsforscher der Bundesrepublik. Er hatte zuletzt von 1998 bis  2016 eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln (Humanwissenschaftliche Fakultät) innen und ist seither emeritiert.