Buchtipp von Sahra Wagenkneckt: Kapital & Ideologie von Thomas Piketty:
„Als Thomas Piketty sein neues Buch „Kapital und Ideologie“ schrieb, konnte er nicht ahnen, dass kurz nach dessen Erscheinen eine Krise von einer Tiefe und Dramatik unsere Welt erschüttern würde, wie sie die entwickelten Länder seit 70 Jahren nicht mehr erlebt haben.
Und dennoch passt das Buch gerade in diese Zeit, in der so viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten plötzlich infrage stehen und Millionen Menschen mit Problemen konfrontiert sind, deren Dimension alles in den Schatten stellt, was sie im normalen Leben kannten. Eine Zeit, in der die Politik unter extremem Zeitdruck Antworten suchen und neue Wege gehen muss, die weitab der Pfade der letzten Jahrzehnte und oft sogar konträr zu ihnen verlaufen sollten.
Denn auch diese Krise ist ein Zusammenspiel kurz- und langfristiger Faktoren. Was sich in ihr entladen könnte, auf den Finanzmärkten, im Bankensystem, selbst in den Flaggschiffen der deutschen Industrie und ihren Zulieferern, hat sich bereits aufgestaut, bevor das erste Corona-Virus auf einem Fischmarkt in Wuhan einem Menschen begegnete.
Wir sollten nicht vergessen, dass das Verarbeitende Gewerbe in Deutschland schon 2019 unter sinkenden Umsätzen litt, das europäische Finanzsystem seit zehn Jahren am Tropf der EZB hängt, und der Personalnotstand in deutschen Krankenhäusern seit längerem eine gute Gesundheitsversorgung erschwert.
In der Krise rächen sich die Fehlentwicklungen der jüngeren Vergangenheit: die Hyperglobalisierung, in der Kostensenkungen wichtiger waren als Versorgungssicherheit, die zunehmende Macht von Finanzinvestoren, die auf hohe Ausschüttungen mehr Wert legen als auf solide Investitionen, die Vorstellung, selbst Krankenhäuser und Pflegeheime ließen sich in kommerzialisierte Profitcenter verwandeln, ohne die Grundversorgung zu schädigen, und eben die enorm gewachsene Ungleichheit – Pikettys großes Lebensthema – die unsere Demokratie untergräbt und unsere Gesellschaft instabil macht. Deshalb ist es gerade jetzt an der Zeit, nach neuen, großen Antworten zu suchen.
Eine Folge dieser falschen Politik ist die enorm gewachsene Ungleichheit – Pikettys großes Lebensthema – die unsere Demokratie untergräbt und unsere Gesellschaft instabil macht. Deshalb ist es gerade jetzt an der Zeit, nach neuen, großen Antworten zu suchen.
Ideen dazu liefert Piketty in „Kapital und Ideologie“, aber die wichtigste Qualität seines Buches liegt auf einer anderen Ebene: Indem er in detaillierten Länderstudien den Wandel gesellschaftlicher Ordnungen und der sie jeweils legitimierenden Ideen über einen Zeitraum von Jahrhunderten nachzeichnet, macht er uns bewusst, dass Gesellschaften auf veränderbaren, weil menschengemachten Regeln beruhen. Diese Regeln entscheiden darüber, wie groß der Kuchen wird und wer wie viel von ihm abbekommt, also wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern gehört, wobei letztere meistens in der Überzahl waren. Deshalb gab es zu jeder Zeit große Erzählungen, die begründeten, warum die existierende Verteilung dennoch für alle gut und überhaupt die einzig vernünftige ist, eine Botschaft, die natürlich vor allem von den Gewinnern mit Inbrunst in die Welt getragen wurde.
Meine Rezension des neuen Buches von Thomas Piketty in der „Welt“: Sahra Wagenknecht: Der Mythos von der Leistungsgesellschaft www.sahra-wagenknecht.de – Die aktuelle Krise zeigt, wie richtig die Thesen des Ökonomen Thomas Piketty sind. Das meint Sahra Wagenknecht in ihrem Gastbeitrag. Lesen Sie ihre Buchbesprechung zu Pikettys „Kapital und Ideologie“ hier.
Die «Sternstunde Philosophie» pflegt den vertieften und kritischen Ideenaustausch und geht den brennenden Fragen unserer Zeit auf den Grund. Die «Sternstunde Philosophie» schlägt den grossen Bogen von der gesellschaftspolitischen Aktualität zu den Grundfragen der Philosophie: Wer ist wofür verantwortlich, worin besteht die menschliche Freiheit, was bestimmt unseren Lebenssinn? Zu Gast sind Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft – Stimmen, die zum Denken anregen und unser Zeitgeschehen reflektieren und einordnen.
Oliver Schlaudt – März 2020 – Besprechung im Merkur
„Kapital und Ideologie“: Der Kartograf der Ungleichheit
Thomas Pikettys Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ war eine ökonomische Gegenwartsanalyse. Im Nachfolgeband, der nun auf Deutsch erscheint, weitet er den Blick. Die soziale Ungleichheit ist weder ein technologisches noch ein ökonomisches Phänomen, sondern ein politisches und ideologisches.“
So lautet in einem Satz die Hauptthese von Thomas Pikettys neuem Buch Kapital und Ideologie. Stolze 1. 300 Seiten Text umfasst der Band, in dem der französische Starökonom sich anschickt, eine ökonomische, soziale und politische Geschichte inegalitärer Systeme von den Feudal- und Sklavenhaltergesellschaften bis zu den postkolonialen und „hyperkapitalistischen“ Gesellschaften der Gegenwart zu schreiben.
Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Ideologie, denn, wie es bei Piketty immer wieder heißt, „jede Gesellschaft muss ihren Ungleichheiten einen Sinn geben“, damit diese gerechtfertigt und folgerichtig akzeptiert werden können.
- Der erste Teil des Buchs bietet einen ökonometrisch fundierten Aufriss der europäischen Geschichte der Ungleichheit vom Mittelalter bis zu den modernen Gesellschaften.
- Im zweiten Teil geht Piketty auf Kolonial- und Sklavenhaltergesellschaften ein, wobei insbesondere auch die indische, die chinesische und die russische Geschichte Berücksichtigung finden.
- Der dritte Teil schließt diese Erzählung mit der Darstellung der dramatischen Selbstzerstörung der europäischen Eigentümergesellschaften in den beiden Weltkriegen, der sozialdemokratischen Nachkriegsprojekte, der kommunistischen und postkommunistischen Erfahrungen und schließlich des gegenwärtigen Hyperkapitalismus.
- Im vierten Teil ändert sich der Ton deutlich, die Geschichtsschreibung weicht einer politischen und soziologischen Gegenwartsanalyse. …“Der ganze Aufsatz entweder im MERKUR oder direkt hier:
Kapital und Ideologie _Besprechung Buches von Thomas Piketty im MERKUR März 2020